Oh Mist.
Ich hatte es ja immer befürchtet und so lange nicht wahr haben wollen, aber wer seine Ansichten in diesem Artikel wieder findet, der kann es nicht mehr leugnen:
Ich befürchte, ich bin tatsächlich konservativ geworden.
Wer noch?
Ich hatte es ja immer befürchtet und so lange nicht wahr haben wollen, aber wer seine Ansichten in diesem Artikel wieder findet, der kann es nicht mehr leugnen:
NOVO, Sept./Okt. 2007
Der Konservative trägt heute Rot
Weshalb es heute richtig ist, Bewahrer zu sein
Von Peter Köpf
„Wo sind die Konservativen?“, fragte Michael Stürmer vor mehr als einem Jahr und stellte fest, es gebe sie nicht mehr, sie seien nur noch ein „Schreckgespenst, mit dem sich Grüne und Rote Identität und Kampfeszorn verschaffen“. Paul Nolte dagegen will den Konservatismus „völlig neu zusammensetzen“, Daniel Dettling suchte kürzlich in der Financial Times Deutschland nach einer „neokonservativen Renaissance“, und Andreas Zielcke fragte in der Süddeutschen Zeitung: „Was heißt konservativ?“. Doch sie alle suchen die Konservativen am falschen Ort.
„Konservativ“ ist ein unbesetztes Wort. In diesem Haus wollen nicht einmal mehr die Mitglieder der Union wohnen. Die Menschen des dritten Jahrtausends sind der Zukunft zugewandt, sie folgen dem Fortschritt oder haben selbst zukunftsweisende, innovative Ideen. Während die Welt sich so bewegt, bleiben gerade diejenigen zurück, die sich einst für fortschrittlich hielten. Die wenigen beharrlichen Linken, die sich zu bekennen noch wagen, fragen sich – meist im Stillen – sorgenvoll: Marschiert der Fortschritt in die richtige Richtung? Wie konnte es geschehen, dass die Deutschen heute den Begriff Gerechtigkeit eher bei den alten Konservativen ansiedeln, bei der CSU, der letzten sozialdemokratischen Partei des Landes?
Die Ideale der einstigen Linken sind heute von gestern. Wer sich noch zu den Ideen der Sozialdemokratie der Brandt-Ära bekennt oder sich gar Sozialist nennt, erntet nur ein mitleidiges Lächeln. Wer nach Ethik fragt und nach verbindlichen internationalen Absprachen, statt die normative Kraft des weltweiten Wettbewerbs als unveränderbar hinzunehmen, der gilt in dieser durchökonomisierten Welt als Gestriger.
Doch es gibt eine Menge gute Gründe, gegen das alle Disziplinen lähmende Betriebswirte-Mantra anzugehen, der Egoismus der Unternehmer und der Markt regelten das Miteinander der Menschen am besten. Das genaue Gegenteil ist nämlich der Fall: Die kompromisslose Ökonomisierung aller Lebensbereiche, das Effizienzdenken hebt mitnichten das Lebensniveau aller Menschen, wie die Säulenheiligen des radikalen Wirtschaftsliberalismus predig(t)en; eine Menge Nussschalen saufen ab. Das ist offensichtlich, und doch bleibt die Religion des Neoliberalismus in der Wahrnehmung des Publikums unangefochten.
Warum stellt niemand mehr die grundlegenden Fragen? Ist Ökonomie alles? Weshalb sollen wir dem Gewinnstreben alles Leben unterordnen? Was meinen Politiker, die fordern, man müsse den Menschen „Eigenverantwortung zurückgeben“, und warum plappern diejenigen, die sich selbst gern als Kontrolleure der Macht verstehen, als „vierte Gewalt“, diesen Euphemismus so eilfertig wie unkritisch nach?
Die Menschen, die in den vergangenen Jahren das Geschenk von mehr Eigenverantwortung erhielten, bleiben ohnehin schon zurück. Während deutsche Spitzenverdiener ihre Einkünfte zwischen 1994 und 2004 inflationsbereinigt um jährlich 1,5 Prozent steigern konnten und auch mittlere Einkommen einen höheren Reallohn erzielten, nahm die Zahl der Armen zu: Mittlerweile 17,3 Prozent der Deutschen, in Ostdeutschland sogar 21,3 Prozent, haben weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens zur Verfügung.
