Kapitel 12
Lilla brachte Joan etwas zu trinken. Joan saß auf dem Bett, nur mit der linken Hand an das Bettgestell gekettet. So hatte sie ein wenig Bewegungsfreiheit und die Schmerzen in Schulter und Nacken ließen endlich nach. So sehr sich Joan auch bemühte, Lilla ließ sich nicht dazu bewegen, mehr zu sagen, als ihr Onkel Povlek ihr anscheinend erlaubt hatte. Dennoch versuchte Joan, die hübsche junge Samedanerin immer und immer wieder in ein Gespräch zu verwickeln. „Lilla“, begann sie, „können Sie mir nicht irgendwie verraten, was hier abgeht? Ich möchte doch nur verstehen, was hier auf diesem Planeten und vor allem mit Ihrem Volk passiert! Bitte reden Sie mit mir.“
Lilla goss etwas klares Wasser in einen Plastikbecher und reichte ihn Joan. Wortlos wandte sie sich ab, ging ein paar Schritte zum Tisch und drehte sich wieder zu Joan um. „Was hier passiert, übersteigt Ihre Vorstellungskraft“, meinte sie nur.
„Versuchen Sie, es mir zu erklären“, gab Joan geduldig zurück.
Lilla setzte sich auf den Tisch und strich ihren dunkelbraunen Hautlappen glatt, der im fahlen Licht des Kellers wie ein auf Hochglanz polierter Schuh schimmerte. „Das samedanische Volk ist sehr alt, mehrere Milliarden Jahre nach Ihrer Zeitrechnung. Wir können auf eine uralte Kultur zurückblicken, Kunst, Musik, Literatur, demokratische Gesellschaftsformen. Kriege hat es in unserer Geschichte nur wenige gegeben, diese aber waren blutig und verlustreich. Wir haben es eigentlich weit gebracht, aber unser Volk degeneriert. Von Generation zu Generation sterben wir ein paar Jahre früher. Unsere Wissenschaftler haben herausgefunden, dass ein Gendefekt, der stets weitervererbt wird, unsere Rasse in spätestens tausend Jahren ausrotten wird. Viele samedanische Frauen haben jetzt schon übermäßig viele Totgeburten.“
Erschrocken schlug Joan die Hände vor den Mund. „Das ist ja schrecklich!“, rief sie. „Gibt es denn nichts, was man dagegen tun kann?“
Langsam schüttelte Lilla den Kopf. „Nein. Auch ich habe schon ein Kind verloren“, antwortete sie traurig. „Dieser Gendefekt ist eine unheilbare Krankheit, die mein Volk heimsucht. Unsere Wissenschaftler haben vor einigen Jahren Kontakt mit Forschern von anderen Welten aufgenommen. Keiner konnte helfen, bis auf einen …“
„… Vul Kuolun“, warf Joan ernüchtert ein. „Er hat sich schon früher gerne mit Genetik auseinandergesetzt. Wie kann sich ein ganzes Volk mit solch einem Verbrecher einlassen? Was ist sein Preis dafür?“
„Sein Preis? Er wollte nur dieses Schiff da oben im Weltraum.“ Lilla deutete zur Decke.
„Nein Lilla, das glaube ich nicht. Da steckt mehr dahinter. Kuolun gibt sich nicht nur mit einem Kriegsschiff zufrieden. Er strebt nach Macht in Reinform. Er würde am liebsten eine ganze Welt beherrschen. Und ich glaube, er hat sich eure Welt ausgesucht. Er wird euren Gendefekt vielleicht beseitigen, aber er ist irre genug, etwas in eure DNA einzupflanzen, was euer Volk zu willfährigen Sklaven macht! Lilla, was habt ihr getan?“ Joan war sichtlich erschüttert und begrub ihr Gesicht in den Handflächen. Dann sah sie Lilla mit Tränen in den Augen an. „Lilla, bitte! Seien Sie vernünftig! Ihr dürft das Schicksal eures Volkes nicht in die Hände dieses Monstrums legen! Auch wenn ihr dann wieder länger leben könnt und gesunde Kinder zur Welt bringt, was ist ein Leben in Sklaverei? Wollt ihr wirklich eure Freiheit, eure Kultur und euer Erbe verschenken?“
Lilla stand auf und ging wortlos zur Tür. Sie drehte sich noch einmal zu Joan um und sagte mit einer Träne im Auge: „Das zu entscheiden liegt nicht in meiner Macht.“ Dann ging sie hinaus und verriegelte die Tür.
