Captain Future - Rache und Reue - SciFi-Forum

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Captain Future - Rache und Reue

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    #76
    Na ja, erstens kommt es anders als man zweitens meistens denkt... wirst sehen.
    Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

    Mission accomplished.

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      #77
      Ja???
      Erinnert mich dann ein bisschen an den letzten Teil der BBC-Sherlock-Reihe, da kippte der Status des Helden auch im Gerichtssaal!
      Haste den gesehen? Ich finde die Reihe sowas von scharf!
      Mach uns den Moriaty!
      Entgegen der um sich greifenden Legendenbildung habe ich mein "altes" Forum nicht freiwillig verlassen! Tragischerweise muss man nun feststellen, dass es dieses Forum nicht mehr gibt! Warum wohl nicht? ;)

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        #78
        Nee, kenn ich nicht. Ich komme auch nicht allzuviel zum fernsehen, obwohl ich beruflich eigentlich müsste...

        Ich tanz dir eher den Zistavan!
        Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

        Mission accomplished.

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          #79
          Zistavan macht mit Curtis den Molly...



          Weltraumpolizeipräsidium, am darauffolgenden Morgen

          Nurara, Sam und Jonathan saßen beim Frühstück, als Katherine zu ihnen stieß. Sie wirkte übernächtigt und blass. Jonathan hatte Nurara und Sam bereits von Katherines Nachricht des Vorabends in Kenntnis gesetzt. Entsprechend gedrückt war Nuraras Stimmung, obwohl Jonathan versuchte, den Druck, der auf Nurara lastete, mit seinem juristischen Erfahrungsschatz zu mildern. Als Katherine sich mit einem dampfenden Becher Kaffee zu ihnen setzte, hellte sich Nuraras Miene ein klein wenig auf. Katherine sah noch bedrückter aus als sie selbst. Nurara legte eine Hand in Katherines Nacken und massierte ihn gekonnt. Katherine legte den Kopf zurück und gab ein wohliges Seufzen von sich. „Du siehst ziemlich fertig aus, Kat. Hast du die Nacht mit John im Videochat verbracht?“ Nurara versuchte ein freundliches Gesicht zu machen und ließ von Katherine ab.

          Katherine nahm einen großen Schluck Kaffee und stellte die Tasse lautstark auf den Tisch. „Ich wünschte, ich hätte das besser getan, dann wäre ich jetzt zumindest ausgeschlafener. Marshall Garnie hat mich beauftragt, ein Profil des Rulwakowa—Mörders zu erstellen, und außer einer dreißig Sekunden langen Videosequenz der Tat habe ich nichts. Rein gar nichts. Der Kerl ist offensichtlich nicht aktenkundig und taucht auch sonst in keinem Melderegister auf. Keine Wohnung, keine Führerscheine, keine Pilotenlizenzen, absolut nichts.“ Katherine griff wieder zu ihrer Kaffeetasse. „Wir können ihn nicht einmal zur öffentlichen Fahndung ausschreiben, weil sein Gesicht nicht vernünftig zu erkennen ist. Verdammt!“, sagte Katherine bitter.

          Sam mischte sich in die Unterhaltung ein. „Gibt es keine Überwachungskameras im Umkreis um das abgebrannte Lagerhaus? Er musste doch irgendwo auftauchen, nachdem er den Tatort verlassen hat.“

          Katherine schüttelte ihr schwarzes Haar, das sie an diesem Morgen ganz unüblich offen trug. „Nein, nichts. Es hat den Anschein, als wusste er ganz genau, welche Wege er zum und vom Tatort zu nehmen hatte. Das lässt auf einen Profi oder Auftragsmörder schließen. Gegen diese These spricht aber wiederum die Tatwaffe. Ein mindestens hundertfünfzig Jahre alter Revolver, der großkalibrige, ballistische Munition verschießt. Ungenau, schmerzhaft und durchaus tödlich.“

          Nurara verzog das Gesicht. „Das ist ja ekelhaft. Ich habe Bilder von der Wirkung solcher Waffen gesehen. Wo bekommt man so was heute noch her?“

          „Es gibt immer noch viele Waffensammler, die sich alte Pistolen und Revolver in die Vitrine stellen. Und natürlich findet man solche Waffen zu Hauf in Museen. Da kommt es immer mal vor, dass aus Kellerarchiven oder privaten Sammlungen etwas gestohlen wird. Und was es noch an alten Waffen im Privatbesitz gibt, daran möchte ich gar nicht denken. Viele haben nach der Verschärfung der Waffengesetze vor achtzig Jahren ihre unregistrierten Waffen einfach nicht abgeliefert. Ebenso verhielt es sich dann eben auch mit der passenden Munition“, antwortete Jonathan. „Ich hatte in den letzten zwanzig Jahren so einige Fälle wegen illegalen Waffenbesitzes, die aber meist glimpflich für die Beschuldigten ausgingen.“

          Katherine wechselte das Thema. „Jonathan, was können Sie zu der neuen Situation bezüglich Kuolun sagen?“ Sie wirkte zunehmend wacher und aufmerksamer. Der starke Polizeikaffee tat jetzt so langsam seine Wirkung.

          „Nun, Katherine“, begann Jonathan, „ganz so einfach, wie es sich die Richterin im Kuolun-Prozess macht, ist es zum Glück nicht. Kuolun wie auch Nurara werden nach interstellarem Strafrecht verhandelt, das bedeutet, dass Nurara, so denn sie darauf besteht, eine Aussage zu machen, dieses Recht sogar einklagen kann, wenn es ihrem eigenen Strafmaß zuträglich ist. Die Kronzeugenaussage ist bereits bei der airamischen Staatsanwaltschaft angekündigt und mir wurde noch in dieser Nacht zugesagt, dass Nurara als Kronzeugin vorgeladen wird.“

          Katherine lächelte Nurara an. „Na das ist doch wunderbar!“

          Jonathan wurde in diesem Augenblick sehr ernst. „Im Prinzip ja, aber in dem Moment, als Sie hier an diesem Tisch Platz nahmen, Katherine, war ich im Begriff, Nurara noch ein wichtiges Detail zu eröffnen.“

          Nurara zog den Löffel aus ihrer Kaffeetasse und fragte neugierig: „Was denn, Jonathan?“

          Jonathan blickte die junge Frau fest an. „Die Staatsanwaltschaft auf Airam IV erwartet Ihr persönliches Erscheinen vor Gericht, Nurara. Keine Videokonferenz.“

          Sämtliche Farbe entwich aus Nuraras Gesicht und sie ließ den Löffel aus der Hand fallen, der klirrend auf dem gekachelten Boden aufschlug.





          Oberstes Strafgericht von Airam, erster Senat, am späten Nachmittag


          „Haben Sie gezielt auf die Nova geschossen oder nicht, Captain?“, fragte Borksh eindringlich. „Ich weiß um die Kampfkraft Ihres Schiffes. Sie haben auf das Schiff meines Mandanten geschossen, unter Inkaufnahme dessen Todes und dem seiner Besatzung!“

          Curtis schüttelte zum wiederholten Male den Kopf. „Nein Sir, ich wollte die Nova lediglich kampf- beziehungsweise manövrierunfähig machen. Es war zu keiner Zeit meine Absicht oder die meiner Besatzung, das Leben von Kuolun, Nurara oder deren Begleiter aufs Spiel zu setzen. Wir wollten Kuolun lebend fangen!“

          Der kleine Anwalt baute sich vor dem sitzenden Curtis auf und stützte sich mit gestreckten Armen auf die Brüstung des Zeugenstandes. „Wie kommt es dann, dass Sie mit nur einem einzigen Treffer einen solchen Schaden anrichten konnten, dass die Nova innerhalb kürzester Zeit explodiert ist und meinem Mandanten nur in letzter Minute die Flucht von dem Wrack gelungen ist?“

          Curtis fühlte, wie unbändiger Zorn in ihm aufstieg. Er hatte alle Mühe, seine Geduld unter Kontrolle zu halten, zu unverschämt war es doch, wie Borksh die Fakten verdrehte. Er atmete tief durch und antwortete mit ruhiger aber energischer Stimme: „Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Mister Borksh. Erstens, die Nova ist erst fünfzehn Minuten nach dem Treffer oberhalb des Generatorraumes explodiert. Zweitens, Kuolun und seine Mannschaft sind unmittelbar nach dem Treffer mit ihrem Shuttle von Bord gegangen und drittens: ich selbst war noch knapp acht Minuten an Bord der Nova um den Parallelraumgenerator aus dem Wrack zu holen. Wenn Ihnen das nicht reicht, gehe ich jetzt sofort zurück zu meinem Schiff und hole für Sie sämtliche Flugschreiberdaten der Comet und des Cosmoliners. Und wenn Sie in der Lage sind, die Feuerleitdaten auszulesen, so dürfen Sie diese gerne gegen mich verwenden.“ Curtis funkelte Borksh wutentbrannt an, versuchte jener doch ihn als den schießwütigen Weltraumcowboy hinzustellen.

          Borksh kratzte sich kurz am Kinn und stellte seine nächste Frage. „Mister Newton … Captain, welches Amt haben Sie in der Weltraumpolizeibehörde inne? Welchen Rang bekleiden Sie?“

          Curtis schaute Borksh verständnislos an. „Keinen?! Ich bin Zivilist und Wissenschaftler.“

          „Demnach haben Sie keinerlei polizeiliche Befugnisse?“

          „Nur wenn mir von Marshall Garnie im Rahmen eines Auftrages Befugnisse übertragen werden.“

          „Ihr Schiff, die Comet, hat die Registrierungsnummer LN-001. Wofür steht das Kürzel „LN“?“

          „Für Luna, meine Schiffe sind auf dem Mond registriert.“

          „Welches Kürzel führen Schiffe, die auf der Erde registriert sind?“

          „TN oder TER, worauf wollen Sie hinaus, Mr. Borksh?“, fragte Curtis unbehaglich.

          „Nach meinem Kenntnisstand ist das Kürzel LN kein legitimes Kürzel, unter dem Raumschiffe offiziell bei den Versicherungsgesellschaften registriert sind. Demnach hätte Ihr Schiff ohne Versicherung keine Landeerlaubnis auf der Erde, richtig?“

          Staatsanwältin Acar war aufgestanden. „Ich erhebe Einspruch, die Frage der Registrierung eines Raumschiffes ist irrelevant!“

          Richterin Sel nickte zustimmend. „Stattgegeben! Bitte formulieren Sie Ihre Frage anders, Mister Borksh.“

          Borksh senkte demütig vor der Richterin den Kopf. „Ich bitte um Entschuldigung. Captain, sind Sie von irgendeiner offiziellen irdischen Stelle befugt worden, Ihr Schiff mit Waffen auszustatten, die militärischen Waffen in ihrer Wirkung ebenbürtig sind?“

          „Was … was soll das? Die Comet ist ein Forschungsschiff! Die Waffen dienen in erster Linie der Selbstverteidigung!“ Curtis blickte Richterin Sel fragend an.

          „Bitte beantworten Sie die Frage, Captain“, gab Sel zurück.

          Curtis straffte sich. „Ich habe die Comet selbst entworfen und gebaut. Die Materialien für dieses Schiff stammten aus einem leichten Raumkreuzer, der zur Verschrottung anstand und zu dessen Bergung und Verwertung ich durch das Verteidigungsministerium schriftlich befugt wurde. Es gab bei der Erlaubnis keinerlei Einschränkungen oder Verklausulierungen. Ich durfte alles aus dem Kreuzer entnehmen, was mir verwertbar erschien. Und dazu gehörten auch die vier Protonenkanonen. Die Genehmigung gehört zu den Bauunterlagen. Auch diese kann ich Ihnen gerne zur Einsicht zur Verfügung stellen.“

          Richterin Sel sah Borksh sichtlich genervt an. Säuerlich sagte sie: „Mister Borksh, wenn Sie sich mit Mister Newton detailliert über Raumschiffbau austauschen möchten, bitte ich Sie, dies in den Pausen oder nach Ende der heutigen Verhandlung zu tun. Wenn Sie aber tatsächlich noch etwas Relevantes zu dieser Verhandlung beitragen möchten, dann tun Sie dies bitte jetzt oder beenden Sie die Befragung des Zeugen. Raumschiffe langweilen mich!“

          Vereinzeltes Gekicher war im Gerichtssaal zu vernehmen.

          Borksh sah ein, dass er hier keinen Treffer landen konnte, daher wechselte er das Thema. „Captain, wie stehen Sie zu Glücksspiel allgemein?“

          „Ich verurteile Glücksspiel nicht zwingend, gehöre aber nicht zu dem Personenkreis, der es unbedingt und regelmäßig braucht“, gab Curtis trocken zurück.

          „Und wie steht es mit Betrug im Glücksspiel? Respektive Manipulation von Automaten?“

          „So etwas ist tatsächlich verabscheuungswürdig. Falschspiel ist absolut inakzeptabel“, antwortete Curtis kopfschüttelnd.

          Borksh ging vor dem Zeugenstand auf und ab. „Mister Newton, wann waren Sie das letzte Mal in einem Casino und haben an einem Glücksspiel teilgenommen?“

          „Vor etwa zwei Monaten, am Tage von Kuoluns Verhaftung auf dem Vergnügungsplaneten.“

          Borksh blieb vor Curtis stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie wurden dabei erwischt, wie Sie den Geber des Radium-Roulettes mittels eines kleinen Gerätes manipulierten.“

          Curtis grinste. „Kuolun tat es ebenfalls, sehen Sie es als Chancengleichheit.“

          Borksh grinste schmierig zurück. „Dann geben Sie also zu, dass Sie an jenem Tag das Casino betrogen haben?“

          Curtis hob die Arme. „Ja“, rief er, „nur so konnte ich ihn überführen.“

          Borksh wandte sich ab und ging zu seinem Tisch zurück, an dem ein ölig grinsender Vul Kuolun saß. „Keine weiteren Fragen!“, sagte Borksh nur und setzte sich mit einem Siegerlächeln neben seinen Mandanten.

          Richterin Sel sah Acar fragend an. „Möchte die Anklage den Zeugen noch einmal vernehmen?“

          Nese Acar winkte mit einer knappen Handbewegung ab. „Nein, Euer Ehren, keine Fragen.“

          An Curtis gewandt sagte Sel dann: „Vielen Dank, Captain. Sie sind damit vorerst als Zeuge entlassen. Wenn Sie möchten, können Sie die Heimreise antreten. Halten Sie sich jedoch im Gedächtnis, dass Sie unter Umständen noch einmal als Zeuge vorgeladen werden.“
          Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

          Mission accomplished.

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            #80
            „Comet“, Überlichtgeschwindigkeit

            „Und, wie war es?“, fragte Joan. Joan und Katherine saßen dicht nebeneinander, die Köpfe zusammengesteckt, vor der Kamera und tranken augenscheinlich schon seit einiger Zeit Rotwein. Curtis war direkt nach seiner Entlassung aus dem Zeugenstand an Bord der Comet gegangen und hatte Grag und Otho den Rückflug zur Erde befohlen. Nach einer ausgiebigen und erfrischenden Dusche saß er nun in seiner Kabine, noch mit nassen Haaren und mit einem Unterhemd bekleidet auf seiner Koje und unterhielt sich mit den beiden Frauen.

            „Borksh hat mich zuweilen ziemlich dämlich dastehen lassen“, brummte er und gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Dieser Winkeladvokat hat fast alle meine Antworten verdreht und mich unglaubwürdig gemacht und mir teilweise auch noch einen Strick aus Dingen drehen wollen, die mit dem Prozess überhaupt nichts zu tun haben!“ Der Ärger stand Curtis förmlich ins Gesicht geschrieben.

            Katherine nahm einen Schluck Wein aus einem großen, kelchförmigen Glas und antwortete: „Mach dir nichts draus, Curt. Es ist unwichtig, wie du für den Verteidiger in diesem Fall rüberkommst, sondern bei den Richtern und der Staatsanwaltschaft. Die machen sich schon ihr eigenes Bild von dem, was du aussagst.“ Katherine wirkte deutlich besser gelaunt als noch bei der letzten Unterhaltung. Anscheinend hatte sich ihre Verärgerung über Curtis‘ Vorschlag gelegt, was womöglich auch am Rotwein liegen mochte.