Am beschämendsten offenbart sich die Ökonomisierung aller Lebensbereiche beim entwürdigenden Geschacher um höhere Prämien fürs Kinderkriegen. Sogar die FDP, die ansonsten an allen Fronten für mehr Eigenverantwortung plädiert, mischt beim Elternbeglücken mit, vielleicht, weil ihre Klientel potenziell am meisten profitieren könnte: gut verdienende junge Eltern. Weshalb nicht gleiches Geld für alle, die den „Pflichten gegenüber Familie, Vaterland und Zukunftssicherung“ (Andrea und Roland Tichy) nachkommen, weshalb nicht gleiches Geld für jedes Kind?
Weil es um die Rettung der Nation geht, wie der Spiegel titelte, weil die Oberdenker sich wieder um die „kollektive Intelligenz“ (Donata Elschenbroich) sorgen. Da helfen dann natürlich nicht mehr die Kinder von Sozialhilfeempfängern, da müssen schon die Gene von Kapazitäten reproduziert werden. Ist das Kind dann da, nimmt dieser Staat es auch schon in die Pflicht: Kindheit ist Vorbereitung aufs Berufsleben, die „Ressource“ Kind muss zum wirtschaftlichen Wohl aller genutzt werden, der Diamant geschliffen werden. Schon fordern Unternehmerverbände mehr Wirtschaftsunterricht und die Privatisierung des Schulwesens. Die Gehirnwäsche hat auch die Mittelstandseltern infiziert, deren Blick sich sorgenvoll in die Zukunft richtet. Welche Ausbildung kaufe ich meinem Kind, damit es mit einem Wettbewerbsvorteil ins Rennen um die besten Karrieren geht?
Das also ist der Fortschritt dieses Jahrhunderts, das Maß aller Dinge ist ihr Wert in Euro. Könnte es sein, dass der Fortschritt an einer Kreuzung den Weg verpasst hat? Marschiert er in die falsche Richtung? Man wird ja noch fragen dürfen. Hat noch jemand ein Ziel vor Augen, außer dem, möglichst ohne Arbeit möglichst viel Geld zu verdienen? Träume? Utopien gar? Wo ist der Aufschrei der jungen Leute?
Die Kinder der Eltern mit 68er-Prägung haben viel mehr Freiheiten als Oma und Opa, die Welt wollen sie jedoch nicht mehr verändern. Das haben ihre Eltern schon erledigt. Sie richten sich darin ein. Die junge Generation sorgt sich allenfalls um ihr (privates) Erbe, das gefälligst nicht durch (staatliche) Schulden entwertet werden möge.
Vielleicht fehlen ja nur Vorbilder aus der eigenen Generation – die es sein könnten, taugen leider nicht viel: Als sich die 27-jährige Viva-Moderatorin Charlotte Roche anschickte, zum Sender Arte zu wechseln, stellte ihr Oliver Fuchs für die Süddeutsche Zeitung Fragen. Ob sie nicht befürchte, in ihrem neuen Job bloß der lustige Farbtupfer zu sein. Ihre Antwort: „Sie meinen, dass Arte mich instrumentalisiert? Aber das war bei Viva doch nicht anders. Dort gab es eine schwarze Moderatorin und eine asiatische, eine kluge und eine dumme, eine mit großen und eine mit kleinen Brüsten und eine Verrückte, das war halt ich. Instrumentalisiert wird man doch überall.“
Nicht zu allen Zeiten haben junge Leute sich instrumentalisieren lassen. Heute dagegen verkauft man alles, auch sich selbst. Damit die Härte des radikalen Marktliberalismus sie nicht selbst treffe, beten sie wieder zu Gott und feiern dessen Stellvertreter auf Erden. Ihre Vorbeter sind die Stars des Pop, die früher eher den Highway to Hell besangen als den Highway to Heaven: „Allee der Kosmonauten“ fragt nun, ob es nicht tatsächlich wahr sein könnte, dass Gott vor zweitausend Jahren auf die Welt gekommen sei, Yvonne Catterfeld weiß: „Du bist nicht allein“, und Xavier Naidoo singt: „Der Herr führt sein Heer / und eure schlecht gebauten Straßen / machen es dem Thronwagen schwer.“
Mag sein, dass die neue Gläubigkeit die Alternative zum Esoterik-Humbug eines Teils ihrer Elterngeneration ist. Aber wohin soll es führen, wenn man betet und konservativ wählt, bevor man anfängt, richtig zu leben?