Joan ließ sich auf die moderige Matratze fallen und begann hemmungslos zu weinen. „Curtis …“, flüsterte sie. „Bitte hilf mir … hilf diesem armen Volk.“
Am frühen Nachmittag trafen John und Admiral Taggart wieder in New York ein. Taggart hatte fast die ganze Fahrt mit der Admiralität gesprochen und Admiral Dubois davon überzeugen können, wieder – zumindest für den kommenden Einsatz – in den aktiven Dienst zurückzukehren. Letztendlich hatte Dubois dem zugestimmt und Taggart den Oberbefehl für die Einsatzgruppe, die sich derzeit im Orbit um die Erde formierte, übertragen. Offensichtlich freute sich Taggart bereits königlich, wieder ein Kriegsschiff befehligen zu dürfen, sein Grinsen war breiter als der asiatische Kontinent auf einer Taschenkarte. Auf seinem Kommunikator piepste es in einer Tour, jedes Piepsen war eine Klarschiffmeldung aus dem Orbit. Beim fünfzehnten Piepsen gab John das mitzählen auf.
„Alle Achtung!“, brummte Taggart, „die stellen eine komplette Angriffsflotte zusammen, da kann Rodriguez sich warm anziehen, mein Junge!“
In der Tat stellte fast jedes Land der Weltregierung Raumschiffe zur Verfügung: Amerika stellte das Schlachtschiff Republic und die zwei Schlachtkreuzer Alabama und Texas, Frankreich den Schlachtkreuzer Charles De Gaulle, England die Flottenträger Ark Royal und King William, Deutschland die Fregatten Brandenburg, Rheinland und Bayern, Japan den Abfangkreuzer Musashi, Russland die schweren Kreuzer Tolstoi, Orlov und Zar Nicolai. Hinzu kamen unzählige leichte Kreuzer, Korvetten, Hilfsschiffe und Versorger, die von anderen Ländern entsandt wurden.
„Ich muss noch mein Flaggschiff wählen“, meinte Taggart und tippte eine Nachricht in sein Komm. „Für Ihre Katherine wird es die Alabama sein. Wie finden Sie das, John?“ Taggart hatte mit voller Absicht nicht das größte Schiff, die tausendneunhundert Meter lange Republic, gewählt. Das Schlachtschiff war zwar größer und besser bewaffnet, aber langsamer und behäbiger als die Alabama und ihre Schwesterschiffe Tennessee und Texas. Er kannte den kleineren Typ wie seine Westentasche und wusste, wie man den Schlachtkreuzer am effektivsten gegen einen gleichwertigen Gegner einsetzte.
„Kat wird sich freuen …“, brummte John grinsend, als er die Limousine in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums manövrierte. „Wir sind da, Admiral. Wir sollten uns als erstes bei Marshall Garnie melden.“
Noch vor Garnies Büro wurden John und Taggart von selbigem abgefangen. „Wo haben Sie gesteckt, Milner? Ich habe Sie überall gesucht!“, rief er und wirkte etwas genervt.
„Sir, ich habe den Befehlshaber der Einsatzflotte mitgebracht. Darf ich vorstellen? Admiral Hank Taggart.“
„Freut mich, Sir“, gab Garnie respektvoll zurück. „Sie waren der letzte Kommandant auf der Tennessee, richtig?“
„Korrekt, Marshall“, antwortete dieser breit grinsend. „Eigentlich bin ich im Ruhestand, aber Ihr dynamischer Mitarbeiter hier konnte mich davon überzeugen, noch einmal auf die Brücke eines Kampfschiffes zu gehen und seine Verlobte da raus zu holen.“
Garnie sah John argwöhnisch an und zog eine Augenbraue hoch. „Daher weht der Wind. Darüber reden wir, wenn Sie wieder zurück sind, Captain.“
John blinzelte verständnislos. „Sir? Ich verstehe nicht …“
„Gehen Sie Ihre Sachen packen, Milner. Sie fliegen mit Curtis. Er hat mich überredet, Sie mitkommen zu lassen.“
Ein breites, triumphierendes Grinsen huschte über Johns Gesicht. „Danke Sir, ich …“
Garnie hob mahnend den Zeigefinger. „Kein Wort, Milner! Bringen Sie mir Landor, Ballard und die anderen zurück. Und jetzt hauen Sie ab, bevor ich es mir noch einmal anders überlege! Curtis wartet um 17 Uhr auf dem Landefeld auf Sie.“
John blickte auf die Uhr. Er hatte noch anderthalb Stunden, um nach Hause zu fahren, ein paar Sachen zu packen und pünktlich wieder zurück zu sein. Er wusste, dass Curtis kein Freund von Unpünktlichkeit war und gnadenlos ohne ihn abfliegen würde, wenn er nicht auf die Minute genau beim Schiff erschien. Er salutierte mit einem erfreuten „Jawohl, Sir!“ und sprintete in Richtung der Aufzüge.