            Argwöhnisch schaute Curtis abwechselnd beide Frauen an. „Ihr seht so aus, als hättet ihr heute noch etwas vor …“

            Joan und Katherine betrachteten sich gegenseitig und grinsten. Beide waren hübsch geschminkt und frisiert. Katherine antwortete: „Ja, so sieht’s aus, Curt. Wir machen uns gleich fein und gehen essen. In der 82. hat ein neues französisches Restaurant aufgemacht, das soll ein absoluter Geheimtipp sein. Und wenn es was taugt, darfst du Joan dahin ausführen.“
            Curtis‘ Magen zog sich zusammen, er liebte die französische Küche. Bei dem Gedanken, dass er zwei Tage lang öde Schiffsrationen zu sich nehmen sollte, während seine geliebte Joan mit ihrer überaus attraktiven Freundin und ohne ihn ein feines Restaurant testete und sich womöglich dabei auch noch amüsierte, sank seine Laune noch ein Stückchen weiter.

            „Ihr beide seid zwei ganz fiese Weiber, wisst ihr das?“, gab er gallig zurück, freute sich aber innerlich auf seine Rückkehr. „Eigentlich sollte man euch gegenseitig den Umgang miteinander verbieten!“ Er schaute beide Frauen einen langen Moment finster an, dann schenkte er ihnen ein aufrichtiges und warmes Lächeln. „Ich wünsche euch viel Spaß! Und Finger weg von anderen Männern, das gilt für euch beide, klar?“

            Katherine bleckte lachend ihre perlweißen Zähne und stupste Joan freundschaftlich an. „Keine Sorge, ich passe schon auf deine Joan auf.“




            New York State Supreme Courthouse, 20. November, vierter Prozesstag


            Joan, Katherine und Dorothea Kesselring saßen im Zuschauerraum und lauschten gebannt den Ausführungen von Doktor Skythe, dem vom Gericht bestellten Psychologen. Während Joan nur wenig von dem verstand, was Skythe vortrug, nickten Katherine und Kesselring oft zustimmend. Seine Erkenntnisse deckten sich mit ihren nahezu hundertprozentig. Selten kam es in der Psychologie vor, dass drei unterschiedliche Ärzte so einhelliger Meinung waren, wie in diesem Fall. Jackson Skythe kam in diesem Moment zum Ende seines Vortrags.
            „… und eben aus diesem Grunde vertrete ich dieselbe Ansicht, wie meine beiden charmanten Kolleginnen. Die hier anwesende Nurara ist nach meiner unabhängigen Meinung in jeder Hinsicht resozialisierbar. Ich empfehle eine offene Therapie nach der „Di-Lauro“-Methode, wie sie in Professor Kesselrings Institut angewendet wird. Die Angeklagte sollte nach einer Therapiedauer von 18 Monaten erstmalig neu begutachtet werden. Vielen Dank!“

            Richter Callahan nickte dem Psychologen zu. „Ich danke Ihnen, Doktor. Haben Anklage und Verteidigung noch Fragen an den Gutachter?“

            Jonathan McCabe schüttelte den Kopf, jedoch Ed Fox erhob sich und strich einen Fussel von der Schulter seines Talars. „Eine Frage hätte ich, Doktor. Sie empfehlen zur Therapie die „Di-Lauro“-Methode. Können Sie mir und den Anwesenden in wenigen Worten umschreiben, um was es hier geht und wie die Rückfallquoten aussehen?“

            Skythe räusperte sich, dann antwortete er: „Genaue Zahlen zur Rückfallquote habe ich derzeit nicht, aber ich kann Ihnen versichern, dass diese im Promillebereich liegen. Professor Kesselring kann Ihnen da sicher absolute Zahlen nennen.“ Kesselring nickte zustimmend von der Zuhörerbank. Skythe fuhr fort: „Bei der „Di-Lauro“-Methode werden die Kandidaten in eine familien- oder dorfähnliche Gemeinschaft aufgenommen, in die sie sich integrieren müssen. In dieser Gemeinschaft, die weitestgehend autark vom Rest der Welt agiert, werden ihnen Aufgaben im Rahmen ihrer Fähigkeiten und Ausbildungen übertragen, die sie wiederum in die Gemeinschaft einbringen müssen. Die Gemeinschaft ist somit auf jeden einzelnen angewiesen, wie jeder einzelne auf die gesamte Gemeinschaft angewiesen ist. Psychologen sind rund um die Uhr mit den Kandidaten betraut und können jederzeit auf Sorgen und Problemstellungen eingehen. Sie fungieren dabei weniger als Therapeuten denn als Mediatoren.“

            „Ist diese offene Therapiemethode denn nicht auch gefährlich? Was ist mit der Gefahr von Gewalttaten innerhalb dieser Gemeinschaften?“, wollte Fox wissen.

            Skythe lächelte unverbindlich. „Die Gefahr von Gewalttaten bei dieser Methode ist nicht größer als draußen auf der Straße. Sehen Sie, Mister Fox, die „Di-Lauro“-Methode ist für schwere Gewalttäter wie Mörder, Totschläger und Vergewaltiger überhaupt nicht konzipiert, hier sind andere Therapien vorgesehen. Und Nurara ist von Natur aus nicht gewalttätiger als Sie und ich.“ Skythe warf einen aufmunternden Seitenblick zu der jungen, grünhaarigen Frau, der mit einem dankbaren Lächeln beantwortet wurde.

            „Danke, Doktor Skythe, keine weiteren Fragen“, sagte Fox und setzte sich wieder.

            Richter Callahan sagte daraufhin: „Auch ich danke Ihnen für Ihre Arbeit, Doktor Skythe. Ich werde Ihr Gutachten wohlwollend in mein Urteil aufnehmen.“ In diesem Moment öffnete sich die Seitentür und eine Justizbeamtin trat mit einem weißen Umschlag in den Gerichtssaal. Sie ging zum Richtertisch und wechselte flüsternd mit Callahan ein paar Worte. Der weißhaarige Mann nickte und die Beamtin ging weiter zu Staatsanwalt Fox, dem sie den Umschlag aushändigte. Dann verließ sie den Saal so schnell, wie sie ihn betreten hatte.Fox drehte den Umschlag in seinen Händen und sagte zu Callahan: „Mit Ihrer Erlaubnis, Sir …“

            „Nur zu, Mister Fox! Ich weiß ja schon was es ist.“

            Fox öffnete den Umschlag und zog ein zweiseitiges Schreiben heraus, auf dessen Kopf ein großes goldenes Wappen gedruckt war. Er überflog es kurz und reichte es an Jonathan weiter. „John, das ist die offizielle Vorladung von der airamischen Staatsanwaltschaft. Ihre Mandantin wird aufgefordert, sich zur Aussage als Kronzeugin in fünf Tagen auf Airam IV einzufinden.“

            Jonathans Augen wurden groß und Nurara wurde bleich. „In fünf Tagen?“, fragte er und schnappte nach Luft. „Das ist sehr kurzfristig. Wer organisiert die Passage?“

            „Das werde ich veranlassen“, antwortete Fox. „Alles Weitere besprechen wir im Anschluss.“ An Richter Callahan gewandt sagte er: „Ich bitte die Unterbrechung zu entschuldigen, Euer Ehren.“

            „Kein Problem, Mister Fox, ich denke, wir sind für heute sowieso fertig. Die Verhandlung ist für heute geschlossen. Die nächste Sitzung wird angesetzt für Donnerstag, den vierten Dezember um zehn Uhr. Ich erwarte dann Ihre Abschlussplädoyers, meine Herren.“

            Draußen vor dem Gerichtsgebäude suchte Nurara in den tiefen Taschen ihres Ledermantels nach Zigaretten. Seit der Vernehmung im Besprechungsraum hatte sie nicht mehr geraucht, jetzt hatte sie das unbändige Verlangen nach Nikotin. Die ersten Züge ließen ein Schwindelgefühl in ihr aufsteigen. Sie wandte sich an Katherine, die freundschaftlich ihr eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. „Kat, meinst du es wäre möglich, wenn ich heute Abend mal irgendwie raus könnte?“ In ihrem Haar und auf ihrem Mantel landeten kleine weiße Schneeflocken. Der Himmel hatte sich zugezogen und wieder einmal seine Schleusen geöffnet.

            „Nun, wir werden kaum eine Erlaubnis bekommen, das Präsidium zu verlassen, aber in Anbetracht der Umstände kann ich es auf meine Kappe nehmen, wenn wir heute Abend noch einmal in die siebzigste fahren und dort was essen, okay?“

            Nuraras Züge hellten sich sofort etwas auf. „Danke, Kat. Mir fällt nämlich so langsam die Decke auf den Kopf.“

            „Kommen Sie und Sam mit, Jonathan?“, fragte Katherine den Anwalt.

            „Bedaure, Sam und ich sind heute Abend bei einem Vortrag“, gab dieser zurück.

            Dorothea Kesselring hatte sich schon längst verabschiedet, da sie unmittelbar im Anschluss an die heutige Verhandlung abreiste. Also blieb nur noch Joan übrig. Nurara und Katherine sahen sie fragend an. Die hob abwehrend die Hände und sagte: „Tut mir leid Mädels, aber ich habe heute Abend ein Date mit dem tollsten, rothaarigen Typen, den ich kenne.“
            Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

            Mission accomplished.

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              #81
              Ein längerer Abschnitt und das Ende von Kapitel 10 - Nurara sagt gegen Kuolun aus.



              Oberstes Strafgericht von Airam, erster Senat, fünf Tage später

              Nurara saß seit nunmehr drei Stunden im Zeugenstand, unter Eid. Obwohl Richterin Sel und Staatsanwältin Acar den Eindruck machten, ihr weitestgehend wohlgesonnen zu sein, fühlte sie sich in ihrer derzeitigen Situation miserabel. Acar bombardierte sie mit Fragen, denen sie zwar wahrheitsgemäß antwortete, aber die Staatsanwältin bohrte immer tiefer und grub Ereignisse hervor, die Nurara längst verdrängt hatte. Immerhin hatte Acar genügend Fingerspitzengefühl, besonders unangenehme Fragen so zu stellen, dass Nurara nicht Gefahr lief, sich ungewollt zu belasten. Dafür belastete sie Kuolun schwer. Dennoch wünschte sich Nurara nichts sehnlicher, als dass dieser Tag endlich vorüberging. Aber den unangenehmsten Teil hatte Nurara noch vor sich: die Befragung durch die Verteidigung. Sie erinnerte sich daran, was Curtis ihr noch vor einigen Tagen eingeschärft hatte:

              „Kuoluns Verteidigung wird tief in Ihrer Vergangenheit buddeln. Man wird Sie mit Dreck bewerfen, Ihnen das Wort im Munde herumdrehen, Sie als unglaubwürdig hinstellen. Leisten Sie sich einen einzigen Fehler bei Ihrer Aussage als Kronzeugin, verlieren Sie Ihre gerade so mühsam wiederhergestellte Reputation – und damit die Chance auf die Freiheit, die Sie sich so wünschen. Sind Sie bereit dafür?“

              Seine Worte hallten donnernd in ihrem Kopf wider. Einem Moment lang verlor sie die Konzentration.
              „Haben Sie meine Frage verstanden?“, fragte Nese Acar. Die dunkelhaarige Frau mit den Sommersprossen um die Stupsnase blickte sie mit strengen grünen Augen an.

              Nurara schüttelte den Kopf. Nicht nur als Geste der Verneinung, sondern auch um ebendiesen für einem Moment wieder klar zu bekommen.
              „Sind Sie bereit dafür?“
              Nurara sah sich im Gerichtssaal um. Richterin Sel klopfte mit den Fingernägeln auf ihre massive Tischplatte. Zistavan Borksh war in seine Notizen vertieft, Katherine, die mit Jonathan in der ersten Reihe im Publikum saß, hatte die Ellenbogen auf die Knie und ihr Kinn auf die gefalteten Hände gestützt. Sie wirkte nervös, wohingegen Jonathan recht entspannt da saß, immer wieder nickte er Nurara aufmunternd zu um ihr zu zeigen, dass sie ihre Sache gut machte. Nurara wagte einen Blick auf Kuolun. Er starrte sie mit unbewegter, bösartiger Miene und einem schmallippigen Grinsen an. In diesem Moment überkam Nurara ein Gefühl des Ekels.
              „Sind Sie bereit dafür?“

              Sie musste sich schwer zusammenreißen, sich in diesem Moment nicht zu übergeben. Wieder fragte Acar, diesmal noch etwas eindringlicher: „Miss Nurara, haben Sie meine Frage verstanden? Soll ich sie wiederholen?“

              Nuraras Kehle war trocken, sie musste sich räuspern. „J-ja bitte“, stotterte sie.

              „Hat der Angeklagte Ihnen den Auftrag gegeben, einen Sprengsatz an Bord des Frachters Proliant zu deponieren und das Schiff mitsamt der bewusstlosen Besatzung zu zerstören?“

              Nurara, die durch die nervlich belastende Vernehmung in sich zusammen gesunken war, setzte sich aufrecht hin und antwortete: „Ja, das hat er. Ich sollte die Bombe mit einem Zeitzünder versehen und dann schnellstmöglich verschwinden.“

              Acar ließ nicht locker: „Haben Sie den Auftrag entsprechend dieser Weisung ausgeführt?“

              Nurara senkte den Blick und sagte leise: „Ja, das habe ich.“ Raunen im Saal.

              „Konnten Sie verfolgen, ob das Schiff explodiert ist?“

              „Nein, dazu blieb keine Zeit. Ich musste schnell verschwinden, bevor die Besatzung wieder zu sich kam und entsprechend schnell war ich auch aus dem System raus.“

              „Dann wissen Sie auch nicht, ob die Proliant explodiert ist?“

              „Doch, das weiß ich.“ Nurara machte eine kurze Pause, in der Acar sie erwartungsvoll mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. „Die Proliant ist nicht explodiert.“

              „Was macht Sie so sicher, Miss Nurara?“

              Nurara gestattete sich ein feines Lächeln. „Ich hatte den Sprengsatz manipuliert.“

              Acar wandte sich an Richterin Sel. „Keine weiteren Fragen an die Zeugin!“

              Richterin Sel drehte ihren Kopf zum Tisch der Verteidigung. „Ihre Zeugin, Mister Borksh.“

              Borksh erhob sich von seinem Stuhl und ging direkt auf den Zeugenstand zu. Bevor er seine Aufmerksamkeit auf Nurara lenkte, sah er die Richterin an und sagte: „Euer Ehren, ich werde nur wenige Fragen an die hier anwesende Zeugin richten, jedoch bittet mein Mandant, im Anschluss selbst einige Fragen der Zeugin stellen zu dürfen.“

              In diesem Moment stieg der Würgereflex in Nurara auf, schlagartig verlor sie jedwede Farbe aus ihrem dezent geschminkten Gesicht. Katherine erfasste die Situation sofort und sprang von der Zuschauerbank auf. „Hohes Gericht, ich bin die psychologische Betreuerin der Zeugin. Ich bitte Sie, die Verhandlung für einen Moment zu unterbrechen, damit ich meine Patientin auf die Vernehmung vorbereiten kann. Eine Befragung durch den Angeklagten selbst war nicht vorgesehen und meine Patientin ist in Anbetracht ihrer eigenen Lage nicht darauf vorbereitet.“

              Borksh hob die protestierend die Hand. „Ich erhebe Einspruch! Die Zeugin könnte beeinflusst werden.“

              Sel blickte abwechselnd zu beiden Seiten ihres Richterkollegiums. Alle Richter schüttelten ablehnend die Köpfe und meinten damit Borksh. Sel nahm die einstimmige Entscheidung der anderen Richter auf und antwortete: „Abgelehnt, die Zeugin macht auf mich ohnehin den Eindruck, als könne sie eine Pause gebrauchen. Ich ebenso. Die Verhandlung wird für fünfzehn Minuten unterbrochen!“

