Zitat von Skymarshal
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Die ganze Zeit rede ich hier und in anderen Threads davon, dass die nachträgliche Erinnerung an das "Dritte Reich" nicht mit dem übereinstimmt, was wirklich geschehen ist, sondern dass der individuellen und allgemeinen Erinnerungskultur nach 1945 handfeste Interessen zugrunde liegen. Und was bekomme ich als Antwort? "Mein Opa hat aber gesagt, dass..." "Herr von Manstein schreibt aber in seinem Buch, dass..."
Das kann ich es eigentlich echt gleich lassen und unterhalte mich demnächst doch nur noch über TOS remastered.
Aber teilweise kann ich mir auch nur an den Kopf fassen. Bist du schonmal auf die Idee gekommen, dass die Stories des Opas eventuelle einfach nicht stimmen? Dass dir der "Opa außen Alternheim" vielleicht einfach nur das erzählt, was du gerne hören willst? Glaubst du ernsthaft, er würde dir erzählen, er habe z.B. aus voller Begeisterung an Massenmorden teilgenommen oder dass er sich gefreut habe, als er so billig die Möbel des jüdischen Zahnarztes kaufte, nachdem der "nach dem Osten" transportiert wurde? Oder was auch immer? Du kannst im Normalfall davon ausgehen, dass dir Zeitzeugen davon nichts erzählen, sondern dass sie von Akten des Widerstandes berichten, um bei dir einen positiven Eindruck zu hinterlassen.
Wenn er dir also erzählt, dass a) er das alles ganz schrecklich fand oder dass b) alles ganz schrecklich war und er sich aber innerlich dagegen gewehrt habe, dann ist einfach naiv, das einfach so zu glauben.
Das kann man nicht einfach 1 zu 1 übernehmen, sondern da muss man sehr kritisch sein. Wieso sagen Zeitzeugen z.B., wenn man sie nach der Verfolgung der Juden fragt immer "Wir haben davon nichts gewusst!" und nicht "Ich habe davon nichts gewusst!"? Man fragt doch eine Einzelperson und nicht eine Gruppe?
Ich will diese rhetorische Frage auch beantworten: Weil da einstudierte Entschuldungs- und Verdrängungsmuster ablaufen. „Wir“ haben „davon“ nichts gewusst ist ein Schlagwort, hinter dem das individuelle Erinnern zurücktritt und das von individueller Schuld entlastet.
Lies dir das Buch von Alexander und Margarethe Mitscherlich durch: "von der Unfähigkeit zu trauern". Das ist zwar aus den Sechzigern, aber es bringt die sozialpsycholigen Grundlagen für den Umgang mit dem Nationalsozialismus auf den Punkt.
Menschen füllen, wenn sie Geschichten erzählen, die Lücken in der Erinnerung durch Erfundenes oder anderes Wissen. Dieses Wissen überlagert im Laufe der Jahre dann die eigene Erinnerung. Geschichten, je häufiger sie erzählt werden, verändern sich immer weiter bis es soweit kommt, dass Zeitzeugen, wenn sie vom "Dritten Reich" berichten, Wort für Wort immer dieselbe Geschichte erzählen.
Deswegen ist ein Zeitzeugeninterview, auch nicht die Erinnerung des eigenen Großvaters, keine ernsthafte historische Quelle. Sie muss auf ihre Glaubwürdigkeit intensiv überprüft werden, erst dann kann man sagen, ob sie wohl stimmt oder nicht.
Und deswegen wird es mir langsam ein bisschen zu blöd, denn auch nach diesem kursorischen Überblick über „oral history“ und die Mechanismen der Erinnerung, heisst es garantiert: „Die Geschichte meines Opas stimmt aber...“
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