Die Älteren brauchen nicht zu glauben, sie seien ihren Kindern ein gutes Vorbild. Gerade unter ehemaligen Linken zeigt sich eine erschreckende Anpassung des Denkens und Handelns, nachdem die Lebensverhältnisse sich verändert haben. Das Sein bestimmt eben auch bei ihnen das Bewusstsein.
Wer für Multikulti und gleiche Bildungschancen eingetreten ist, verliert seine Glaubwürdigkeit, wenn er vor der Einschulung in ein bürgerliches Viertel umzieht oder seine Kinder nicht auf die benachbarte staatliche Schule mit hohem Ausländeranteil, sondern auf eine Privatschule schickt.
Wer, anders als die Marketingexperten und Werbeprofis der jungen Generation, noch weiß, dass nicht die Unternehmer den Mehrwert schaffen, sondern die Arbeiter und Angestellten, dessen Lebensziel kann heute nicht sein, seine Fähigkeiten dazu zu nutzen, möglichst viel Geld anzuhäufen, sondern das Geld, das alle gemeinsam erwirtschaften, möglichst fair zu verteilen. Wer für die Freiheitliche Demokratische Grundordnung (FDGO) eintrat, kann der Angst vor Terroranschlägen nicht prophylaktisch die Bürgerrechte opfern, sondern muss erkennen, dass weitere Sicherheitsgesetze das Leben auch in diesem Land nicht sicherer machen.
Wer an die Chance von „one world“ glaubt, darf die Globalisierung nicht verdammen, sondern muss sie mitgestalten. Konservativ sein heißt: Überzeugungen treu zu bleiben, statt Interessen zu wahren, auch wenn es persönlich etwas kostet.
Sie nennen es flexibel. Das Leitbild der Zeit ist der Wendehals, der Pragmatiker. Es herrscht nicht das Gesetz der Moral, der Werte, der Fairness, der Anständigkeit, sondern das Gesetz der Wölfe. Egoismus scheint heute kein menschlicher Makel mehr zu sein, Ausbeutung anderer ein probates Mittel, Gier ein akzeptabler Charakterzug,
Empathie für die Gestrandeten ein Zeichen für Schwäche oder Sozialkitsch und hohe Steuerzahlungen ein Indiz für Senilität.
Sprechen wir roten Konservativen es also aus: Dieser Fortschritt ist nicht unser Fortschritt, es ist überhaupt keiner. Wo Fortschritt den einen nutzt und anderen schadet, müssen Regeln her, die nicht von denjenigen gemacht werden, die anschließend davon profitieren.
Die über unsere Zukunft entscheiden, sind jung oder alt, Erben oder Waisen, Eltern oder kinderlos, hatten das Glück einer guten Ausbildung oder mussten mühsam nachholen, was ihnen die Jugend nicht gewährt hatte, sind Frauen oder Männer, Hausbesitzer oder Mieter, Selbstständige oder Angestellte, Millionäre oder ehemalige Hartz-IV-Empfänger. Alle haben sie eigene Interessen. Säßen diejenigen, die über die Zukunft all dieser Menschen entscheiden, hinter John Rawls’ „Schleier des Nichtwissens“ und wüssten sie nicht, welche Rolle der Zufall ihnen zuteilen wird, würden sie für Regeln stimmen, die Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben für alle versprechen.
Auch wenn ein Sozialist das staubige Wort nie mochte: Es ist Zeit, zu überzeugenden Werten zu stehen. Die heute den Abbau des „Wohlfahrtsstaats“ fordern und fördern, die umverteilen im Namen eines pervertierten Leistungsgedankens, die vergessen, dass selbst Erhard sagte, nicht „Dogmen oder Gruppenstandpunkte“ seien für die Beurteilung von Wirtschaftspolitik entscheidend, sondern „der Mensch, der Verbraucher, das Volk. Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht.“
Wenn der Teil des Volks wächst, der ohne oder gar mit Arbeit verarmt, erweisen sich die neoliberalen Dogmatiker als reaktionär und noch kurzsichtiger als Bismarck,
der Marx’ Zukunftsszenario vereitelte, indem er die Massen am Wohlstand teilhaben ließ, statt sie auszuschließen.
Das Unbehagen am ökonomischen Vulgärliberalismus wird bald wiederkehren. Das könnte die Stunde der roten Konservativen sein. Wessen Herz links schlägt, der ist heute zwar konservativ, doch eben kein Reaktionär. Die Linken haben lange genug ihre Wunden geleckt und geschwiegen. Es wird Zeit, dass sie sich wieder schamlos in politische Debatten einschalten, und sei es mit ihren alten, scheinbar gestrigen Idealen. Besetzen wir also mutig einen Begriff, den keiner mehr bewohnt. Seien wir standhaft und beharrend. Bekennen wir uns mutig zum Konservativ-Sein.