              Sofort gingen Katherine und Jonathan nach vorne und nahmen Nurara in Empfang. Auf dem Weg nach draußen schirmten sie sie so gut es ging vor Kuoluns Blicken ab und nahmen den direkten Weg zur Damentoilette. Vor der Tür legte Katherine Jonathan abwehrend eine Hand auf die Brust. „Tut mir Leid, Mr. McCabe, aber das mache ich erst mal alleine, ok?“
              Wortlos nickte Jonathan und ließ die beiden Frauen entschwinden.
              In der Toilette blickte Nurara in einen Spiegel. Sie sah hundeelend aus und so fühlte sie sich auch. Katherine stand hinter ihr und legte Nurara fürsorglich eine Hand auf die Schulter. „Ich … ich kann das nicht, Kat“, sagte sie. „Ich kann ihm einfach nicht mehr in die Augen sehen. Ich sehe in ihm nur noch das personifizierte Böse. Mir wird übel, wenn ich ihn nur anschaue.“

              Katherine streichelte Nurara die Wange. „Ich weiß, Nurara, ich sehe es dir an. Aber da musst du jetzt durch. Es geht nicht anders! Geh da raus und haue Kuolun und Borksh die Wahrheit um die Ohren. Tu es für Sam! Tu es für deine Freiheit! Du weißt, was davon abhängt. Drei Stunden hast du super durchgehalten, du schaffst das, glaub an dich! Ich glaube an dich! Jonathan glaubt an dich, Sam ebenso! Du bist eine verdammt starke Frau!“

              Nuraras Augen füllten sich mit Tränen. Sie schniefte. „Mir ist schlecht, Kat.“

              „Dagegen habe ich was“, antwortete Katherine und griff in eine Tasche ihrer Uniformjacke. Sie fischte ein kleines gelbes Röhrchen hervor und nahm Nuraras Hand. „Hier, draufbeißen, kauen und runterschlucken.“ Zwei weiße Pillen landeten in Nuraras zitternder Handfläche. „Schmecken nach Zitrone …“ Nurara warf sich die zwei Pillen in den Mund, kaute sie und schluckte sie herunter. „Steht er auf immer noch auf dich?“, fragte Katherine mit einem schiefen Grinsen und betrachtete Nurara von oben bis unten. Sie trug ein recht kurzes graues Stoffkleid, schwarze Strümpfe und hohe Stiefel, die knapp über ihrem Knie endeten. Eigentlich war Nurara viel zu sexy für diesen Tag angezogen, aber es war einfach ihre Art, sich zu kleiden.

              „Ich denke schon“, antwortete sie nach einem kurzen Zögern.

              „Dann schlag ihn mit den Waffen, gegen die er sich sowieso nicht wehren kann. Bring ihn aus dem Konzept“, sagte Katherine kämpferisch und ballte dabei eine Faust. „Ich wette, damit rechnet er nicht. Du warst die letzten drei Stunden ein kleines Lämmchen auf dem Weg zur Schlachtbank, lass jetzt die Raubkatze raus!“ Katherine packte Nurara sanft im Nacken und drehte sie zur Tür. „Los! Und vergiss nicht, Jonathan und ich sind bei dir!“

              Nurara betrat erhobenen Hauptes, Hand in Hand mit Katherine, wieder den Gerichtssaal. Als sie an Kuolun vorbeigingen, warf sie ihm einen abschätzigen Blick zu. In der kurzen Pause hatte Katherine natürlich nicht die Möglichkeit, tiefenpsychologisch auf Nurara einzuwirken, aber die zwei Pillen schienen ihre Aufgabe zu erfüllen. Nuraras Übelkeit war wie weggeblasen und Katherines eindringlicher Appell hatte Nuraras Kampfgeist geweckt. Eigentlich war es nicht einmal die Psychologin Katherine, die auf Nurara Einfluss hatte, es war die Freundin Katherine. Das war es, was Nurara für die schwarzhaarige Polizistin empfand – aufrichtige Freundschaft.
              Nachdem alle Anwesenden ihre Plätze eingenommen hatten und Richterin Sel die Verhandlung wieder eröffnet hatte, betrat Zistavan Borksh die Bühne. Sein Auftritt war nur kurz, seine Fragen waren eher belanglos und Nurara parierte sie souverän. Dann sagte Borksh: „Ich habe keine weiteren Fragen an die Zeugin. Nun bitte ich das Gericht, meinen Mandanten zu Wort kommen zu lassen.“

              Richterin Sel sah Kuolun streng an. „Doktor Kuolun, Sie haben das Wort und dürfen die Zeugin befragen. Aber ich warne Sie! Übertreiben Sie es nicht. Sollten Sie die Zeugin in irgendeiner Form einzuschüchtern versuchen, entziehe ich Ihnen sofort das Wort, verstanden?“

              Kuolun hatte sich erhoben und seinen dunkelblauen Maßanzug glatt gestrichen. Er machte eine galante Verbeugung zu Richterin Sel und sagte: „Voll und ganz, Euer Ehren. Ich werde ich ebenfalls kurz fassen und mich bemühen, die Zeugin nicht zu überfordern.“ In seinen Worten lagen blanker Hohn und bösester Sarkasmus. Er ging zum Zeugenstand und betrachtete Nurara einige Sekunden lang. Dann sagte er sanft: „Du siehst gut aus, Nurara.“ Sie schwieg und starrte Kuolun auf die Nasenwurzel. Ein Trick, bei dem es so aussah, als würde man sich in die Augen schauen. So konnte Nurara Kuoluns eindringlichen und lüsternen Blick standhalten. „Wie geht es dir, meine Schöne?“

              Nurara, die bis jetzt leicht nach vorn gebeugt auf dem Stuhl gesessen hatte, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und zog den Schaft ihres Stiefels ostentativ hoch. „Oh, bis eben ging es mir noch ziemlich gut, Vul. Aber in diesem Moment werde ich gerade ziemlich wütend.“ Nurara hatte immer noch die perfekt manikürten Hände an ihrem Bein und zog sie langsam und lasziv von ihrem Stiefelschaft aufwärts zu ihrem Knie. Kuolun folgte der Bewegung mit den Augen, lüstern, ließ sich aber nichts anmerken.

              „Warum bist du wütend, meine Schöne? Bin ich der Grund für deine Wut? Oder ist es bloß der Umstand, dass du hier auf diesem unbequemen Holzstuhl sitzen musst, statt auf einem weichen Sofa mit deinem neuen Liebhaber?“

              Nuraras Angst war wie weggeflogen, stattdessen machte sich blanker Hass in ihr breit. „Weißt du Vul, es ist mir scheißegal, woher du weißt, dass ich jemanden kennengelernt habe, der in schwierigen Zeiten wirklich zu mir steht, der mir offen sagt, dass er mich liebt und schätzt und zu mir hält, trotz alledem, was ich getan habe. Ja, ich habe viele schlimme Dinge getan. Ich habe es getan, weil du es von mir verlangt hast. Weil ich geglaubt habe, ich tue das richtige. Aber es war alles falsch! So falsch, wie der ganze Mensch, der gerade vor mir steht.“

              Kuolun gönnte sich ein leises Lachen. „Das war wirklich süß, Nurara. So kenne ich dich gar nicht. Eine völlig neue Seite, die ich an die kennenlerne. Ich möchte dich etwas fragen. Beantworte mir diese Fragen und ich bin fertig. Erinnerst du dich an die Nacht in New Jaipur?“

              Nurara erinnerte sich nur zu gut. „Ja, und?“, gab sie zickig zurück.

              „Sage doch bitte dem Gericht, wessen Idee es war, die indischen Juwelen zu stehlen?“

              „Das war meine Idee, Vul“, antwortete Nurara bestimmt. „Das habe ich aber auch schon gestanden.“

              „Es war auch deine Idee, unter deinem Brautkleid die Waffen zu verstecken.“

              „Dort habe ich nur dein Protonengewehr versteckt.“

              „Und deine Pistole im Blumengesteck …“

              Nurara zuckte die Schultern. Kuolun hob die Hände zu einer gebieterischen Geste und wandte sich an die Richterin. „Nurara hat an diesem Abend als erste die Waffe gezogen und auf die Standesbeamtin geschossen! Eiskalt hat sie sie niedergeschossen, nur um an die Juwelen zu kommen!“

              Nurara nickte und rief: „Ja, ich habe sie niedergeschossen, aber nicht getötet! DU hast die Wachen umgebracht!“

              Wie ein Wirbelwind drehte sich Kuolun um und drohte Nurara mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Du lügst doch, Nurara! Die Standesbeamtin war tot! Du hast ein zweites Mal auf sie geschossen, als sie schon am Boden lag! In den Kopf!“

              Nurara hob den Zeigefinger zu einer verneinenden Geste. „Nein, Vul, du hast nicht gesehen, dass ich neben ihr in den Boden geschossen habe, du hattest nur noch den Blick für den Tresor.“

              „Sie war tot!“ Kuoluns Stimme wurde lauter.

              „Nein, das war sie nicht! Ich hatte sie nur betäubt!“

              „Lügnerin! Du bist eine verdammte Lügnerin!“ Kuolun spuckte seine Worte förmlich in Nuraras Richtung.

              Sel schlug mit dem Hammer auf den Tisch. „Miss Nurara, ich erinnere Sie daran, dass Sie unter Eid stehen. „Haben Sie die Standesbeamtin erschossen?“

              Eine unheimliche Stille senkte sich über den Gerichtssaal. In dem Moment, als Nurara zu einer Antwort ansetzen wollte, sprach eine dünne Frauenstimme aus dem Publikum: „Nein, hat sie nicht!“ Eine kleine Frau indischer Herkunft hatte sich erhoben. „Nurara hat auf mich geschossen, das ist richtig. Aber der Strahl aus ihrer Pistole hatte mich nur gelähmt. Ich war bei vollem Bewusstsein.“

              Kuoluns Gesichtszüge entgleisten, er wurde kreidebleich. Sein Blick richtete sich auf Nurara und er sagte hasserfüllt: „Du mieses kleines Miststück! Du sagtest, dass es keine Zeugen gäbe!“

              Nurara gab ein abschätziges Schnaufen von sich. „Pah! Ich bin nur davon ausgegangen, dass wir diese Leute nie wieder sehen. Aber du konntest den Hals ja nie voll bekommen. Du wolltest immer mehr und mehr. Das wird dich jetzt den Kopf kosten. Ich wollte nie jemals jemanden töten.“

              Richterin Sel hatte genug. „Es reicht!“, rief sie. „Der Angeklagte setzt sich jetzt wieder auf seinen Platz.“ Sel machte eine kurze Pause. „Die Zeugin ist hiermit entlassen, verbleibt aber unter Eid. Ich möchte die Dame aus dem Publikum befragen. Kommen Sie bitte in den Zeugenstand.“

              Die zierliche Inderin, gekleidet in einen rot-blauen Sari aus edler Seide, trat nach vorne, während Nurara den Platz des Zeugenstandes verließ. Als sich die beiden Frauen auf dem Gang gegenüberstanden, blickte die Frau zu Nurara auf, sah ihr kurz in die Augen und schüttelte nur mitleidig den Kopf, dann ging sie weiter und setzte sich. Nurara nahm im Publikum, zwischen Katherine und Jonathan Platz. Das was jetzt ihr zu Ohren kommen sollte, hatte sie so gar nicht mehr in Erinnerung und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
              „… ja, nach jupiteranischem Recht gilt die Trauung mit dem Kuss zwischen den Brautleuten als vollzogen. Ich habe das bezeugt und beurkundet. Doktor Kuolun und Miss Nurara sind amtlich verheiratet.“ Naweeda Mahdesh, die Standesbeamtin aus New Jaipur sah Richterin Sel treuherzig an.

              „Was?“, entfuhr es Nurara und Katherine fast gleichzeitig. Die schwarzhaarige Frau sah die grünhaarige mit großen, erschrockenen Augen an. Vom Tisch der Verteidigung erscholl ein gackerndes, bösartiges Lachen.

              Kuolun drehte sich zu Nurara um, mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht. „Na, meine Schöne?“, sagte er mit schmieriger Stimme. „Daran hast du bei deinem Plan nicht gedacht, wie? Wir sind aneinander gebunden, für ein Leben lang, hahaha!“

              Nurara spürte, wie blanker Zorn in ihr aufstieg und ihr im Gesicht heiß wurde. Am liebsten hätte sie Kuolun ins Gesicht gespuckt, aber Jonathan legte ihr besänftigend eine Hand aufs Knie. „Regen Sie sich ab, Nurara. Damit diese Heiratsurkunde im Rest des Sonnensystems und darüber hinaus Gültigkeit hat, sind noch einige weitere Formalitäten zu leisten. So einfach ist das nicht. Der Jupitermond Sinope hat eine eigene Rechtsprechung, die nicht überall Anerkennung findet. Sie kommen vom Mars, Kuolun ebenfalls. Sie brauchen eine marsianische Beglaubigung, sonst ist diese Heiratsurkunde ungültig und völlig wertlos, auch hier auf Airam“, flüsterte er, während Richterin Sel Kuolun lautstark zur Ordnung rief.

              „Miss Mahdesh, gibt es eine Beglaubigung der sinopischen Heiratsurkunde von einer amtlich anerkannten Standesbehörde außerhalb des Gravitationsbereichs des Planeten Jupiter?“ fragte Sel streng und fordernd.

              Naweeda Mahdesh schüttelte den Kopf. „Nicht dass es mir bekannt wäre.“

              Sel seufzte. „Dann müssen wir das hier und jetzt nachholen. Der Angeklagte und die Zeugin Nurara treten bitte nach vorne, vor den Richtertisch. Miss Mahdesh, händigen Sie mir bitte die Heiratsurkunde aus.“

              Nurara wurde abermals schlecht. Mit zitternden Knien stand sie auf und ging langsam die paar Schritte nach vorne. Wollte Richterin Sel sie jetzt zwangsverheiraten? Sie baute sich so selbstbewusst wie möglich neben Kuolun auf, mit zwei Schritten Abstand zwischen ihnen. Andra Sel sah beide eindringlich an. Dann las sie einen Text aus einem airamischen Gesetzbuch vor und fragte Kuolun: „Doktor Kuolun, bestätigen Sie und bekunden Sie erneut vor diesem Gericht, dass Sie die hier anwesende Nurara ehelichen wollen, so antworten Sie mit ‚Ja‘.“

              Kuolun grinste breit und antwortete: „Ja, das will ich!“

              Sel richtete die gleiche Frage an Nurara: „Miss Nurara, bestätigen Sie und bekunden Sie erneut vor diesem Gericht, dass Sie den hier anwesenden Doktor Vul Kuolun ehelichen wollen, so antworten Sie mit ‚Ja‘.“

              Nurara war kurz davor, vor Wut zu platzen. Sie holte tief Luft, ballte die Fäuste und ließ ihrer Empörung freien Lauf. „Nein, auf gar keinen Fall! Niemals werde ich diesen Kerl heiraten!“, sagte sie laut und selbstbewusst und bedachte Kuolun mit einem vernichtenden Blick.

              Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal. „Ruhe bitte!“, rief Richterin Sel. „Damit ergeht vor dieser Kammer folgender Beschluss: die Ehe zwischen Vul Kuolun und Nurara wird für ungültig erklärt. Dieser Beschluss ist rechtskräftig. Sie können sich wieder setzen.“ Sel konnte sich nur schwer ein kleines Schmunzeln verkneifen.





              Auf dem Rückweg zum Raumhafen von Airam IV



              Im Polizeitransporter war es drückend heiß, der einheimische Fahrer hatte sich mehrfach entschuldigt, dass die Klimaanlage defekt war. Noch immer war Nurara sichtlich geschockt über den Umstand, mit Vul Kuolun verheiratet gewesen zu sein. „Wissen Sie, John“, sagte sie zu ihrem Anwalt, „als kleines Mädchen habe ich wie jedes andere davon geträumt, irgendwann meinen Traumprinzen zu treffen, ihn zu heiraten und Kinder zu bekommen. In meinem ersten Jahr auf der Universität, als Kuolun mir über den Weg lief, fand ich ihn toll. Ja, er war mein Traumprinz, ich hatte mir ausgemalt, mein Leben mit ihm zu verbringen.“ Sie sah Jonathan und Katherine an, die ihr aufmunternd zunickten, fortzufahren. „Aber je länger ich bei ihm blieb, desto mehr stieß er mich ab. Immerzu diese Gewalt gegen andere, seine Habgier und sein Ego.“ Sie verzog ihr Gesicht zu einer lächerlichen Grimasse. „Sein Ego ist das allerschlimmste.“

              „Warum hast du ihn nicht schon früher verlassen?“, wollte Katherine wissen.