Taggart und Garnie sahen ihm nach, während Taggart sinnierte: „Muss eine verdammt große Liebe sein, was?“
Garnie nickte. „Darauf können Sie wetten, Admiral. Aber Sie würden es für Ihre Frau genauso tun, wie ich für meine auch, oder?“
Marijke hatte mit ihrer Schätzung Recht. Etwa eine halbe Stunde nachdem die beiden Frauen durch die dunklen und kalten Schächte gekrabbelt waren, deutete die blonde Niederländerin mit dem Zeigefinger über einer Gitterabdeckung nach unten. „Wir sind da, Kat“, flüsterte sie. „Wir müssen hier runter, zwanzig Meter den Gang entlang und einmal rechts um die Ecke. Dann stehen wir vor dem Sicherheitsschott des Polizeitraktes.“
„Sollte doch ein Kinderspiel sein, oder?“, fragte Kat leise. Das einzige Geräusch, das in diesem zu hören war, war das lautstarke Knurren ihres Magens.
„Eigentlich schon, ich kann mir aber vorstellen, dass da unten Rodriguez‘ Leute patrouillieren und nur darauf warten, uns abzufangen. Rodriguez wird mit Sicherheit schon Leute abgestellt haben, die versuchen, an deine Mannschaft heranzukommen“, gab van den Bosch zurück, während sie ein Taschenmesser zückte und die Verschlüsse öffnete.
„Hilft ja nichts, Rijke. Wenn wir vom Schiff runter wollen, müssen wir es wagen. Also, wagen wir es?“, fragte Katherine mit einem Raubtiergrinsen.
„Klar, los pack mit an!“, antwortete Marijke und griff mit den Fingern in das Gitter. Zusammen hoben die beiden Frauen das schwere Gitter hoch und schoben es so leise wie möglich beiseite. Marijke steckte den Kopf durch die Öffnung und sah sich um. „Die Luft ist rein, Kat, los du zuerst!“
Katherine vergewisserte sich, dass Marijke die Wahrheit gesagt hatte und ließ sich mit den Füßen voran von der Deckenöffnung fallen. Die Decks der Tennessee waren etwas über zwei Meter fünfzig hoch, für sie als durchtrainierte Sportlerin keine gefährliche Höhe. Sie ließ sich so tief wie möglich hängen und ließ los. Bei der Landung rollte sie sich gekonnt ab und drückte sich mit gezogener Waffe an die nächstgelegene Wand. „Los, komm Rijke!“, rief Katherine so leise wie möglich.
Marjike van den Bosch kam beim Sprung etwas unglücklich mit dem linken Fuß auf. „Au, godverdomme!“, rief sie leise in ihrer Muttersprache.
„Alles klar?“, flüsterte Katherine.
„Ach Mist, ich habe mir vor ein paar Stunden den linken Fuß verstaucht, jetzt tut es so richtig weh.“ Marijke war aufgestanden und Katherine konnte deutlich erkennen, wie sie humpelte. Im hellen Licht der Deckenbeleuchtung sah Marijke ohnehin sehr angeschlagen und abgekämpft aus. Ihre weiße Uniform war über und über mit Schmutz und Öl übersäht, zerrissen und voll von Blutflecken.
Als Marijke Katherine betrachtete, sah sie die schwarzhaarige Polizistin mitleidig an. „Das schöne Kleid, schade drum. Das war teuer, oder?“
Katherine sah an sich herunter. Das einst hellorangefarbene Lederkleid war graufleckig, ebenfalls ölverschmiert und hatte viele kleine Löcher und der Riss, den Rodriguez verursacht hatte, reichte mittlerweile bis zu Katherines Oberkörper. Dazu war Katherine selbst ziemlich verdreckt, verkratzt und mit blauen Flecken übersäht. „Ja, war es“, seufzte sie. „Und dazu eine Überraschung für meinen Verlobten. Ich wollte es an unserem Polterabend anziehen …“
„Weißt du was, Kat? Wenn das hier überstanden ist, machen wir eine Shoppingtour zu Hause. Ich war schon lange nicht mehr in New York. Ich bin sicher, wir finden dieses Kleid nochmal, das hätte ich nämlich auch gerne. Steht mir bestimmt auch, oder was meinst du?“
„Ganz sicher. Wir gehen shoppen, abgemacht!“ Katherine musste unwillkürlich grinsen. Da waren sie in höchster Lebensgefahr, schmutzig, verletzt und hungrig und sie hatten nichts Besseres zu tun, als sich zum Shoppen zu verabreden, wie es nur Frauen tun konnten.