Der Konservative trägt heute Rot
Weshalb es heute richtig ist, Bewahrer zu sein
Von Peter Köpf
„Wo sind die Konservativen?“, fragte Michael Stürmer vor mehr als einem Jahr und stellte fest, es gebe sie nicht mehr, sie seien nur noch ein „Schreckgespenst, mit dem sich Grüne und Rote Identität und Kampfeszorn verschaffen“. Paul Nolte dagegen will den Konservatismus „völlig neu zusammensetzen“, Daniel Dettling suchte kürzlich in der Financial Times Deutschland nach einer „neokonservativen Renaissance“, und Andreas Zielcke fragte in der Süddeutschen Zeitung: „Was heißt konservativ?“. Doch sie alle suchen die Konservativen am falschen Ort.
„Konservativ“ ist ein unbesetztes Wort. In diesem Haus wollen nicht einmal mehr die Mitglieder der Union wohnen. Die Menschen des dritten Jahrtausends sind der Zukunft zugewandt, sie folgen dem Fortschritt oder haben selbst zukunftsweisende, innovative Ideen. Während die Welt sich so bewegt, bleiben gerade diejenigen zurück, die sich einst für fortschrittlich hielten. Die wenigen beharrlichen Linken, die sich zu bekennen noch wagen, fragen sich – meist im Stillen – sorgenvoll: Marschiert der Fortschritt in die richtige Richtung? Wie konnte es geschehen, dass die Deutschen heute den Begriff Gerechtigkeit eher bei den alten Konservativen ansiedeln, bei der CSU, der letzten sozialdemokratischen Partei des Landes?
Die Ideale der einstigen Linken sind heute von gestern. Wer sich noch zu den Ideen der Sozialdemokratie der Brandt-Ära bekennt oder sich gar Sozialist nennt, erntet nur ein mitleidiges Lächeln. Wer nach Ethik fragt und nach verbindlichen internationalen Absprachen, statt die normative Kraft des weltweiten Wettbewerbs als unveränderbar hinzunehmen, der gilt in dieser durchökonomisierten Welt als Gestriger.
Doch es gibt eine Menge gute Gründe, gegen das alle Disziplinen lähmende Betriebswirte-Mantra anzugehen, der Egoismus der Unternehmer und der Markt regelten das Miteinander der Menschen am besten. Das genaue Gegenteil ist nämlich der Fall: Die kompromisslose Ökonomisierung aller Lebensbereiche, das Effizienzdenken hebt mitnichten das Lebensniveau aller Menschen, wie die Säulenheiligen des radikalen Wirtschaftsliberalismus predig(t)en; eine Menge Nussschalen saufen ab. Das ist offensichtlich, und doch bleibt die Religion des Neoliberalismus in der Wahrnehmung des Publikums unangefochten.
Warum stellt niemand mehr die grundlegenden Fragen? Ist Ökonomie alles? Weshalb sollen wir dem Gewinnstreben alles Leben unterordnen? Was meinen Politiker, die fordern, man müsse den Menschen „Eigenverantwortung zurückgeben“, und warum plappern diejenigen, die sich selbst gern als Kontrolleure der Macht verstehen, als „vierte Gewalt“, diesen Euphemismus so eilfertig wie unkritisch nach?
Die Menschen, die in den vergangenen Jahren das Geschenk von mehr Eigenverantwortung erhielten, bleiben ohnehin schon zurück. Während deutsche Spitzenverdiener ihre Einkünfte zwischen 1994 und 2004 inflationsbereinigt um jährlich 1,5 Prozent steigern konnten und auch mittlere Einkommen einen höheren Reallohn erzielten, nahm die Zahl der Armen zu: Mittlerweile 17,3 Prozent der Deutschen, in Ostdeutschland sogar 21,3 Prozent, haben weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltseinkommens zur Verfügung.
Am beschämendsten offenbart sich die Ökonomisierung aller Lebensbereiche beim entwürdigenden Geschacher um höhere Prämien fürs Kinderkriegen. Sogar die FDP, die ansonsten an allen Fronten für mehr Eigenverantwortung plädiert, mischt beim Elternbeglücken mit, vielleicht, weil ihre Klientel potenziell am meisten profitieren könnte: gut verdienende junge Eltern. Weshalb nicht gleiches Geld für alle, die den „Pflichten gegenüber Familie, Vaterland und Zukunftssicherung“ (Andrea und Roland Tichy) nachkommen, weshalb nicht gleiches Geld für jedes Kind?