              Nurara zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung, so abstoßend wie ich ihn damals schon fand, so faszinierend wirkte er dennoch auf mich. Vergleichbar mit einem schlimmen Unfall. Man will es nicht, dennoch schaut man immer wieder hin. Ich finde ihn heute nicht einmal mehr besonders gut aussehend. Und außerdem: wo hätte ich hingehen sollen? Nach Hause auf den Mars, zu meinen Eltern? Das wäre die Hölle für mich gewesen. Dann habe ich lieber das kleinere Übel ertragen.“

              „Und ihr hattet ja auch ausschweifenden …“ Katherine biss sich auf die Zunge und beendete den Satz nicht, was Nurara breit grinsen ließ.

              „… Sex wolltest du sagen? Ja, das stimmt. Guten, wilden Sex sogar. Aber …“ Nurara blickte zu Jonathan hinüber, „er ist nicht so einfühlsam wie Sam. Er hat meine Wünsche zum großen Teil einfach ignoriert und ist selten auf mich eingegangen. Eigentlich hat sich Kuolun nur an mir bedient.“

              Jonathan verzog säuerlich das Gesicht. „Und trotzdem haben Sie sich ihm immer wieder hingegeben …“

              „Ja, ziemlich bescheuert, nicht wahr?“ Nurara versuchte, ein entschuldigendes Lächeln in die Runde zu werfen, worauf sie einen skeptischen Blick von Jonathan erntete.

              „Bescheuert ist, gelinde gesagt, noch ein recht schwacher Begriff, meine Liebe. Ich kenne Sie jetzt seit etwas über zwei Monaten. Ich habe Sie von Anfang an für eine hochintelligente Frau gehalten, die nichts dem Zufall überlässt, aber was Ihre zwischenmenschliche Beziehung zu Kuolun betrifft, es tut mir leid, ich werde einfach nicht schlau aus Ihnen.“ Jonathan versuchte, mit diesem Satz so diplomatisch wie möglich zu bleiben und gab ein resigniertes Seufzen von sich.

              „Und was Sam angeht, vertrauen Sie mir anscheinend immer noch nicht, oder?“ Nurara lächelte charmant, zog aber dann ihre saphirblauen Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

              Jonathan hob abwehrend die Hände. „Sam ist erwachsen. Er muss wissen, was er tut. Und ich sagte Ihnen bereits, dass Sie Ihre Chance nutzen müssen. Ich habe meine Vorbehalte, was Sie und Sam angeht, abgelegt.“

              Nurara senkte kurz demütig den Blick, bevor sie Jonathan direkt in die Augen sah. „Und dennoch zweifeln Sie, ich spüre das!“

              Jonathan legte den Kopf schief und lächelte Nurara mit väterlicher Güte an. „Das ist mein Job als Vater, meine Liebe. Wenn Sie mal eigene Kinder haben, werden Sie von selbst drauf kommen.“
              Noch bevor Nurara darauf antworten konnte, hielt der Gleiter vor dem auf dem Flugfeld geparkten Polizeikreuzer an, der die drei wieder zur Erde zurückbringen sollte. Der Fahrer öffnete die Schiebetür und ließ gleißendes Sonnenlicht und schwüle Hitze in den Innenraum hinein.
              Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

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                #82
                Eine überraschende Wendung für Nurara

                Kapitel 11

                Irgendwo in der Prärie, US-Bundesstaat Arizona, Erde

                Peyo öffnete die leergeschossene Trommel seines Revolvers und ließ sechs rauchende Patronenhülsen klimpernd auf den staubigen Sandboden fallen. Er hatte nicht, wie geplant, seinen Revolver versteckt, sondern ihn mitgenommen. Er hatte sich in dem kleinen Örtchen East Fork, Arizona, niedergelassen. Hier besaßen noch viele Anwohner – illegalerweise - alte Schusswaffen, mit denen sie regelmäßig Schießübungen in aller Öffentlichkeit veranstalteten und die Behörden scherten sich nicht viel darum, die Gefahr von Klapperschlangen gebissen zu werden war um Längen größer. Daher tolerierte die Polizei den Besitz – solange niemand zu Schaden kam. Peyo fiel also nicht weiter auf, wenn er täglich auf dem für kleines Geld angemietetem Grundstück herumballerte. Auch der örtliche Kleinwarenhändler stellte keine Fragen, wenn Peyo einmal die Woche beim Einkaufen um zwei Päckchen Munition des Kalibers .44 bat. Die Patronen waren billig, oft gefragt und reichlich verfügbar.
                Peyo lud gerade nach und wollte wieder auf das großformatige Bild mit dem verhassten Gesicht schießen, als sich sein Datapad mit einem leisen Piepen meldete. Peyo steckte den Revolver in seinen Hosenbund und nahm den kleinen Computer in die Hand. Er konnte sehen, wie sich der rote Punkt über den Stadtplan von New York City bewegte. Noch heute Morgen meldete das Programm „Außer Reichweite“, und das schon seit ein paar Tagen.
                „Soso, du bist wieder da, willkommen zu Hause. Bald sehen wir uns wieder!“, flüsterte er, legte den Computer sachte beiseite und zog den Revolver mit einer schnellen Bewegung. Sechs Schüsse peitschten durch die Mittagsluft, dann klimperten wieder sechs heiße und rauchende Hülsen auf dem roten Sandboden.



                New York State Supreme Courthouse, 4.Dezember, fünfter und letzter Prozesstag



                Richter Callahan hatte soeben die Verhandlung geöffnet und wollte Staatsanwalt Fox das Wort für sein Abschlussplädoyer erteilen, als sich die Haupttür zum Gerichtssaal öffnete und eine hochgewachsene, äußerst attraktive Frau mittleren Alters eintrat. Sie hatte langes, wallendes dunkelgrünes Haar, das mit silbernen Strähnen durchzogen war, ein fein geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen und stahlblauen Augen und eine auffallende Ähnlichkeit mit der Frau, um die es hier in diesem Prozess ging. Mit langen, energischen Schritten bewegte sie sich durchaus würdevoll durch den bis auf den letzten Platz besetzten Gerichtssaal. Richter Callahan nahm die Störung mit einem grimmigen Blick zur Kenntnis, wies die Frau jedoch nicht zurecht, da sie sich freundlich lächelnd und zügig auf den letzten freien Platz hinter dem Tisch der Staatsanwaltschaft setzte.
                Nurara wagte neugierig einen Blick auf den Neuankömmling und erschrak, als sich die Blicke der beiden Frauen trafen. „Mutter!“, keuchte sie leise. „Jonathan, das ist meine Mutter! Was will sie denn hier?“ Die Frau schenkte Nurara ein kleines Lächeln und nickte ihr fast unmerklich zu. Nurara war sich in diesem Moment nicht sicher, ob sie vor Freude oder vor Wut weinen sollte, auf jeden Fall trübte sich ihr Blickfeld für einen Moment durch die Tränen, die ihr in die Augen stiegen, ein. Sie hatte kaum ein Gehör für die Ausführungen des Staatsanwalts, der noch einmal mit penibler Genauigkeit sämtliche Straftaten Nuraras wiederholte. Immer wieder sah sie sich nach ihrer Mutter um, die ihr immer wieder aufmunternd zulächelte. Nach etwa zehn Minuten kam Ed Fox zum Ende seines Plädoyers.

                „Da die Angeklagte geständig ist, die psychologischen Gutachten einen positiven Trend erkennen lassen und sie den mutmaßlichen Schwerverbrecher Vul Kuolun als Kronzeugin schwer belastet hat, fordert die Staatsanwaltschaft eine Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren. Eine erstmalige Begutachtung durch einen amtlich bestellten Psychologen sollte nicht vor Ablauf des sechsten Jahres stattfinden. Vielen Dank!“

                Nurara sah Jonathan mit entgeisterten großen Augen an. „Zwölf Jahre?“ flüsterte sie. „Ich dachte, Sie wären sich einig?“

                Jonathan neigte seinen Kopf dicht zu seiner Mandantin und flüsterte ebenfalls: „Einig waren wir uns beim Urteil nicht wirklich, aber er ist uns schon schwer entgegengekommen. Eigentlich wollte er fünfundzwanzig Jahre bis Lebenslänglich fordern. Lassen Sie mich jetzt mal machen.“

                „Die Verteidigung kann jetzt ihr Plädoyer halten. Bitte, Mister McCabe“, rief Callahan Jonathan auf.

                Dieser räusperte sich und begann: „Vielen Dank, Euer Ehren. Hohes Gericht, Herr Staatsanwalt, meistens beginnt die Verteidigung mit den Worten: ‚Der Mandant oder die Mandantin hatte eine schwere Kindheit‘. Eine schwere Kindheit hatte die Angeklagte nur, wenn man die äußeren Umstände genauestens betrachtet. Nurara stammt aus einem wohlhabenden Elternhaus, ist hochgebildet, hat Manieren und einen feinen Sinn für Humor. Ich, als ihr Verteidiger, wie auch ihre behandelnde Psychologin, die leider heute nicht anwesende Katherine Ballard, sind einhellig der Meinung, dass Nurara absolut keine schwere Kindheit hatte. Ihre Eltern haben sie ernährt, gekleidet, ausgebildet und behütet. Aber sie haben auch Forderungen an ihre Tochter gestellt, die in unterschiedlichen Schattierungen alle Eltern an ihre Kinder stellen. Das ist legitim und seit Anbeginn der Menschheit so. Was aber das Verhältnis zwischen Nurara und ihren Eltern so getrübt hatte, war der Umstand, dass Nurara weniger Freiheiten hatte als ihre Altersgenossen. Nurara wurde mit der Zeit immer rebellischer und aufsässiger und versuchte, ihre Freiheiten und ihr Recht durchzusetzen. Damit kam es irgendwann zum Bruch zwischen Eltern und Tochter und Nurara ging ihren eigenen Weg. Nach den Jahren des im goldenen Käfig Eingesperrtseins genoss die junge und unerfahrene Nurara die neue Freiheit an der marsianischen Universität. Dort lernte sie Vul Kuolun kennen, ipse diabolus. Kuolun, älter und reifer als Nurara, die gerade dem Teenageralter entwachsen war, nutzte die Unerfahrenheit meiner Mandantin über Jahre schamlos aus. Als Nurara älter wurde, hatte sich die Kriminalität für sie schon in eine sprichwörtliche Normalität gewandelt. Aus der Spirale der Kriminalität zu entfliehen war Nurara ohne fremde Hilfe nun nicht mehr möglich. Aber woher sollte sie diese Hilfe bekommen? Wer konnte ihr zur Seite stehen? Die Verbindungen zu ihrer Heimat und ihrer Familie waren abgebrochen und verloren geglaubt. Erst kürzlich erfuhr ich, dass Nuraras Vater seine Tochter verstoßen hat. Aber es gibt Menschen, die an Nurara glauben, die davon überzeugt sind, dass sie wieder einen Platz in der Gesellschaft findet. Dazu zähle ich mich selbst, mein Sohn Samuel, Major Katherine Ballard, Lieutenant Joan Landor, Marshall Garnie und nicht zu vergessen, der Initiator des Resozialisierungsvorhabens, Curtis Newton, bekannt als Captain Future. Und heute ist noch jemand anwesend, der Nurara gerne wieder in die Arme schließen möchte – Emelda, Nuraras Mutter.“
                Jonathan sah in Emeldas Richtung, legte die Hände flach zusammen und machte eine kleine Verbeugung als Geste des Dankes, dann sprach er weiter. „Nurara ist schuldig im Sinne der Anklage, sie hat sich schuldig bekannt und wir ziehen diesen Fakt nicht in Zweifel. Und Nurara bereut ihre Taten, sie kann sie nicht ungeschehen machen, aber sie sieht eine Zukunft für sich, wenn sie die Hilfe bekommt, aus dem Sumpf des Verbrechens herauszukommen. Es ist unser aller Aufgabe, ihr diese Hilfe zu gewähren.“ Jonathan nahm einen Schluck Wasser. „Die Verteidigung beantragt, die Angeklagte in den Punkten der Körperverletzung mit Todesfolge an Professor Cash und der Kindesentführung freizusprechen und in den übrigen Punkten, in denen sich meine Mandantin für schuldig bekannt hat, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren auf Bewährung zu verurteilen. Weiterhin beantragen wir, nach einer erfolgreichen Resozialisierungsmaßnahme, der Angeklagten eine Begnadigung in Aussicht zu stellen. Vielen Dank!“

                Jonathan setzte sich und atmete tief durch. Richter Callahan sah über den Rand seiner Brille hinweg zu Nurara. „Danke, Mister McCabe. Miss Nurara, als Angeklagte in diesem Prozess haben Sie das letzte Wort.“

                Nurara erhob sich und trocknete ihre feuchten Hände an ihrem Rock. Sie sah zu ihrer Mutter hinüber, die ihr ein warmes und aufrichtiges Lächeln schenkte. Nuraras Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Prozess sollte heute enden, das Urteil heute Nachmittag fallen. Sie sah sich um und suchte Sam, er wollte direkt nach seinem Verhandlungstermin erscheinen. Er war nicht da, aber sie wusste, dass er in Gedanken bei ihr war. Plötzlich öffnete sich leise die Tür und Joan, Katherine – und Sam traten ein. Da es keine freien Sitzplätze mehr gab, blieben die drei leise an der rückwärtigen Wand stehen. Sam nickte ihr aufmunternd und lächelnd zu. Nurara wandte sich wieder in Richtung Callahan und senkte reumütig den Blick. "Sir, es fällt mir schwer, unter dieser erdrückenden Last die richtigen Worte zu finden, ohne erneut jemanden zu verletzen oder alte Wunden aufzureißen. Das, was ich getan habe, war falsch und ich bereue jede einzelne Tat. Ich kann nur alle Beteiligten und Betroffenen vielmals um Entschuldigung bitten und darauf hoffen, dass Sie, Sir, ein gerechtes Urteil finden. Wie das Urteil auch immer ausfällt, ich werde es annehmen.“ Sie drehte sich zu Emelda um, mit Tränen in den Augen. Nuraras Stimme stockte, als sie sagte: „Mama, es tut mir so leid, es hätte nie so weit kommen dürfen. Ich hoffe, du verzeihst mir!“

                Emelda war aufgestanden und zu ihrer Tochter gegangen, noch während Nurara sprach. Sie nahm Nurara in den Arm und drückte sie fest an sich. „Nuri, ich habe dich so vermisst, all die Jahre. Es tut mir leid, dass ich keine bessere Mutter für dich war. Auch für mich gibt es Dinge, die ich so gerne ungeschehen machen möchte. Ich fühle mich nicht weniger schuldig. Kannst du mir vergeben?“

                „Ja, Mama“, flüsterte sie so leise, dass es nur Emelda hören konnte.

                Richter Callahan klopfte mit seinem Hammer auf den Tisch. „Möchte die Angeklagte noch etwas sagen?“
                Nurara schüttelte weinend den Kopf.
                „Dann ist die Verhandlung bis zur Urteilsverkündung um 16 Uhr unterbrochen.“

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                  #83
                  Der Urteilsspruch


                  In der Pause saßen Nurara und Emelda unter der diskreten Aufsicht eines Beamten in der Kantine des Gerichts. Nurara hatte um einen Moment der Zweisamkeit mit ihrer Mutter gebeten, um sich mit ihr zu unterhalten. Die anderen saßen einige Tische entfernt und konnten beobachten, wie Nurara und Emelda abwechselnd lachten, weinten und sich immer wieder umarmten. Von Jonathan erfuhren alle, dass Emelda im Anschluss an die Urteilsverkündung wieder zum Mars abreisen musste, um ihren Mann zu pflegen, der kürzlich schwer erkrankt war und im Sterben lag. Es handelte sich jedoch nicht um Nuraras Vater sondern um Emeldas zweiten Mann, sie hatte sich einige Jahre, nachdem Nurara mit Kuolun den Weltraum unsicher machte, von Nuraras Vater scheiden lassen.