Marijke hob die Hand und bedeutete Katherine, still zu sein. „Schhh…. da kommt jemand“, flüsterte sie. Deutlich war zu hören, wie Schritte auf dem Deck widerhallten und näherkamen. Marijke wagte einen Blick um die Ecke. Hinter ihrem Rücken zeigte sie Katherine mit den Fingern, wie viele Personen sie sah. Es waren drei. Marijke zog den Kopf wieder ein. „Schnell, Kat, dort in die Nische! Und Kopf runter!“, flüsterte sie und schlich so leise wie möglich in die angewiesene Richtung. Da Katherine barfuß war, brauchte sie nicht zu schleichen. Schnell und geräuschlos hatten sich die beiden Frauen hinter einem Wandvorsprung versteckt. Deutlich konnten sie hören, wie der Trupp an ihnen vorbei ging. Die Soldaten, zwei Männer und eine Frau schwatzten und lachten laut. Als der Trupp vorbei war, wagte Marijke noch einmal, zu der Ecke vorzudringen. Sie sah, dass sonst niemand mehr in der Nähe war und winkte Katherine zu sich. Schnell sprang Katherine auf und lief auf Zehenspitzen nach vorne. Dann ging alles ganz schnell. Mit ihren nackten Füßen rutschte sie auf dem glatten Metalldeck aus und landete schmerzhaft auf ihrem Gesäß. Die Pistole, die sie bis dahin in der Hand gehalten hatte, fiel klappernd auf das Deck.
„Was war das?“, hörten die beiden Frauen einen der drei Soldaten aus der anderen Richtung rufen. Dann kam das Trio im Laufschritt zurück. Geistesgegenwärtig stürzte Marijke sich auf die Blasterpistole, die ein paar Meter vor Katherine zum Liegen kam. Sie ergriff die Pistole, drehte sich um und legte auf Katherine an. Überrascht riss Katherine die Augen auf.
„Marijke, was …“, keuchte sie, während die drei Soldaten schnell näherkamen. Sie saß in der Falle und sah die Sicherheitsoffizierin angsterfüllt und fragend an.
Marijke grinste böse und entsicherte die Blasterpistole, dann brüllte sie: „Kopf runter, Kat! Flach auf den Boden!“
Katherine reagierte instinktiv und legte sich flach auf den Rücken. Drei rote Blasterstrahlen schossen dicht über sie her. Katherine konnte förmlich die Hitze in ihrem Gesicht spüren. Dann vernahm sie drei gurgelnde Schmerzensschreie und das Klappern von Metall auf Metall. Gleich danach kehrte Ruhe ein. Vorsichtig drehte Katherine sich auf den Bauch und sah in die Richtung, aus der die Soldaten kamen. Sie lagen regungslos auf dem Boden, die Gliedmaßen arabesk verdreht.
„Sammle die Waffen ein, Kat, schnell, bevor noch mehr kommen. Es ist nicht mehr weit!“, hörte sie Marijke rufen. Wie automatisch sprang Katherine auf und stürzte auf die Leichen zu. Als sie die Waffen einsammelte, sah sie im Augenwinkel, wie Marijke an die Wand gelehnt auf dem Boden saß sich eine Hand vor das Gesicht hielt.
Katherine ging langsam auf Marijke zu und hockte sich neben sie. „Hey, Marijke, was ist los? Du hast mir gerade das Leben gerettet und ich dachte schon …“
Marijke nahm die Hand vom Gesicht und sah Katherine mit matten Augen an. Leise sagte sie: „… ich wollte dich abknallen, was? Vertraust du mir jetzt endlich? Kat, die Flotte ist alles, was ich habe. Meine Schwester ist tot, meine Mutter ebenfalls und mein Vater vegetiert in einem Heim vor sich hin und weiß nicht einmal mehr, wer ich bin. Die Flotte bedeutet mir alles, ich würde niemals Verrat begehen, bitte glaube mir doch!“
„Ich glaube dir, Marijke“, antwortete Katherine mitfühlend und strich der Niederländerin durchs zerzauste Haar. „Komm, ich helfe dir hoch. Ist es noch weit bis zum Schott?“
Marijke schüttelte ihren verschwitzten blonden Schopf und deutete mit der Pistolenmündung an Katherine vorbei auf die nächste Kreuzung. „Noch die zwanzig Meter, da hinten, um die Ecke. Wir sind gleich in Sicherheit.“
Lilla brachte Joan etwas zu trinken. Joan saß auf dem Bett, nur mit der linken Hand an das Bettgestell gekettet. So hatte sie ein wenig Bewegungsfreiheit und die Schmerzen in Schulter und Nacken ließen endlich nach. So sehr sich Joan auch bemühte, Lilla ließ sich nicht dazu bewegen, mehr zu sagen, als ihr Onkel Povlek ihr anscheinend erlaubt hatte. Dennoch versuchte Joan, die hübsche junge Samedanerin immer und immer wieder in ein Gespräch zu verwickeln. „Lilla“, begann sie, „können Sie mir nicht irgendwie verraten, was hier abgeht? Ich möchte doch nur verstehen, was hier auf diesem Planeten und vor allem mit Ihrem Volk passiert! Bitte reden Sie mit mir.“
Lilla goss etwas klares Wasser in einen Plastikbecher und reichte ihn Joan. Wortlos wandte sie sich ab, ging ein paar Schritte zum Tisch und drehte sich wieder zu Joan um. „Was hier passiert, übersteigt Ihre Vorstellungskraft“, meinte sie nur.