Weil es um die Rettung der Nation geht, wie der Spiegel titelte, weil die Oberdenker sich wieder um die „kollektive Intelligenz“ (Donata Elschenbroich) sorgen. Da helfen dann natürlich nicht mehr die Kinder von Sozialhilfeempfängern, da müssen schon die Gene von Kapazitäten reproduziert werden. Ist das Kind dann da, nimmt dieser Staat es auch schon in die Pflicht: Kindheit ist Vorbereitung aufs Berufsleben, die „Ressource“ Kind muss zum wirtschaftlichen Wohl aller genutzt werden, der Diamant geschliffen werden. Schon fordern Unternehmerverbände mehr Wirtschaftsunterricht und die Privatisierung des Schulwesens. Die Gehirnwäsche hat auch die Mittelstandseltern infiziert, deren Blick sich sorgenvoll in die Zukunft richtet. Welche Ausbildung kaufe ich meinem Kind, damit es mit einem Wettbewerbsvorteil ins Rennen um die besten Karrieren geht?
Das also ist der Fortschritt dieses Jahrhunderts, das Maß aller Dinge ist ihr Wert in Euro. Könnte es sein, dass der Fortschritt an einer Kreuzung den Weg verpasst hat? Marschiert er in die falsche Richtung? Man wird ja noch fragen dürfen. Hat noch jemand ein Ziel vor Augen, außer dem, möglichst ohne Arbeit möglichst viel Geld zu verdienen? Träume? Utopien gar? Wo ist der Aufschrei der jungen Leute?
Die Kinder der Eltern mit 68er-Prägung haben viel mehr Freiheiten als Oma und Opa, die Welt wollen sie jedoch nicht mehr verändern. Das haben ihre Eltern schon erledigt. Sie richten sich darin ein. Die junge Generation sorgt sich allenfalls um ihr (privates) Erbe, das gefälligst nicht durch (staatliche) Schulden entwertet werden möge.
Vielleicht fehlen ja nur Vorbilder aus der eigenen Generation – die es sein könnten, taugen leider nicht viel: Als sich die 27-jährige Viva-Moderatorin Charlotte Roche anschickte, zum Sender Arte zu wechseln, stellte ihr Oliver Fuchs für die Süddeutsche Zeitung Fragen. Ob sie nicht befürchte, in ihrem neuen Job bloß der lustige Farbtupfer zu sein. Ihre Antwort: „Sie meinen, dass Arte mich instrumentalisiert? Aber das war bei Viva doch nicht anders. Dort gab es eine schwarze Moderatorin und eine asiatische, eine kluge und eine dumme, eine mit großen und eine mit kleinen Brüsten und eine Verrückte, das war halt ich. Instrumentalisiert wird man doch überall.“
Nicht zu allen Zeiten haben junge Leute sich instrumentalisieren lassen. Heute dagegen verkauft man alles, auch sich selbst. Damit die Härte des radikalen Marktliberalismus sie nicht selbst treffe, beten sie wieder zu Gott und feiern dessen Stellvertreter auf Erden. Ihre Vorbeter sind die Stars des Pop, die früher eher den Highway to Hell besangen als den Highway to Heaven: „Allee der Kosmonauten“ fragt nun, ob es nicht tatsächlich wahr sein könnte, dass Gott vor zweitausend Jahren auf die Welt gekommen sei, Yvonne Catterfeld weiß: „Du bist nicht allein“, und Xavier Naidoo singt: „Der Herr führt sein Heer / und eure schlecht gebauten Straßen / machen es dem Thronwagen schwer.“
Mag sein, dass die neue Gläubigkeit die Alternative zum Esoterik-Humbug eines Teils ihrer Elterngeneration ist. Aber wohin soll es führen, wenn man betet und konservativ wählt, bevor man anfängt, richtig zu leben?
Die Älteren brauchen nicht zu glauben, sie seien ihren Kindern ein gutes Vorbild. Gerade unter ehemaligen Linken zeigt sich eine erschreckende Anpassung des Denkens und Handelns, nachdem die Lebensverhältnisse sich verändert haben. Das Sein bestimmt eben auch bei ihnen das Bewusstsein.