                  Punkt sechzehn Uhr schlossen sich die Türen zum Gerichtssaal. Nuraras neue Freunde wie auch ihre Mutter hatten sich die erste Reihe direkt hinter dem Tisch der Verteidigung gesichert und warteten voller Spannung auf das Urteil.
                  Richter Callahan betrat den Gerichtssaal. „Bitte erheben Sie sich!“, rief er mit seiner kräftigen Bassstimme. Er öffnete eine Plastikmappe und las daraus vor. „Im Namen des Volkes des Staates New York, des Sonnensystems und der Galaktischen Föderation ergeht folgendes Urteil: die Angeklagte Nurara wird der Piraterie in fünf Fällen für schuldig befunden, ebenso der Gefangenenbefreiung, des schweren Raubes sowie des Raumschiffdiebstahles in vier Fällen. In den Anklagepunkten Kindesentführung und der schweren Körperverletzung mit Todesfolge wird die Angeklagte freigesprochen. Der Anklagepunkt Piraterie, Fall sechs, Frachter Yashibo Maru wird aus Mangel an Beweisen fallengelassen. Ich verurteile die Angeklagte somit zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren auf Bewährung. Die Bewährung wird für einen Zeitraum von drei Jahren ab dem Tag der erfolgreichen Entlassung aus einer Resozialisierungsmaßnahme festgelegt. Die beantragte Resozialisierungsmaßnahme im „Ettore DiLauro“-Institut auf der Insel Baltrum wird hiermit genehmigt und ist wie geplant am 1. Januar 2201 anzutreten. Kommt die Angeklagte schuldhaft diesem Termin nicht nach, verfällt die Bewährung und die Haftstrafe ist anzutreten. Bis zum Antritt der Maßnahme wird die Angeklagte gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt. Die Parteien können gegen dieses Urteil bis zum 15. Dezember Revision einreichen. Möchten die Herren schon jetzt eine Verzichtserklärung abgeben?“

                  Staatsanwalt Fox antwortete zuerst. „Die Staatsanwaltschaft verzichtet hiermit.“

                  „Die Verteidigung verzichtet ebenfalls!“, rief Jonathan schnell hinterher.

                  „Gut, damit ist dieses Urteil rechtskräftig“, nickte Callahan und sah Nurara fest in die Augen. „Nurara, Sie sind frei! Ich wünsche Ihnen alles erdenklich Gute und viel Erfolg in der Maßnahme. Die Urteilsbegründung geht den Parteien auf elektronischem Wege zu. Ihnen allen ein gesegnetes Weihnachtsfest. Die Verhandlung ist geschlossen!“ Callahan schlug dreimal mit dem Hammer auf den Richtertisch und verließ den Gerichtssaal.

                  Ein kurzer Moment der Ruhe zog durch den großen Raum, dann sprangen sie auf, mit Jubelschreien und Umarmungen. Der Teil des Publikums, der zu Nurara gehalten hatte, klatschte Beifall, während der andere Teil murrend und teilweise schimpfend den Saal verließ. Die Presse drängte sich nach vorne und ein Blitzlichtgewitter ergoss sich über Nurara und ihren Anwalt, der alle Mühe hatte, die Presseleute auf Distanz zu halten.
                  Als Nurara und ihre Freunde die Treppen des Gerichtsgebäudes herab gingen, wurden sie bereits von Curtis und Garnie erwartet. Nurara stürmte los und fiel beiden Männern um den Hals. „Danke, danke Ihnen beiden. Ich weiß gar nicht, wie sehr ich Ihnen danken soll.“

                  Curtis grinste. „Das heißt, Sie wurden freigesprochen?“

                  Jonathan schüttelte den Kopf. „Nicht ganz, Captain. Wir konnten eine relativ kurze Bewährungsstrafe erwirken. Darüber hinaus wurde Nurara gegen eine nicht unerhebliche Kaution auf freien Fuß gesetzt, die …“, er warf einen schrägen Blick auf seinen breit grinsenden Sohn, „Sam bereits hinterlegt hat.“

                  Sam riss erschrocken die Augen auf. „Habe ich das, Dad?“

                  „Ich ziehe es dir vom Taschengeld ab“, gab Jonathan trocken zurück, was zu einem gewaltigen Heiterkeitsausbruch aller Anwesenden führte.

                  Sam legte einen Arm um Nuraras Hüfte und fragte sie: „Was machen wir mit dem angebrochenen Tag, mein Schatz?“

                  Nurara wog den Kopf hin und her und antwortete: „Ich möchte gerne shoppen gehen und etwas essen. Und zwar sofort!“ In den letzten Satz legte sie einen gespielten Kommandoton.

                  Garnie hob mahnend die Hand. „Miss Nurara, eine Sache wäre da noch.“

                  „Ja, Sir?“

                  „Ihre Untersuchungshaft ist ab sofort aufgehoben. Ab morgen müssten Sie für das Appartement Miete bezahlen.“

                  Bevor Nurara zu einer Antwort ansetzen konnte, ergriff Sam das Wort. „Nurara wohnt ab sofort bei mir, wir lassen ihre Sachen heute noch abholen.“

                  Nurara sah Sam mit zusammengekniffenen Augen an. „So, so, ich wohne also ab sofort bei dir. Werde ich auch gefragt?“

                  „Nein, warum?“, gab Sam mit unschuldiger Miene zurück.

                  „Weil ich dich gerne gefragt hätte, ob ich bei dir wohnen kann. Aber du …“

                  „... kannst Gedanken lesen“, beendete Katherine den Satz lachend.

                  „Eben!“, rief Sam und öffnete die Beifahrertür seines Mustangs. „Und ich möchte dir ab sofort jeden Wunsch von den Augen ablesen.“ Er machte eine einladende Geste und forderte Nurara auf, einzusteigen. Nurara verabschiedete sich mit herzlichen Umarmungen von allen und stieg in Sam´s schwarzen Sportgleiter ein. Sam ließ das Triebwerk des teuren und edlen Sportcoupés aufbrüllen und raste, eine dicke Schneewolke hinter sich lassend, mit der Frau, die er liebte, davon.

                  Joan und Katherine sahen sich sentimental an. „Liebe ist so wunderschön“, seufzte Katherine.

                  Joan grinste und warf einen Blick auf Curtis, der sich mit Jonathan und Garnie unterhielt. „Ja, absolut. Und ich glaube, du, Nurara und ich, wir haben es verdammt gut getroffen, oder?“


                  Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

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                    #84
                    Da ihr jetzt ein paar Tage Ruhe vor mir hattet, gibt's einen etwas längeren Abschnitt. Wir steigen ein bei Kapitel 12 (von 15) und biegen damit so langsam aber sicher in die Zielgerade ein.

                    Kapitel 12


                    Ostfriesische Nordseeküste, 1. Januar 2201

                    Baltrum, eine kleine Insel von knapp sechseinhalb Quadratkilometern Fläche, fünf Kilometer lang und an der breitesten Stelle knapp anderthalb Kilometer breit. Seit dem 14. Jahrhundert war die kleinste der sieben Ostfriesischen Inseln urkundlich erwähnt und ständig bewohnt. Seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zum ausgehenden 21. Jahrhundert lebte die Inselbevölkerung vom Tourismus, bis der Existenz der Insel im Jahre 2096 durch einen Jahrtausendsturm ein jähes Ende gesetzt wurde. Eine Woche lang wütete im Herbst dieses Jahres ein Orkan über der Nordsee, der die kleine Insel förmlich zur Sandbank reduzierte und unbewohnbar machte. Über zwanzig Jahre dauerte es, bis die Nordsee durch Strömung und Anlandungen Baltrum wieder freigab. 2139 gelang es, die Insel wieder zu befestigen und bewohnbar zu machen, bis 2182 die internationale „Ettore DiLauro“-Stiftung Grundstücke auf Baltrum erwarb und ein Institut zur Resozialisierung von Straftätern dort errichtete.

                    In angemessener Höhe steuerten Grag und Otho die Comet über die Insel in Richtung Festland. Zwar gab es ein kleines Landefeld auf Baltrum, welches jedoch Versorgungsgleitern vorbehalten war und der Comet nicht ausreichend Platz bot. Demzufolge war die Future-Crew gezwungen, den Fischerei- und Ausflugshafen des kleinen Küstenorts Nessmersiel anzusteuern, von wo es eine regelmäßige Fährverbindung zur Insel gab. Direkt neben dem Fähranleger gab es einen großzügig angelegten Platz, auf dem in den Sommermonaten die Touristen ihre Gleiter abstellen konnten. Jetzt, in den Wintermonaten, außerhalb der Urlaubssaison, war das riesige Feld verwaist und Otho konnte das große Raumschiff bequem landen.

                    „Triebwerke sind auf Stand-by, Chef!“, rief der Androide von seinem Pilotensitz aus.

                    „Danke, Otho“, gab Curtis gut gelaunt zurück. Er hatte noch ein wenig Kopfschmerzen von der vergangenen Neujahrsparty und deswegen die Schiffskontrollen seinen Mitarbeitern überlassen. Er sah über seine Schulter hinter sich, wo sich Joan, Katherine und Sam von ihren Gurten lösten. Nur Nurara, für die es jetzt um die augenscheinlich wichtigsten eineinhalb Jahre ihres Lebens ging, saß noch angeschnallt in ihrem Sitz und starrte gedankenverloren vor sich hin. Auch sie hatte noch einen leicht benebelten Kopf und hatte während des Fluges vom Mond zur Erde nur ein paar Worte mit Sam gewechselt.

                    „Außentemperatur drei Grad Celsius, gefühlt weit unter null, mäßiger Nordostwind in Böen mit etwa zwanzig bis dreißig Kilometern pro Stunde, Captain“, las Grag von einer Konsole ab.

                    „Das heißt, dicke Jacken anziehen“, brummte Curtis und sah aus dem großen runden Cockpitfenster. Es war später Vormittag, und die Sonne schien auf die schneefreie Landschaft. Er konnte sehen, wie die Nordsee vor der Hafenausfahrt blau und grün glitzerte. Einige Masten von Segelbooten und Fischkuttern bewegten sich träge in der Dünung und direkt vor der Comet lag ein schneeweißes Fährschiff an der Mole. Einige wenige, dick vermummte Hafenarbeiter verluden Container und Kisten auf das Vorderdeck und ihr Atem stieg als weiße Dampffähnchen in die Luft. Von dem großen Raumschiff, das soeben gelandet war, nahmen sie nur kurz Notiz und konzentrierten sich weiter auf ihre Arbeit. „Dann mach mal die Luke auf, Grag, und lass frische Seeluft hier rein!“, sagte Curtis und zog aus einem Spind eine dicke Daunenjacke hervor. „Das wird uns allen gut tun!“

                    Grag tat wie ihm geheißen und von draußen kam das Geräusch von kreischenden Möwen und der Duft von Salz und Fisch herein. Auch während der Überfahrt mit der Fähre machte Nurara einen betrübten Eindruck, auch wenn sie durch den kalten, schneidenden Wind jetzt etwas mehr Farbe bekam. Sie waren die einzigen Fahrgäste auf dem Schiff und standen an Oberdeck. Sam und Curtis lehnten lässig an der Reling und ließen sich den Wind um die Nase wehen. Joan stand daneben und hörte dem Männergespräch zu. Katherine hakte sich bei Nurara unter und bedachte sie mit einem fürsorglichen Blick. „Hey, Süße, erzähl mal, was bedrückt dich? Hast du Angst vor irgendetwas?“

                    Nurara schüttelte langsam den Kopf. „Nein, Kat, Angst habe ich nicht. Wovor denn? Es kann jetzt nur noch aufwärts gehen. Es ist nur, weil …“ Sie stockte. „Weil ich einfach nicht mehr ohne Sam sein will. Ihn jetzt nur alle vier Wochen sehen zu können, geht mir gewaltig gegen den Strich.“

                    Katherine nickte zustimmend. „Verstehe ich, geht mir im Moment ähnlich. John kommt auch nur alle vier bis sechs Wochen nach Hause, schmeißt mir freitags abends einen Wäschesack hin und haut sonntags mittags wieder ab. Ich habe gerade auch nicht allzu viel von ihm“, antwortete sie mit einem gequälten Lächeln.

                    Bei der Erwähnung des Wortes „Wäschesack“ musste Nurara lachen. „Du machst John die Wäsche? Kann er das nicht alleine?“

                    Katherine grinste und machte eine entschuldigende Geste. „Ich mach’s gern. Außerdem habe ich noch zu gut in Erinnerung, wie hart die Ausbildung an der Polizeiakademie ist. Du bist so kaputt, dass du eigentlich nur zum Schlafen und Essen nach Hause kommst. Dagegen hast du hier schon wieder Urlaub. Im Übrigen ist John …“ Der Rest des Satzes ging im lauten Tuten des Nebelhorns der Fähre unter.

                    Am Anleger des kleinen Hafens standen zwei Frauen, eine kleine Ältere, die Katherine als Professor Kesselring erkannte und eine recht junge, großgewachsene Frau mit strohblonden Haaren, die zu einem dicken Zopf zusammen gebunden waren. Letztere musste Dr. Eva Smits sein, die Kesselring beiläufig einmal als ihre Assistentin erwähnt hatte. Als die Fähre festgemacht hatte, ging die Gruppe von Bord und wurde von Dorothea Kesselring aufs herzlichste begrüßt. Man stellte sich vor und die junge Frau an Kesselrings Seite war tatsächlich die Assistentin der Institutsleiterin. Wieder ertönte das laute Nebelhorn, nun als Zeichen der Abfahrt.
                    Sam zog Nurara noch einmal dicht an sich und küsste sie, dann flüsterte er: „Halt durch, Schatz. Es sind nur vier Wochen, dann komme ich dich besuchen! Ich liebe dich!“

                    Ein paar Tränen stiegen in Nuraras Augen. „Ich liebe dich auch, Sam. Ich packe das schon.“ Sam nahm Nurara noch einmal fest in den Arm. Wieder ertönte das Nebelhorn. Die anderen hatten sich bereits herzlich von Nurara verabschiedet und waren längst an Bord gegangen. „Jetzt verschwinde schon, Sam, bevor ich mit dir wieder aufs Schiff gehe!“, raunte sie ihm ins Ohr und schob ihn mit sanfter Gewalt von sich.

                    Sam ging an Bord, die Gangway wurde eingezogen und träge legte die Fähre von der Hafenmauer ab. Nurara sah traurig dem Schiff und seinen winkenden Passagieren hinterher, bis eine sanfte Hand sich auf ihre Schulter legte. „Komm, Nurara, es wird Zeit“, sagte Kesselring freundlich aber bestimmt. „Es ist kalt hier und drinnen wartet heißer Tee auf uns.“ Nurara nahm ihren Koffer und stapfte den beiden Frauen missmutig hinterher. Immer wieder blickte sie zurück zum Hafen, wo die auslaufende Fähre immer kleiner wurde.