„Versuchen Sie, es mir zu erklären“, gab Joan geduldig zurück.
Lilla setzte sich auf den Tisch und strich ihren dunkelbraunen Hautlappen glatt, der im fahlen Licht des Kellers wie ein auf Hochglanz polierter Schuh schimmerte. „Das samedanische Volk ist sehr alt, mehrere Milliarden Jahre nach Ihrer Zeitrechnung. Wir können auf eine uralte Kultur zurückblicken, Kunst, Musik, Literatur, demokratische Gesellschaftsformen. Kriege hat es in unserer Geschichte nur wenige gegeben, diese aber waren blutig und verlustreich. Wir haben es eigentlich weit gebracht, aber unser Volk degeneriert. Von Generation zu Generation sterben wir ein paar Jahre früher. Unsere Wissenschaftler haben herausgefunden, dass ein Gendefekt, der stets weitervererbt wird, unsere Rasse in spätestens tausend Jahren ausrotten wird. Viele samedanische Frauen haben jetzt schon übermäßig viele Totgeburten.“
Erschrocken schlug Joan die Hände vor den Mund. „Das ist ja schrecklich!“, rief sie. „Gibt es denn nichts, was man dagegen tun kann?“
Langsam schüttelte Lilla den Kopf. „Nein. Auch ich habe schon ein Kind verloren“, antwortete sie traurig. „Dieser Gendefekt ist eine unheilbare Krankheit, die mein Volk heimsucht. Unsere Wissenschaftler haben vor einigen Jahren Kontakt mit Forschern von anderen Welten aufgenommen. Keiner konnte helfen, bis auf einen …“
„… Vul Kuolun“, warf Joan ernüchtert ein. „Er hat sich schon früher gerne mit Genetik auseinandergesetzt. Wie kann sich ein ganzes Volk mit solch einem Verbrecher einlassen? Was ist sein Preis dafür?“
„Sein Preis? Er wollte nur dieses Schiff da oben im Weltraum.“ Lilla deutete zur Decke.
„Nein Lilla, das glaube ich nicht. Da steckt mehr dahinter. Kuolun gibt sich nicht nur mit einem Kriegsschiff zufrieden. Er strebt nach Macht in Reinform. Er würde am liebsten eine ganze Welt beherrschen. Und ich glaube, er hat sich eure Welt ausgesucht. Er wird euren Gendefekt vielleicht beseitigen, aber er ist irre genug, etwas in eure DNA einzupflanzen, was euer Volk zu willfährigen Sklaven macht! Lilla, was habt ihr getan?“ Joan war sichtlich erschüttert und begrub ihr Gesicht in den Handflächen. Dann sah sie Lilla mit Tränen in den Augen an. „Lilla, bitte! Seien Sie vernünftig! Ihr dürft das Schicksal eures Volkes nicht in die Hände dieses Monstrums legen! Auch wenn ihr dann wieder länger leben könnt und gesunde Kinder zur Welt bringt, was ist ein Leben in Sklaverei? Wollt ihr wirklich eure Freiheit, eure Kultur und euer Erbe verschenken?“
Lilla stand auf und ging wortlos zur Tür. Sie drehte sich noch einmal zu Joan um und sagte mit einer Träne im Auge: „Das zu entscheiden liegt nicht in meiner Macht.“ Dann ging sie hinaus und verriegelte die Tür.