Wer für Multikulti und gleiche Bildungschancen eingetreten ist, verliert seine Glaubwürdigkeit, wenn er vor der Einschulung in ein bürgerliches Viertel umzieht oder seine Kinder nicht auf die benachbarte staatliche Schule mit hohem Ausländeranteil, sondern auf eine Privatschule schickt.
Wer, anders als die Marketingexperten und Werbeprofis der jungen Generation, noch weiß, dass nicht die Unternehmer den Mehrwert schaffen, sondern die Arbeiter und Angestellten, dessen Lebensziel kann heute nicht sein, seine Fähigkeiten dazu zu nutzen, möglichst viel Geld anzuhäufen, sondern das Geld, das alle gemeinsam erwirtschaften, möglichst fair zu verteilen. Wer für die Freiheitliche Demokratische Grundordnung (FDGO) eintrat, kann der Angst vor Terroranschlägen nicht prophylaktisch die Bürgerrechte opfern, sondern muss erkennen, dass weitere Sicherheitsgesetze das Leben auch in diesem Land nicht sicherer machen.
Wer an die Chance von „one world“ glaubt, darf die Globalisierung nicht verdammen, sondern muss sie mitgestalten. Konservativ sein heißt: Überzeugungen treu zu bleiben, statt Interessen zu wahren, auch wenn es persönlich etwas kostet.
Sie nennen es flexibel. Das Leitbild der Zeit ist der Wendehals, der Pragmatiker. Es herrscht nicht das Gesetz der Moral, der Werte, der Fairness, der Anständigkeit, sondern das Gesetz der Wölfe. Egoismus scheint heute kein menschlicher Makel mehr zu sein, Ausbeutung anderer ein probates Mittel, Gier ein akzeptabler Charakterzug,
Empathie für die Gestrandeten ein Zeichen für Schwäche oder Sozialkitsch und hohe Steuerzahlungen ein Indiz für Senilität.
Sprechen wir roten Konservativen es also aus: Dieser Fortschritt ist nicht unser Fortschritt, es ist überhaupt keiner. Wo Fortschritt den einen nutzt und anderen schadet, müssen Regeln her, die nicht von denjenigen gemacht werden, die anschließend davon profitieren.
Die über unsere Zukunft entscheiden, sind jung oder alt, Erben oder Waisen, Eltern oder kinderlos, hatten das Glück einer guten Ausbildung oder mussten mühsam nachholen, was ihnen die Jugend nicht gewährt hatte, sind Frauen oder Männer, Hausbesitzer oder Mieter, Selbstständige oder Angestellte, Millionäre oder ehemalige Hartz-IV-Empfänger. Alle haben sie eigene Interessen. Säßen diejenigen, die über die Zukunft all dieser Menschen entscheiden, hinter John Rawls’ „Schleier des Nichtwissens“ und wüssten sie nicht, welche Rolle der Zufall ihnen zuteilen wird, würden sie für Regeln stimmen, die Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben für alle versprechen.
Auch wenn ein Sozialist das staubige Wort nie mochte: Es ist Zeit, zu überzeugenden Werten zu stehen. Die heute den Abbau des „Wohlfahrtsstaats“ fordern und fördern, die umverteilen im Namen eines pervertierten Leistungsgedankens, die vergessen, dass selbst Erhard sagte, nicht „Dogmen oder Gruppenstandpunkte“ seien für die Beurteilung von Wirtschaftspolitik entscheidend, sondern „der Mensch, der Verbraucher, das Volk. Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht.“
Wenn der Teil des Volks wächst, der ohne oder gar mit Arbeit verarmt, erweisen sich die neoliberalen Dogmatiker als reaktionär und noch kurzsichtiger als Bismarck,
der Marx’ Zukunftsszenario vereitelte, indem er die Massen am Wohlstand teilhaben ließ, statt sie auszuschließen.
Das Unbehagen am ökonomischen Vulgärliberalismus wird bald wiederkehren. Das könnte die Stunde der roten Konservativen sein. Wessen Herz links schlägt, der ist heute zwar konservativ, doch eben kein Reaktionär. Die Linken haben lange genug ihre Wunden geleckt und geschwiegen. Es wird Zeit, dass sie sich wieder schamlos in politische Debatten einschalten, und sei es mit ihren alten, scheinbar gestrigen Idealen. Besetzen wir also mutig einen Begriff, den keiner mehr bewohnt. Seien wir standhaft und beharrend. Bekennen wir uns mutig zum Konservativ-Sein.
Wer noch?
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