                    Bei Tee und Gebäck wurde Nurara von Dorothea und Eva in das Leben auf der Insel eingewiesen. Es gab auf der Insel keinerlei Sicherungseinrichtungen, die eine Flucht verhindern sollten. Eva wies Nurara dennoch eindringlich darauf hin, dass ein Fluchtversuch zu den Nachbarinseln Langeoog und Norderney oder zum Festland tödlich enden könnte. „Wenn du glaubst, dass du über die Accumer Ee oder die Wichter Ee“, Eva meinte damit die schmalen Seegatts zwischen den Inseln, „rüberkommen kannst, vergiss es. Die Strömungen sind enorm und ziehen selbst den besten Schwimmer in die offene Nordsee. Und bei Ebbe durch das Watt zu gehen solltest du auch unterlassen. Ohne einen erfahrenen Wattführer bleibst du gnadenlos im Schlick stecken bis die Flut dich holt. In den Sommermonaten muss der Seenotrettungsdienst ständig irgendwelche übermütigen Touristen rausfischen. Bitte erspare uns das.“ Nurara hatte den Eindruck, dass Eva Spaß bei dem Versuch hatte, ihr Angst einzujagen. Bei dem Versuch blieb es. Nurara nahm die Warnungen wortlos nickend zur Kenntnis, da sie ohnehin nicht die Absicht hatte, sich bei Nacht und Nebel davonzumachen. Einerseits hatte sie irrsinnigen Respekt vor dem offenen Meer, andererseits war da Sam, den sie schon jetzt schmerzlich vermisste. Nurara betrachtete Eva, die immer noch über die gefährliche Schönheit des Wattenmeers dozierte, eingehend. Eva war in Nuraras Alter, vielleicht etwas jünger, schlank, mit beachtlicher Oberweite und einem ausgesprochen hübschen, ovalen Gesicht, aus dem aufmerksame, hellgrüne Augen schauten. Mit ihren langen, hellblonden Haaren und den Sommersprossen um die Stupsnase wirkte Eva eher wie eine Oberstufenschülerin denn wie eine promovierte Psychologin. Eva strahlte eine unterschwellige Arroganz aus, obwohl sie immer wieder freundlich und aufmunternd Nurara anlächelte. Nurara konnte sich in diesem Moment noch nicht festlegen, ob sie Eva mögen sollte oder nicht. Daher entschied sie sich dafür, dies auf später zu verschieben und nahm sich vor, erst einmal „anzukommen“. Eva sprach weiter: „… einige Kandidaten haben jedoch die Möglichkeit, im Rahmen ihrer Aufgaben, auch hin und wieder zum Festland fahren zu können, unter Aufsicht, versteht sich. Damit wären wir beim Thema bezüglich deiner Aufgaben hier. Thea hat sich was für dich überlegt. Ich möchte dich hier auf jeden Fall herzlich willkommen heißen. Wenn du irgendetwas brauchst, über etwas reden möchtest oder sonstige Probleme hast, kannst du dich zu jeder Tages- und Nachtzeit vertrauensvoll an mich wenden.“ Evas Tonfall und Mimik wirkte nun ein ganzes Stück freundlicher und offener als vorher. Lächelnd streckte sie Nurara ihre Hand hin, die Nurara ohne zu Zögern nahm und schüttelte. Vielleicht konnte sie dieser schicken Blondine doch ein paar Sympathiepunkte abgewinnen.

                    Dorothea Kesselring ergriff das Wort: „Okay, Nurara. Ich komme gleich zur Sache. Jeder ‚Kandidat‘ – im Institut sprechen wir nicht von Insassen oder Patienten – hat eine Aufgabe entsprechend seiner Ausbildung und Fertigkeiten wahrzunehmen. Meinen Unterlagen entnehme ich, dass du unter anderem Physik, Mathematik und Astronomie studiert hast?“

                    „Ja, das stimmt“, antwortete Nurara nickend.

                    Kesselring konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Nun gut, unsere naturwissenschaftliche Abteilung ist fachlich etwas anders gelagert. Wie steht es um deine Kenntnisse in der Biologie?“

                    „Geht so, mein Schulwissen ist da etwas eingerostet. Ich weiß zumindest, worauf ich zu achten habe, wenn ich mich mit einem Mann einlasse“, gab sie mit Unschuldsmiene zurück, worauf aus Evas Richtung ein Glucksen zu hören war. Kesselring sah ihre Assistentin mit gespielter Missbilligung an und verdrehte die Augen.

                    „Ihr jungen Dinger seid doch alle gleich“, meinte Kesselring ironisch. „Deine Biologiekenntnisse werden wir schon wieder auffrischen. Ich werde dich zu Herman einteilen. Herman ist Meeresbiologe und Ozeanologe. Er kümmert sich um die Seehunde und die Vogelbestände. Wie du vielleicht weißt, befinden wir uns hier in einem der größten Naturschutzgebiete dieses Planeten. Und wenn du ein wenig handwerklich begabt bist, wirst du Herman sicher eine große Hilfe sein.“

                    Nurara fiel die Kinnlade herunter. „Was?“, fragte sie entgeistert. „Ich soll mich um Seehunde kümmern? Sehe ich aus wie eine Zoowärterin?“

                    Kesselring und ihre Assistentin lachten. „Ganz bestimmt nicht, Nurara“, antwortete die Institutsleiterin. „Noch nicht … Aber im Ernst: die Pflege und Überwachung der Seehundbestände ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Es ist körperlich anstrengend und fordernd. Herman wird dir alles erklären. Du wirst sehr früh am Morgen aufstehen müssen. Allerdings hast du auch einen großen Teil des Tages Freizeit. Und hier auf Baltrum gibt es eine Menge Möglichkeiten, seine Freizeit sinnvoll zu verbringen. Das Sportangebot ist reichhaltig und im Sommer sind die Strände ein Traum. Leg deine Vorbehalte ab und du wirst sehen, dass du hier eine schöne Zeit haben kannst.“

                    Seufzend sackte Nurara in ihrem Sessel zusammen. „Gibt es noch eine Alternative?“

                    Dorothea und Eva sahen sich kurz an. Dann antwortete Dorothea: „Ja, da wäre noch eine Sache. Die Region lebt hier vom Krabbenfang und die werden wie schon vor über dreihundert Jahren traditionell mit Grundnetzen gefangen. Grundnetze gehen ziemlich schnell kaputt. Ich könnte mir vorstellen, dass es eine sehr interessante Aufgabe für dich wäre, täglich mit der ersten Fähre zum Festland zu fahren, in den Häfen der Küstenorte Netze zu flicken und mit der letzten Fähre wieder zurück zu kommen. Na? Ist das was?“ Spott und Häme waren unüberhörbar.

                    „Ekelige, nach Fisch stinkende Netze flicken? Dann doch lieber Seehunde …“, seufzte Nurara und zuckte resigniert mit den Schultern.

                    Dorothea grinste triumphierend. „Dachte ich es mir doch. Also von meiner Seite wäre das jetzt erst einmal alles. Eva wird dir deine Unterkunft zeigen und dich anschließend etwas herumführen. Du kannst im Gemeinschaftshaus gerne etwas essen. Wenn ihr fertig seid, bringst du, Eva, Nurara bitte gleich zu Herman, damit er sie in ihre Aufgaben einweisen kann. Wenn Herman fertig ist, kommst du bitte mit ihr wieder zurück hierher und wir reden über deine Ziele hier bei uns, Nurara.“

                    Auf dem Gang durchs Dorf schritten Nurara und Eva eine Weile schweigend nebeneinander her. Es herrschte rege Betriebsamkeit auf den Dorfstraßen und Wegen. Immer wieder wurden die zwei Frauen angehalten und mit fröhlichen Neujahrswünschen begrüßt. Nurara wurde einer ganzen Reihe Frauen und Männern als Neuzugang vorgestellt und von den Insulanern mit Erfolgswünschen überschüttet. „Wow“, sagte Nurara, „die Höflichkeit hier sucht ihresgleichen.“

                    „Ja“, bestätigte Eva, „es wird hier ein großer Wert auf gute Umgangsformen gelegt. Und das ist völlig normal, die Menschen hier sind von sich aus einfach nett zueinander.“

                    „Sind das alles Kandidaten?“, argwöhnte Nurara.

                    Eva schüttelte lächelnd ihren blonden Zopf. „Nein, um Himmels Willen! Hier leben fünfhundertachtzig einheimische Insulaner und dreißig Kandidaten. Vom Institut angestelltes Personal inklusive Thea und mir sind noch einmal fünfzehn Personen. Macht sechshundertfünfundzwanzig Seelen beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen. Der älteste Bewohner ist einhundertzwei und erfreut sich bester Gesundheit, die jüngste Bewohnerin ist gerade mal vierzehn Stunden alt und kam heute Nacht auf die Welt.“

                    Nurara schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Und im Sommer …“

                    „… geht es hier rund. Wenn ab Mai die Touristen hier einfliegen, ist mächtig was los.“

                    „Haben die Inselbewohner denn keine Vorbehalte gegen die ganzen Straftäter, die hier fast frei rumlaufen?“

                    Eva kicherte belustigt. „Weißt du, Nurara, das Institut ist seit fast dreißig Jahren auf Baltrum. In der Anfangszeit muss es wohl recht schwierig gewesen sein, aber die Zeit hat gezeigt, dass es funktioniert. Da sich die Kandidaten in die Inselgemeinschaft einfügen müssen, klappt es sehr gut. Und wir finden sehr schnell raus, ob sich jemand integriert oder nicht. Diese Kandidaten verlassen unser Institut auch wieder sofort. Und die Seehundpfleger waren bisher immer äußerst beliebt bei den Bewohnern“, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.

                    „Ich glaube, Seehunde sind mir allemal lieber, als Fischernetze zu flicken“, gab Nurara zurück.

                    Jetzt musste Eva lauthals loslachen. „Nurara, es tut mir leid, das jetzt sagen zu müssen. Die Geschichte mit dem Netze flicken war ein Scherz von Thea, gewissermaßen deine erste Prüfung! Hättest du diese Option gewählt, wärst du schon längst wieder auf dem Rückflug nach New York.“

                    Nurara verzog für einen Moment säuerlich den Mund. „Und da ich noch hier bin, kann ich davon ausgehen, dass ich diese erste Prüfung bestanden habe?“

                    Eva wurde eine Spur ernster. „So ist es, aber das war noch eine der leichteren Prüfungen. Thea wird dir nachher noch einiges dazu sagen.“ Die beiden Frauen kamen an das Ende der Straße zu einem kleinen Haus mit hellblauen Fensterläden, das wie alle anderen aus rotem Backstein gebaut war. Es wirkte gepflegt und einladend. „Wir sind da. Hier wirst du für die Zeit auf der Insel wohnen. Du wirst bereits von deiner Mitbewohnerin Anna erwartet. Sie freut sich schon auf dich!“
                    Anna Gonzalez stellte sich als freundliche, wenn auch überaus gesprächige, Mittvierzigerin heraus, die Nurara anscheinend sofort ins Herz geschlossen hatte. Sie zeigte ihr das kleine Haus, Nuraras Zimmer, den anliegenden Garten und erklärte ihr einige wichtige Details zum Leben im Institut. Sie aßen zusammen im Gemeinschaftshaus zu Mittag, wo Nurara wieder von Eva in Empfang genommen wurde. Mit Eva suchte Nurara dann Herman van Oyen auf, mit dem Nurara zukünftig zusammen arbeiten sollte.
                    Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

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                      #85
                      Hermans Haus lag am Ostende der Insel, etwa fünfzehn Gehminuten vom Ortskern entfernt. Auf dem Grundstück gab es eine kleine Wetterstation und einen großen Gemüsegarten mit Treibhaus. Als Eva an die Tür klopfte, öffnete ein schlaksiger Junge mit rotblonden Haaren von etwa sechzehn oder siebzehn Jahren. „Hallo Tom“, sagte Eva freundlich, „ist dein Vater zu Hause?“

                      „Ja, sicher“, antwortete Tom breit grinsend, „komm rein! Frohes Neues Jahr, Eva!“

                      „Danke, das wünsche ich dir auch!“, gab Eva zurück und hauchte dem Jungen einen Kuss auf die Wange. „Das ist übrigens Nurara, sie wird bei deinem Vater arbeiten.“

                      „Hi, Tom! Freut mich dich kennenzulernen“, sagte Nurara mit einem freundlichen Lächeln und hielt dem Jungen die Hand hin, dabei sah sie ihm etwas länger in die Augen. Toms Kinnlade fiel herunter und seine ohnehin schon vom Wind gerötete Gesichtshaut wurde noch eine Spur dunkler.

                      „Ha-hallo …“, stotterte er und ergriff langsam Nuraras Hand. Noch nie in seinem jungen Leben hatte er eine so anmutige und schöne Frau wie Nurara gesehen, die obendrein auch noch grüne Haare hatte. „K-kommt doch rein …“

                      Hinter Tom hatte sich ein fast zwei Meter großer, breitschultriger Mann mittleren Alters aufgebaut, der ebenso rotblondes Haar wie Tom und einen rotblonden Vollbart hatte. Er trug Latzhosen und Gummistiefel und um seine tiefblauen Augen hatten sich Lachfältchen eingegraben, die seiner Erscheinung etwas Humorvolles und Schalkhaftes verliehen. „Na, Tom, mit wem flirtest du denn da wieder an der Tür?“, rief er mit einer warmen Bassstimme und kam nach vorne, um seinen Sohn sanft beiseite zu schieben. „Eva, ich grüße dich und wünsche dir ein gesundes Neues Jahr! Lass dich drücken, Kleine!“, sagte er und schloss die kräftigen Arme um die zierliche Frau. „Wen hast du da mitgebracht?“

                      Nachdem Herman die arme Eva aus der schraubstockähnlichen Umarmung freigelassen hatte und sie wieder etwas Luft bekam, antwortete sie: „Herman, das ist Nurara. Deine neue Mitarbeiterin, von der ich dir erzählt habe. Ich lasse euch dann mal allein, damit ihr euch beschnuppern könnt. Viel Spaß, Nurara, und lass dich von Herman nicht ärgern. Er ist manchmal etwas ruppig, aber eine Seele von Mensch.“

                      „Ruppig? Ik? Eva, ik wul di wat! Schüddeln wa ik di!“, gab Herman auf Plattdeutsch lautstark zurück, worauf hin Eva in schallendes Gelächter ausbrach. An Nurara gewandt sagte er dann für sie verständlich: „Keine Angst Nurara, ich bin die Friedfertigkeit in Person, nur diese Göre hier müsste ab und zu mal übers Knie gelegt werden. Ja, dann wollen wir mal. Tom, hör auf Nurara anzustarren und geh deiner Mutter helfen. Und du, Eva, mach dass du an deine Arbeit kommst.“

                      Eva winkte noch einmal grinsend zum Abschied und ging. Tom hatte tatsächlich die ganze Zeit den Blick von Nurara nicht abwenden können, was auch ihr nicht entgangen war. Sie legte eine Hand auf Toms Schulter und sagte augenzwinkernd: „Hey, ich komme jetzt öfter, du brauchst mich nicht die ganze Zeit so anzusehen. Heb dir noch was für später auf!“ Daraufhin wurde der junge Mann noch eine Nuance röter.
                      Herman stellte Nurara noch seine Ehefrau Inka und die jüngere Tochter Stina vor. Inka war wie Eva, groß, schlank und blond, hatte aber dunkelbraune Augen, die ebenfalls ihrer Besitzerin humorvolle Züge verliehen. Die zwölf Jahre alte Stina, die eigentlich Christina hieß, war eine perfekte jüngere Kopie ihrer Mutter.
                      Herman führte Nurara auf seinem Grundstück und in seinem Haus herum, zeigte ihr die Wetterstation und sein kleines, aber vollständig ausgestattetes Bio-Labor, von dem Nurara schwer beeindruckt war. Von seinem Haus aus war es nur noch ein Katzensprung zum Oststrand der Insel, wo die Seehunde bei Ebbe ihre Ruheplätze auf dem Sand hatten. Herman erklärte ihr, was seine Aufgaben waren und welche Arbeit ihr dabei zuteilwurde. „Das klingt ja nach einer recht leichten und angenehmen Arbeit“, sagte Nurara vergnügt.

                      Herman schmunzelte. „Ja, wenn wir unsere Arbeit auf den Oststrand beschränken, ganz sicher. Aber dem ist noch lange nicht so“, gab er geheimnisvoll grinsend zurück.

                      „Was heißt das?“, wollte Nurara wissen. Die beiden waren auf dem Rückweg zu Hermans Haus und hatten sich kurz auf eine Bank gesetzt.

                      „Nun, alle Inseln hier an der Küste haben ein Refugium für die Seehunde, darüber hinaus gibt es unzählige Sandbänke, die wir uns von Zeit zu Zeit ansehen müssen. Da müssen wir auch des Öfteren hinfahren“, gab Herman als Antwort zurück.