Joan ließ sich auf die moderige Matratze fallen und begann hemmungslos zu weinen. „Curtis …“, flüsterte sie. „Bitte hilf mir … hilf diesem armen Volk.“
Am frühen Nachmittag trafen John und Admiral Taggart wieder in New York ein. Taggart hatte fast die ganze Fahrt mit der Admiralität gesprochen und Admiral Dubois davon überzeugen können, wieder – zumindest für den kommenden Einsatz – in den aktiven Dienst zurückzukehren. Letztendlich hatte Dubois dem zugestimmt und Taggart den Oberbefehl für die Einsatzgruppe, die sich derzeit im Orbit um die Erde formierte, übertragen. Offensichtlich freute sich Taggart bereits königlich, wieder ein Kriegsschiff befehligen zu dürfen, sein Grinsen war breiter als der asiatische Kontinent auf einer Taschenkarte. Auf seinem Kommunikator piepste es in einer Tour, jedes Piepsen war eine Klarschiffmeldung aus dem Orbit. Beim fünfzehnten Piepsen gab John das mitzählen auf.
„Alle Achtung!“, brummte Taggart, „die stellen eine komplette Angriffsflotte zusammen, da kann Rodriguez sich warm anziehen, mein Junge!“
In der Tat stellte fast jedes Land der Weltregierung Raumschiffe zur Verfügung: Amerika stellte das Schlachtschiff Republic und die zwei Schlachtkreuzer Alabama und Texas, Frankreich den Schlachtkreuzer Charles De Gaulle, England die Flottenträger Ark Royal und King William, Deutschland die Fregatten Brandenburg, Rheinland und Bayern, Japan den Abfangkreuzer Musashi, Russland die schweren Kreuzer Tolstoi, Orlov und Zar Nicolai. Hinzu kamen unzählige leichte Kreuzer, Korvetten, Hilfsschiffe und Versorger, die von anderen Ländern entsandt wurden.
„Ich muss noch mein Flaggschiff wählen“, meinte Taggart und tippte eine Nachricht in sein Komm. „Für Ihre Katherine wird es die Alabama sein. Wie finden Sie das, John?“ Taggart hatte mit voller Absicht nicht das größte Schiff, die tausendneunhundert Meter lange Republic, gewählt. Das Schlachtschiff war zwar größer und besser bewaffnet, aber langsamer und behäbiger als die Alabama und ihre Schwesterschiffe Tennessee und Texas. Er kannte den kleineren Typ wie seine Westentasche und wusste, wie man den Schlachtkreuzer am effektivsten gegen einen gleichwertigen Gegner einsetzte.
„Kat wird sich freuen …“, brummte John grinsend, als er die Limousine in die Tiefgarage des Polizeipräsidiums manövrierte. „Wir sind da, Admiral. Wir sollten uns als erstes bei Marshall Garnie melden.“
Noch vor Garnies Büro wurden John und Taggart von selbigem abgefangen. „Wo haben Sie gesteckt, Milner? Ich habe Sie überall gesucht!“, rief er und wirkte etwas genervt.
„Sir, ich habe den Befehlshaber der Einsatzflotte mitgebracht. Darf ich vorstellen? Admiral Hank Taggart.“
„Freut mich, Sir“, gab Garnie respektvoll zurück. „Sie waren der letzte Kommandant auf der Tennessee, richtig?“
„Korrekt, Marshall“, antwortete dieser breit grinsend. „Eigentlich bin ich im Ruhestand, aber Ihr dynamischer Mitarbeiter hier konnte mich davon überzeugen, noch einmal auf die Brücke eines Kampfschiffes zu gehen und seine Verlobte da raus zu holen.“
Garnie sah John argwöhnisch an und zog eine Augenbraue hoch. „Daher weht der Wind. Darüber reden wir, wenn Sie wieder zurück sind, Captain.“
John blinzelte verständnislos. „Sir? Ich verstehe nicht …“
„Gehen Sie Ihre Sachen packen, Milner. Sie fliegen mit Curtis. Er hat mich überredet, Sie mitkommen zu lassen.“
Ein breites, triumphierendes Grinsen huschte über Johns Gesicht. „Danke Sir, ich …“
Garnie hob mahnend den Zeigefinger. „Kein Wort, Milner! Bringen Sie mir Landor, Ballard und die anderen zurück. Und jetzt hauen Sie ab, bevor ich es mir noch einmal anders überlege! Curtis wartet um 17 Uhr auf dem Landefeld auf Sie.“
John blickte auf die Uhr. Er hatte noch anderthalb Stunden, um nach Hause zu fahren, ein paar Sachen zu packen und pünktlich wieder zurück zu sein. Er wusste, dass Curtis kein Freund von Unpünktlichkeit war und gnadenlos ohne ihn abfliegen würde, wenn er nicht auf die Minute genau beim Schiff erschien. Er salutierte mit einem erfreuten „Jawohl, Sir!“ und sprintete in Richtung der Aufzüge.
Taggart und Garnie sahen ihm nach, während Taggart sinnierte: „Muss eine verdammt große Liebe sein, was?“
Garnie nickte. „Darauf können Sie wetten, Admiral. Aber Sie würden es für Ihre Frau genauso tun, wie ich für meine auch, oder?“
Marijke hatte mit ihrer Schätzung Recht. Etwa eine halbe Stunde nachdem die beiden Frauen durch die dunklen und kalten Schächte gekrabbelt waren, deutete die blonde Niederländerin mit dem Zeigefinger über einer Gitterabdeckung nach unten. „Wir sind da, Kat“, flüsterte sie. „Wir müssen hier runter, zwanzig Meter den Gang entlang und einmal rechts um die Ecke. Dann stehen wir vor dem Sicherheitsschott des Polizeitraktes.“
„Sollte doch ein Kinderspiel sein, oder?“, fragte Kat leise. Das einzige Geräusch, das in diesem zu hören war, war das lautstarke Knurren ihres Magens.
„Eigentlich schon, ich kann mir aber vorstellen, dass da unten Rodriguez‘ Leute patrouillieren und nur darauf warten, uns abzufangen. Rodriguez wird mit Sicherheit schon Leute abgestellt haben, die versuchen, an deine Mannschaft heranzukommen“, gab van den Bosch zurück, während sie ein Taschenmesser zückte und die Verschlüsse öffnete.
„Hilft ja nichts, Rijke. Wenn wir vom Schiff runter wollen, müssen wir es wagen. Also, wagen wir es?“, fragte Katherine mit einem Raubtiergrinsen.
„Klar, los pack mit an!“, antwortete Marijke und griff mit den Fingern in das Gitter. Zusammen hoben die beiden Frauen das schwere Gitter hoch und schoben es so leise wie möglich beiseite. Marijke steckte den Kopf durch die Öffnung und sah sich um. „Die Luft ist rein, Kat, los du zuerst!“
Katherine vergewisserte sich, dass Marijke die Wahrheit gesagt hatte und ließ sich mit den Füßen voran von der Deckenöffnung fallen. Die Decks der Tennessee waren etwas über zwei Meter fünfzig hoch, für sie als durchtrainierte Sportlerin keine gefährliche Höhe. Sie ließ sich so tief wie möglich hängen und ließ los. Bei der Landung rollte sie sich gekonnt ab und drückte sich mit gezogener Waffe an die nächstgelegene Wand. „Los, komm Rijke!“, rief Katherine so leise wie möglich.
Marjike van den Bosch kam beim Sprung etwas unglücklich mit dem linken Fuß auf. „Au, godverdomme!“, rief sie leise in ihrer Muttersprache.
„Alles klar?“, flüsterte Katherine.
„Ach Mist, ich habe mir vor ein paar Stunden den linken Fuß verstaucht, jetzt tut es so richtig weh.“ Marijke war aufgestanden und Katherine konnte deutlich erkennen, wie sie humpelte. Im hellen Licht der Deckenbeleuchtung sah Marijke ohnehin sehr angeschlagen und abgekämpft aus. Ihre weiße Uniform war über und über mit Schmutz und Öl übersäht, zerrissen und voll von Blutflecken.
Als Marijke Katherine betrachtete, sah sie die schwarzhaarige Polizistin mitleidig an. „Das schöne Kleid, schade drum. Das war teuer, oder?“
Katherine sah an sich herunter. Das einst hellorangefarbene Lederkleid war graufleckig, ebenfalls ölverschmiert und hatte viele kleine Löcher und der Riss, den Rodriguez verursacht hatte, reichte mittlerweile bis zu Katherines Oberkörper. Dazu war Katherine selbst ziemlich verdreckt, verkratzt und mit blauen Flecken übersäht. „Ja, war es“, seufzte sie. „Und dazu eine Überraschung für meinen Verlobten. Ich wollte es an unserem Polterabend anziehen …“
„Weißt du was, Kat? Wenn das hier überstanden ist, machen wir eine Shoppingtour zu Hause. Ich war schon lange nicht mehr in New York. Ich bin sicher, wir finden dieses Kleid nochmal, das hätte ich nämlich auch gerne. Steht mir bestimmt auch, oder was meinst du?“
„Ganz sicher. Wir gehen shoppen, abgemacht!“ Katherine musste unwillkürlich grinsen. Da waren sie in höchster Lebensgefahr, schmutzig, verletzt und hungrig und sie hatten nichts Besseres zu tun, als sich zum Shoppen zu verabreden, wie es nur Frauen tun konnten.