                      Nurara schwante Übles: „Etwa mit einem Boot?“

                      Herman grinste belustigt. „Ganz sicher nicht mit einem Gleiterbike … nein, wir müssen schon ein Wasserfahrzeug nehmen. Warum fragst du? Angst vor Wasser?“

                      „Nicht direkt vor Wasser, aber ich habe ein traumatisches Erlebnis von einer Seefahrt, die noch nicht allzu lange her ist und ich glaube, ich werde leicht seekrank“, antwortete sie mit einem hilflosen Lächeln.

                      Herman nickte verständnisvoll. „Hm, verstehe. Wenn es dir die Sorge ein wenig nimmt, ich habe erstens einen ziemlich massiven Kutter aus Stahl, zweitens können wir die Sandbänke ohnehin nur bei Ebbe anfahren und drittens fahre ich nur bis Windstärke drei raus. Was das Wetter angeht, sitze ich ohnehin an der Quelle. Ich gehe da selber kein Risiko ein. Allerdings wirst du nicht drum herumkommen, ab und zu ins Beiboot einzusteigen.“

                      Nurara seufzte wieder einmal resigniert. „Worauf hab ich mich nur eingelassen …“

                      Am Abend saßen Nurara und Anna beim gemeinsamen Abendessen. Anna hatte einen scharfen mexikanischen Eintopf gekocht, bei dem Nurara kräftig zulangte. Die eisige Kälte hatte sie geschlaucht und müde gemacht. Anna stand auf und ging zur Anrichte. „Trinkst du lieber Bier oder Wein dazu?“

                      Nurara sah ihre Mitbewohnerin überrascht an. „Wir dürfen hier Alkohol trinken?“

                      Anna grinste verschmitzt. „Natürlich, warum denn nicht? Wir sind ja hier schließlich nicht im Gefängnis oder in einer Jugendherberge. Solange alles im Rahmen bleibt, dürfen wir leben wie normale Menschen, das sollen wir ja auch schließlich wieder werden, oder?“

                      „Dann lieber Bier, Wein ist nicht so ganz mein Ding.“ Nurara kam dabei der Weinexzess mit Joan auf der Dulcibella in den Sinn. „Apropos normale Menschen werden: warum bist du hier, Anna?“

                      Anna kam mit zwei dunkelgrünen Flaschen einheimischen Biers zurück und setzte sich Nurara gegenüber. „Ich wurde wegen vierfachen Heiratsschwindels zu sechs Jahren verurteilt. Alternativ sollte ich ein Jahr hier verbringen. Die Entscheidung war nicht schwer, ich habe zwei Kinder und die sollten ihre Mutter nicht im Gefängnis besuchen müssen. Diesen Sommer kann ich vielleicht nach Hause. Was hast du denn verbrochen?“

                      „Schwerer Diebstahl und Weltraumpiraterie. Sechseinhalb Jahre auf Bewährung, wenn ich das hier schaffe“, gab Nurara tonlos zurück. „Ich habe in meinem Leben so ziemlich alles verkehrt gemacht, was nur ging. Ich habe mich mit den falschen Leuten eingelassen, mich von Habgier, Macht und Reichtum leiten lassen und mich einen Dreck um andere geschert. Das will ich ändern.“

                      „Gibt’s da draußen jemanden, der auf dich wartet?“, fragte Anna mitfühlend.

                      Nuraras Gesichtszüge wurden sanft, als sie an Sam dachte. „Ja, den gibt es“, sagte sie leise und prostete Anna lächelnd zu.

                      In den folgenden Wochen und Monaten machte Nurara eine Wandlung durch, die sie so selbst von sich nicht erwartet hätte und entwickelte sich laut Dorothea Kesselring zu einer „Vorzeige-Kandidatin“. Nurara packte mit an, wo immer Hilfe gebraucht wurde, bekam die besten Beurteilungen bei den Therapiegesprächen und fügte sich hervorragend in die Inselgemeinschaft ein. Sie gab sogar einzelnen Kindern auf der Insel Nachhilfe in Mathematik und Physik. Die Arbeit mit Herman, auch wenn sie anstrengend war, machte ihr Spaß. Von Herman lernte sie unter anderem seemännisches Handwerk und konnte dessen zwanzig Meter langen Kutter bald so geschickt manövrieren, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. Jedes vierte Wochenende, wenn Sam zu Besuch kam, konnte er seine Freundin kaum wiedererkennen.
                      Der Frühling breitete seine Flügel über den Ostfriesischen Inseln aus, langsam wurde es wärmer und die Abende länger. Am 1. Mai des Jahres 2201 wurde Vul Kuolun zu lebenslanger Freiheitsstrafe im Hochsicherheitsgefängnis auf Airam IV verurteilt.



                      Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

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                        #86
                        Kleiner Ortswechsel und das Ende von Kapitel 12

                        Gravitationsbereich des Saturns, Sol-System, 9. Mai 2201

                        Mit schwitzenden Händen steuerte Zistavan Borksh den kleinen Systemspeeder auf den Saturnmond Dione zu. Das kleine, zweisitzige Cockpit war eng, heiß und roch übel nach allerlei Ausdünstungen vorheriger Mieter. Er hatte sich den Speeder auf dem Mond Rhea ausgeliehen, um die von Vul Kuolun erhaltene Karte endlich einzulösen. Kuolun hatte ihm eine großzügige Belohnung zugesagt. Kuolun war verurteilt worden und stellte nun keine Gefahr mehr für die Galaxis dar. Borksh würde jetzt nur schnell bei Captain Wellok, seiner Kontaktperson, vorbeischauen, die Belohnung einsacken, den stinkenden Speeder wieder nach Rhea zurückbringen und von dort aus mit einem bequemen Shuttle zur Erde zurückfliegen. Es sah alles ganz einfach aus. Seine Arbeit war getan. Borksh musste nicht lange nach der Raumstation suchen, sie befand sich auf dem Nordpol des Mondes und war leicht an dem hohen Turm, an den einige flache Gebäude gedrängt waren, zu erkennen. Er landete den Speeder auf der Plattform der einzigen Raumstation des kleinen Mondes, die vom reflektierten Licht seines Mutterplaneten in ein zartes Gelb getaucht war. Dione befand sich zurzeit relativ unterhalb der Saturnringe und der riesige Gasplanet nahm fast den gesamten Himmel über dem kleinen Mond ein, der in knapp dreihundertachtzigtausend Kilometern den Saturn umkreiste. Zu Borkshs Erstaunen standen auf der Plattform ein halbes Dutzend weiterer Speeder gleicher Bauart in wildem Durcheinander geparkt. Borksh fand eine Lücke zum Landen und als die Energieschleuse, die die Plattform wie eine unsichtbare Kuppel umgab, „Verschluss und Druckausgleich“ an sein Cockpit meldete, stieß er schnell das Cockpitdach auf, sprang hinaus und ging auf den Eingang zu. Noch bevor er die breite, zweigeteilte Schiebetür erreichte, öffnete sich diese bereits und ließ den Eindruck erwecken, man hätte ihn schon erwartet. Im Inneren erwartete ihn eine kühle Sachlichkeit in Form eines weiß getünchten langen Ganges, dessen Ende in der Dunkelheit lag. Nur die ersten fünf Meter vor Borksh waren erleuchtet. Am Ende des Ganges sah er jedoch ein warmes Licht schimmern und ging darauf zu. Je weiter er ging, desto mehr wurde der Gang vor ihm erleuchtet, hinter ihm das Licht aber wieder gelöscht. Borksh fühlte sich ein wenig unbehaglich. Die Luft, die er atmete, war kühl und trocken und schmeckte irgendwie staubig und wiederaufbereitet. Als er das schimmernde Licht erreichte, fand er sich an einem brusthohen Tresen wieder, hinter dem ein hübsches junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren saß und ihn aufreizend anlächelte.
                        „Einen schönen guten Tag, mein Herr. Was kann ich für Sie tun?“, sprach das Mädchen mit einer hocherotischen Samtstimme.

                        Borksh zog die Karte aus seiner Tasche und legte sie auf den Tresen. „Mein Name ist Zistavan Borksh. Ich habe diese Karte von meinem Mandanten Vul Kuolun erhalten und soll sie Captain Wellok übergeben.“

                        Das Mädchen nahm die Karte mit perfekt manikürten Händen und schob sie mit einem charmanten Lächeln in ein Lesegerät, las ein paar Zeilenkolonnen auf ihrem Computerdisplay ab. Dann sagte sie: „Vielen Dank, Mister Borksh. Sie sind authentifiziert. Captain Wellok erwartet Sie. Wenn Sie mir bitte folgen wollen? Hier entlang bitte.“ Das Mädchen erhob sich mit einer für Menschen etwas zu eckigen und abrupten Bewegung und kam hinter dem Tresen hervor. Was Borksh nun sah, ließ ihn ein wenig erschaudern, das hübsche Mädchen war kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Droide, der nur aus dem Oberkörper bestand. Dort wo ein Mensch normalerweise einen Unterkörper mit Beinen haben müsste, endete der Torso dieser schaurig-schönen Maschine etwa auf Bauchnabelhöhe in einem Antigrav-Kompensator, der den Droiden über den Boden schweben ließ. Sichtlich geschockt folgte Borksh dem Droiden einen weiteren Gang hinab zu einer Aufzugstür, welche weit offen stand. „Bitte treten Sie ein und fahren nach oben. Captain Wellok wird Sie dort in Empfang nehmen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag!“ Der Droide wandte sich ab und schwebte den Gang zurück und außer Sicht.

                        Wortlos bestieg Borksh den Aufzug und die Türen schlossen sich unvermittelt. Er drückte den einzigen Knopf auf dem Paneel und der Aufzug setzte sich mit einem sanften Ruck in Bewegung. „Fahre ich jetzt etwa den Turm hinauf? Da oben ist doch gar nichts …“, dachte er. Hinter ihm kam ein kratzendes Geräusch aus einem versteckten Lautsprecher. Borksh drehte sich um. In der Wand gegenüber der Tür war ein Holobildschirm eingelassen, auf dem sich jetzt langsam ein Gesicht materialisierte. Es war die höhnisch grinsende Fratze von Vul Kuolun. Die Aufzugkabine kam zum Stillstand. Ein viermaliges metallisches Klacken ließ Borksh nichts Gutes ahnen. Die Kuolun-Holografie begann zu sprechen.

                        „Verehrter Gast! Wenn Sie es bis hier her geschafft haben, bedeutet es, dass Sie mir mehr oder weniger gut gedient haben. In jedem Fall bedeutet es, dass Ihre Arbeit an dieser Stelle ab sofort nicht mehr benötigt wird. Bedauerlicherweise kann ich es mir nicht erlauben, auch in Zukunft auf Ihre Dienstleistungen zurückzugreifen und kann Ihnen leider nur an dieser Stelle die Auflösung unserer Geschäftsbeziehung anbieten. Leben Sie wohl!“

                        Borksh stand mit offenem Mund da und konnte nur noch auf das hämisch lachende Gesicht dieses Verbrechers starren, das sich mehr und mehr von ihm entfernte und immer kleiner wurde, bis der Bildschirm ganz schwarz wurde. Sekundenlang geschah nichts, bis es einen lauten Knall gab und Borksh rückwärts aus der Aufzugskabine gerissen wurde.
                        Das letzte, was Borksh sah, bevor seine Lungen im Vakuum platzten, waren die sich schließende Außentür des Turms und der riesige Saturn über ihm.
                        Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

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                          #87
                          Kapitel 13 mit einer Überraschung...

                          Kapitel 13

                          Baltrum, 28. Juli 2202

                          Der Sommer des Jahres 2202 war einer der heißesten, die in den letzten zwanzig Jahren die deutsche Nordseeküste heimgesucht hatten. Seit fast einem Jahr lebte Nurara allein in dem kleinen Haus, Anna Gonzales hatte ihre Resozialisierung erfolgreich beendet und durfte rehabilitiert zu ihrer Familie nach Mexiko zurückkehren. Auch für Nurara sollte morgen die Maßnahme beendet sein. Von Jahresbeginn an durfte sie so viel Besuch empfangen, wie sie wollte und Sam kam so oft nach Baltrum, wie es seine Zeit erlaubte. Manchmal sogar blieb er ein paar Tage bis zu einer ganzen Woche bei ihr. Heute sollten Sam, Curtis und Joan letztmalig nach Baltrum kommen, eine Nacht dort verbringen und am Tag darauf mit einer völlig neuen Nurara nach New York zurückkehren. Nurara hatte schon vor einer halben Stunde die markanten Triebwerke der Comet gehört und war sofort zum Hafen gelaufen, um auf die Fähre zu warten. Diese weitere halbe Stunde bis zur Ankunft der Fähre lief Nurara aufgeregt auf der Kaimauer auf und ab. Eigentlich war sie ein geduldiger Mensch, aber die Warterei machte sie in diesem Moment wahnsinnig. In der Ferne konnte sie das bullige, weiße Fährschiff sehen, wie es langsam den Hafen von Nessmersiel verließ und mit mäßiger Fahrt bei Ebbe durch das Wattenmeer kroch. Es war kurz nach zehn am Morgen und die Temperaturen lagen schon über dreißig Grad. Nurara verspürte einen leichten Durst, kramte in den Hosentaschen ihrer sehr kurz abgeschnittenen Jeans nach Kleingeld und besorgte sich ein Kaltgetränk in der kleinen Hafenbar. Dort sprach sie kurz mit ein paar einheimischen Insulanern und als sie ausgetrunken hatte, dröhnte auch schon das Nebelhorn der Fähre zur Ankunft. Nurara stürmte hinaus in die Hitze und rannte, so schnell sie mit ihren Badelatschen konnte, wieder zum Anleger. Die vollbesetzte Fähre machte gerade fest und Nurara konnte an Oberdeck den roten Schopf von Curtis Newton erkennen. Dann fand sie auch die blonde Joan und ihren Sam. Nurara war erleichtert. Bald ging es nach Hause.
                          Als Sam von Bord kam, sprang Nurara ihn förmlich an und riss ihn vor Freude bald um. Sam betrachtete Nurara von oben bis unten. Auch wenn er sie noch vor vierzehn Tagen das letzte Mal gesehen hatte, war er auch heute wieder hingerissen von ihrer atemberaubenden Schönheit. Zu den knappen Hosen trug sie lediglich ein fadenscheiniges Tankshirt, welches ihre Vorzüge enorm zur Geltung brachte. Ihr grünes Haar war mittlerweile so lang geworden, dass es ihr tief in den Rücken fiel, ihre Haut war sonnengebräunt und hatte einen leichten Bronzeton angenommen, und als er sie küsste, schmeckte und roch er Wind, Salz und Sonnenmilch. Nach einem innigen Kuss sah Sam Nurara tief in ihre saphirgleichen Augen und meinte schmunzelnd: „Dir scheint es ja mal so richtig gut hier zu gehen. Darf ich dich eigentlich mitnehmen, oder möchtest du noch eine Weile bleiben?“

                          Nach einem ausgiebigen Strandtag hatte Nurara für ihre Freunde am Abend ein Barbecue vorbereitet, zu dem sie auch Herman, seine Familie, Dorothea und Eva eingeladen hatte, dabei erwies die Marsianerin sich als hervorragende und aufmerksame Gastgeberin. Als es dunkel geworden war, stand Nurara auf, um einige Kerzen zu holen, die sich in ihrem Zimmer befanden. Im Schein ihrer kleinen Tischlampe kramte sie im Schrank nach den Kerzen, als es an ihrer Zimmertür klopfte. „Ist offen!“, rief sie und langsam öffnete sich die Tür, welche im Halbdunkel lag. „Oh, Joan. Suchst du was Bestimmtes?“, fragte sie, als sie die zierliche Gestalt mit den blonden Locken im Türrahmen erkannte.

                          „Ich bin nicht Joan“, sagte die Gestalt mit deutlich tieferer Stimme, als Nurara sie von der Polizistin kannte.