Marijke hob die Hand und bedeutete Katherine, still zu sein. „Schhh…. da kommt jemand“, flüsterte sie. Deutlich war zu hören, wie Schritte auf dem Deck widerhallten und näherkamen. Marijke wagte einen Blick um die Ecke. Hinter ihrem Rücken zeigte sie Katherine mit den Fingern, wie viele Personen sie sah. Es waren drei. Marijke zog den Kopf wieder ein. „Schnell, Kat, dort in die Nische! Und Kopf runter!“, flüsterte sie und schlich so leise wie möglich in die angewiesene Richtung. Da Katherine barfuß war, brauchte sie nicht zu schleichen. Schnell und geräuschlos hatten sich die beiden Frauen hinter einem Wandvorsprung versteckt. Deutlich konnten sie hören, wie der Trupp an ihnen vorbei ging. Die Soldaten, zwei Männer und eine Frau schwatzten und lachten laut. Als der Trupp vorbei war, wagte Marijke noch einmal, zu der Ecke vorzudringen. Sie sah, dass sonst niemand mehr in der Nähe war und winkte Katherine zu sich. Schnell sprang Katherine auf und lief auf Zehenspitzen nach vorne. Dann ging alles ganz schnell. Mit ihren nackten Füßen rutschte sie auf dem glatten Metalldeck aus und landete schmerzhaft auf ihrem Gesäß. Die Pistole, die sie bis dahin in der Hand gehalten hatte, fiel klappernd auf das Deck.
„Was war das?“, hörten die beiden Frauen einen der drei Soldaten aus der anderen Richtung rufen. Dann kam das Trio im Laufschritt zurück. Geistesgegenwärtig stürzte Marijke sich auf die Blasterpistole, die ein paar Meter vor Katherine zum Liegen kam. Sie ergriff die Pistole, drehte sich um und legte auf Katherine an. Überrascht riss Katherine die Augen auf.
„Marijke, was …“, keuchte sie, während die drei Soldaten schnell näherkamen. Sie saß in der Falle und sah die Sicherheitsoffizierin angsterfüllt und fragend an.
Marijke grinste böse und entsicherte die Blasterpistole, dann brüllte sie: „Kopf runter, Kat! Flach auf den Boden!“
Katherine reagierte instinktiv und legte sich flach auf den Rücken. Drei rote Blasterstrahlen schossen dicht über sie her. Katherine konnte förmlich die Hitze in ihrem Gesicht spüren. Dann vernahm sie drei gurgelnde Schmerzensschreie und das Klappern von Metall auf Metall. Gleich danach kehrte Ruhe ein. Vorsichtig drehte Katherine sich auf den Bauch und sah in die Richtung, aus der die Soldaten kamen. Sie lagen regungslos auf dem Boden, die Gliedmaßen arabesk verdreht.
„Sammle die Waffen ein, Kat, schnell, bevor noch mehr kommen. Es ist nicht mehr weit!“, hörte sie Marijke rufen. Wie automatisch sprang Katherine auf und stürzte auf die Leichen zu. Als sie die Waffen einsammelte, sah sie im Augenwinkel, wie Marijke an die Wand gelehnt auf dem Boden saß sich eine Hand vor das Gesicht hielt.
Katherine ging langsam auf Marijke zu und hockte sich neben sie. „Hey, Marijke, was ist los? Du hast mir gerade das Leben gerettet und ich dachte schon …“
Marijke nahm die Hand vom Gesicht und sah Katherine mit matten Augen an. Leise sagte sie: „… ich wollte dich abknallen, was? Vertraust du mir jetzt endlich? Kat, die Flotte ist alles, was ich habe. Meine Schwester ist tot, meine Mutter ebenfalls und mein Vater vegetiert in einem Heim vor sich hin und weiß nicht einmal mehr, wer ich bin. Die Flotte bedeutet mir alles, ich würde niemals Verrat begehen, bitte glaube mir doch!“
„Ich glaube dir, Marijke“, antwortete Katherine mitfühlend und strich der Niederländerin durchs zerzauste Haar. „Komm, ich helfe dir hoch. Ist es noch weit bis zum Schott?“
Marijke schüttelte ihren verschwitzten blonden Schopf und deutete mit der Pistolenmündung an Katherine vorbei auf die nächste Kreuzung. „Noch die zwanzig Meter, da hinten, um die Ecke. Wir sind gleich in Sicherheit.“
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