                          Nurara erschrak. Das Herz klopfte ihr jetzt bis zum Hals. „W-wer sind Sie? Was wollen Sie hier? Mich umbringen?“

                          „Wenn ich das wollte, wären Sie schon längst tot, ohne dass Sie mein Erscheinen hätten bemerken können. Wer ich bin, ist unerheblich. Ich habe eine Nachricht für Sie“, antwortete die falsche Joan trat langsam zwei Schritte vor und warf einen Briefumschlag auf den Schreibtisch, dann ging sie wieder zwei Schritte rückwärts, ohne Nurara aus den Augen zu lassen.
                          Mit zitternden Händen nahm Nurara den Umschlag und öffnete ihn. Heraus zog sie eine kleine Karte, auf der mit einer schwungvollen Handschrift, die sie nur zu gut kannte, geschrieben stand:

                          Nurara,
                          ich vermisse dich! Es ist Zeit …
                          V.


                          Erschrocken steckte Nurara die Karte wieder in den Briefumschlag und sagte energisch in Richtung der falschen Joan: „Das ist vorbei, nehmen Sie das wieder mit. Ich will es hier nicht haben!“ Aber die falsche Joan war schon wieder verschwunden.
                          Nurara packte die Kerzen und ging wieder hinaus auf die Terrasse zu ihren Freunden. Den Umschlag hatte sie zerrissen und in den Abfall geworfen.

                          Eva bemerkte als erste, dass mit Nurara etwas nicht stimmte. „Nurara, was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“, rief Eva besorgt.

                          Nurara schüttelte den Kopf. „Alles gut, mir ist in den letzten Tagen nur etwas schwindelig. Muss an der Hitze liegen“, antwortete sie und lächelte gequält.

                          Am nächsten Morgen und nach einer für Nurara schlaflosen Nacht räumte sie zusammen mit Joan und Inka die Reste der Grillparty auf. Sam war mit Curtis und Herman im Hafen und ließ sich von Herman dessen Kutter zeigen. Nurara räumte gerade ein paar Gläser in den Schrank, als ihre Knie weich wurden und Übelkeit in ihr aufstieg. Sie musste sich an der Spüle abstützen und wurde kreidebleich im Gesicht.
                          „Nurara, geht es dir nicht gut?“, fragte Inka und legte mütterlich einen Arm um ihre Schulter.

                          „Mir ist schle…“, würgte Nurara heraus und übergab sich in die Spüle. Inka musste sie stützen.

                          „Lass dich ansehen, Kleine“, sagte Inka energisch. „Zuviel getrunken hast du gestern nicht, kann nicht am Alkohol liegen. Deine Stirn ist kühl.“ Sie fasste Nurara am Handgelenk und fühlte ihren Puls. „Hm“, meinte sie, „dein Puls ist etwas hoch und deine Augen glänzen.“ Inka machte eine Kunstpause, dann grinste sie über beide Ohren. „Schatz, ich fürchte, du bist schwanger!“

                          Nurara riss vor Schreck die Augen auf: „Ich? Schwanger? Niemals!“, rief sie und schüttelte den Kopf.

                          Inka hob belehrend den Zeigefinger und sagte: „Ts, ts, ich habe zwei Kinder zur Welt gebracht. Glaub mir, ich weiß, wie eine schwangere Frau aussieht. Hast du die Übelkeit schon länger?“

                          Nurara zuckte mit den Schultern. „Unterschwellig seit einer Woche, übergeben musste ich mich aber noch nicht.“

                          „Wann hattest du deine letzte Periode?“, hakte Inka nach.

                          „Marsianische Frauen haben keine Periode“, warf Joan grinsend ein. „Glückliche Wesen sind das.“

                          Nurara nickte zustimmend. „Ja, richtig. Marsianische Frauen werden schwanger, wenn sie sich bereit dazu fühlen.“ Sie sah die beiden anderen Frauen an und schlug die Hände vors Gesicht. „Oh mein Gott!!!“, rief sie verdattert aus und raufte sich die Haare.

                          Joan war die erste, die Nurara umarmte. „Das ist doch großartig! Du gründest mit Sam eine kleine Familie!“

                          „Das kann einfach nicht wahr sein“, jammerte Nurara und übergab sich ein zweites Mal in die Spüle.

                          Inka packte Nurara sanft am Oberarm und zog sie in Richtung Eingangstür. „Komm mal mit mir, Süße. Wir gehen jetzt erst mal zu Doktor Schootens und machen einen Test.“

                          Der Test beim Inselarzt bestätigte Inkas Vermutung. Der Doktor sah das Teststäbchen an und schob es in den Auswerter. Nur wenige Sekunden später stand das Ergebnis fest. „Gratuliere, meine Liebe. Sie sind Ende der vierten Woche! Alle Ihre Werte sind voll im Rahmen, Sie sind kerngesund und mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit kann ich Ihnen auch schon das Geschlecht nennen. Möchten Sie es wissen?“

                          Nurara saß mit offenem Mund da und wusste nicht, was sie sagen sollte. Joan nahm ihr die Antwort ab. „Natürlich wollen wir das wissen, nicht wahr Nurara?“ Joan stupste die Frau an der Schulter an. Nurara nickte nur wortlos.

                          Doktor Schootens warf noch mal einen Blick auf das Ergebnis und sagte: „Mit einer Wahrscheinlichkeit von achtzigkommasechsvier Prozent wird es ein Mädchen.“

                          Inka und Joan sprangen von ihren Stühlen auf und umarmten sich jubelnd. Nurara saß immer noch da und schüttelte langsam und mit verlorenem Blick den Kopf. „Das kann alles nicht wahr sein … das kann alles nicht wahr sein …“, flüsterte sie immer wieder.

                          Auf dem Rückweg von Doktor Schootens‘ Praxis zu Nuraras Haus kamen die drei Frauen Curtis, Sam und Herman entgegen. Die Männer waren in ausgelassener Stimmung und scherzten in einem fort. Curtis blickte auf seine Uhr und meinte: „Nurara, ich denke es wird Zeit. Dorothea und Eva warten bereits am Anleger und möchten sich von dir verabschieden.“

                          Nurara nickte und antwortete: „In Ordnung. Mein Koffer ist gepackt. Wir können los.“ Sie ließ sich nicht anmerken, welche Neuigkeiten es zu verkünden gab. Auch Joan und Inka hielten sich in ihrer Freude zurück und schwiegen.
                          Der Abschied war herzlich und tränenreich. Nurara fiel es sichtlich schwer, an Bord der Fähre zu gehen, die sie zum Festland und in ein komplett neues Leben bringen sollte. Sie hatte für ihren Geschmack wunderbare eineinhalb Jahre auf der kleinen Nordseeinsel verbracht, Herzlichkeit, Vertrauen und Freundschaft empfangen und gelernt, selbiges zu geben. Noch lange winkte sie Herman und den Frauen an der Hafenmauer, als die Fähre den kleinen Hafen von Baltrum verließ.
                          Nurara stand noch lange allein am Heck der Fähre und spürte das dumpfe Brummen und Zittern der Maschinen unter ihren Füßen, während ihr Blick gedankenverloren auf das schäumende Kielwasser gerichtet war. Die Mittagssonne brannte heiß und unzählige Möwen kreisten um das Schiff, in der Hoffnung, dass etwas Essbares über Bord ging. Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer nackten Schulter und roch das ihr so vertraute Aftershave von Sam. „Hey“, flüsterte sie.

                          „Hey“, gab Sam zurück. „Ich habe dich gesucht. Du siehst traurig aus.“

                          Nurara presste die Lippen zusammen und nickte langsam. „Ja, irgendwie schon. Ich habe mich dort drüben“, sie wies mit dem Zeigefinger zurück zur Insel, „so verdammt wohl gefühlt. So sicher und unter Freunden. Ich bin so froh gewesen, dieses Gefühl des Verfolgt seins ablegen zu können. Dort war es so eine heile, kleine Welt, das wird mir fehlen.“

                          „Wenn du willst, gehe ich jetzt gleich zum Kapitän und sage ihm, er soll umkehren“, antwortete Sam mit einem liebevollen Lächeln. Nurara wusste nur zu gut, dass er das fertig brächte.

                          „Nein, lass mal, dann müsste ich mir einen Arzt auf dem Festland suchen, zu dem ich bis April zweimal im Monat hinfahre.“
                          Sam sah Nurara einen Moment ungläubig an, dann fragte er: „Was soll das heißen, zweimal im Monat zum Arzt? Bist du ernsthaft krank? Und wieso bis April?“

                          „Denk mal eine Sekunde nach!“, gab sie schnippisch zurück und boxte Sam leicht gegen die Brust. Sam zuckte nur verständnislos die Schultern. Nurara ließ die Reling los, an der sie sich die ganze Zeit festgehalten hatte und schlang ihre braungebrannten Arme um Sams Hals. Dann raunte sie ihm ins Ohr: „Du Idiot. Ich bin nur etwas schwanger … und du bist schuld dran!“ Dann sah sie einen Moment in Sams grüne Augen und gab ihm einen langen Kuss.



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                            #88
                            Am Rande von East Fork, Arizona, ein paar Tage später

                            Peyo war dem Wahnsinn nahe. Nicht nur sprichwörtlich, sondern wahrhaftig. In den letzten zwei Jahren hatte sich sein Hass so unglaublich aufgestaut, dass er fast glaubte, die Person an jeder Straßenecke zu treffen. Die vergangenen achtzehn Monate hatte er nur ein schwaches Signal auf dem kleinen Display. Die Person, die er hasste, befand sich die ganze Zeit irgendwo auf der Erde, er konnte ihren Aufenthaltsort jedoch nicht festmachen. Jetzt, seit zwei Tagen, war das Signal wieder stark und in New York City lokalisierbar. Er musste jetzt eine Entscheidung treffen. Jetzt oder nie. Der Hass auf diese Person würde ihn noch eines Tages umbringen, wenn er nicht bald tätig werden würde. Er musste die Person jetzt endgültig töten.
                            Peyo packte seine wenigen Habseligkeiten in eine Reisetasche und warf sie auf die Ladefläche eines klapperigen Pickup-Gleiters. Er schwang sich hinter das Steuer und kramte aus einer Jackentasche das letzte verbliebene Bild von der Person, die er so hasste, hervor. Er klemmte es an einen Lüftungsschlitz auf dem Armaturenbrett und betrachtete es einen Moment. Es war das Bildnis einer jungen, bildhübschen Frau von neunzehn Jahren, die keck in die Kamera lächelte. Das Bild war fast zehn Jahre alt und Peyo hatte diese Frau einmal über alles geliebt, aber sie hatte ihn immer wieder abgestoßen. Jetzt empfand er nur noch Abscheu für jene Frau.
                            „Ich komme zu dir, mein Schatz. Und dann wird es vorbei sein.“ Alruna Peyo startete den Motor des alten Pickups. „Ich werde dich wiedersehen, endlich! Noch zwei Tage … und dann bringe ich dich um, Nurara …“





                            Interstate 80, eine halbe Stunde von New York City entfernt, zwei Wochen später




                            Sam und Nurara waren auf dem Rückweg vom Packanack Lake nach Manhattan. Sie hatten ein paar Tage bei Sams Tante verbracht, die dort den lokalen Country Club unterhielt. Das Pärchen war guter Stimmung und der Verkehr an diesem heißen Samstagvormittag war bis auf ein paar riesige Gleitertrucks erstaunlich dünn. Sams Mustang schnurrte den Highway entlang. Ohne den Blick von der Straße zu wenden stellte Sam Nurara eine Frage: „Sag mal, Schatz. Womit willst du eigentlich zukünftig dein Geld verdienen? Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht?“

                            Nurara hatte sich in dem bequemen Sitz hingelümmelt und die nackten Füße aufs Armaturenbrett gelegt. Jetzt nahm sie eine aufrechtere Sitzposition ein. Sie grinste Sam frech an und sagte: „Arbeiten? Ich dachte, dafür bist du zuständig! Und außerdem muss ich mich ja bald um den Haushalt kümmern …“ Sam sah sie einem Moment schräg von der Seite an, sagte aber nichts. „War ein Witz“, schob Nurara eilig hinterher. „Ja, ich habe mir Gedanken gemacht. Ich möchte bis zur Geburt an meiner Dissertation schreiben. Das sollte ich hinbekommen. Ich habe gehört, dass an der marsianischen Universität derzeit eine ganze Reihe von naturwissenschaftlichen Dozenten aller Fachrichtungen gesucht werden. Mit meiner Arbeit werde ich mich dort bewerben. Wenn die mich nicht nehmen, kann ich immer noch in New York und Umgebung an Colleges und High-Schools als Mathematik- und Physiklehrerin arbeiten.“

                            „Na, die männliche Fangemeinde unter den Schülern wird dir sicher sein“, antwortete Sam mit einem Augenzwinkern. „Und wo lassen wir die Kleine dann? Ich kann ja auch nicht immer so ohne weiteres frei machen.“

                            „Die Kleine nehme ich mit, wenn es nicht anders geht. Die Uni ist sehr familienfreundlich. Kinderbetreuung ist absolut kein Problem. Und meine Mutter ist ja auch noch da. Außerdem muss ich nicht täglich zum Mars fliegen. Ich kann zum großen Teil von zu Hause aus arbeiten und forschen.“

                            Sam nickte vor sich hin. „Klingt vernünftig. Wie soll unsere Tochter denn eigentlich heißen? Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen!“

                            Nurara sah ihren Sam fest an. „Jelana“, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

                            „Jelana? Das klingt schön. Ist das ein marsianischer Name?“, wollte Sam wissen.

                            Nurara lächelte. „Ja, und nicht nur das. Es ist die marsianische Variante von ‚Helene‘. Ich möchte damit das Andenken an deine verstorbene Frau ehren.“

                            „Oh Nurara, das ist … das ist einfach wunderbar. Ich danke dir!“ Sam blinzelte eine kleine Freudenträne weg. „Ich liebe dich!“

                            „Ich liebe dich auch Sam, über alles in der Welt. Ich …“ Nurara stockte und warf einen Blick durch die Windschutzscheibe und brüllte wie von der Tarantel gestochen: „Halt an, Sam! Halt sofort da vorne an! Bitte!“

                            „Wie? Was? Ja, natürlich. Alles was du willst. Was ist denn da?“ Sam lenkte den Sportgleiter die Ausfahrt hinunter.

                            „Raumschiffhändler …“, stieß Nurara hervor. „Raumschiffhändler … Den habe ich schon auf der Hinfahrt gesehen. Ich will sehen, was der so hat. Bitte Sam! Nur mal gucken!“

                            „Hmmm, na gut. Wir haben es ja nicht eilig“, brummte Sam und steuerte auf das riesige Gelände, das mit unzähligen gebrauchten Frachtschiffen verschiedenster Größen vollgestellt war. „Aber was willst du mit einem Frachter?“

                            Nurara zappelte aufgeregt wie ein kleines Mädchen auf dem Sitz. „Der hat bestimmt auch Yachten und so. Komm schon!“

                            Wie Nurara und Sam über das weitläufige Gelände schlenderten und sich die ausgestellten Raumschiffe ansahen, bemerkten sie nicht, dass der verbeulte graue Pickup, der sie seit der Abfahrt vom Packanack Lake unerkannt verfolgt hatte, neben der Einfahrt zum Stehen kam. Alruna Peyo beobachtete das Paar durch sein Elektronenfernglas. Nurara trug ein weißes Sommerkleid mit schmalen Trägern und flache Schuhe, ihr grünes Haar fiel ihr locker auf die gebräunten Schultern. Der große, schwarzhaarige Mann trug sportlich legere Freizeitkleidung. Sie unterhielten sich mit einem Verkäufer, lachten und scherzten. In Alruna stieg die Wut auf. „Seine“ Nurara sollte nicht mit einem anderen Mann als mit ihm selbst zusammen sein. Kein anderer Mann in der bekannten Galaxis hatte diese Frau verdient. Er tastete blind mit der rechten Hand auf den Beifahrersitz und konnte das kalte Metall seines alten Smith & Wesson Revolvers fühlen. Er hatte noch fünf Patronen übrig. Das würde reichen. „Wie schön du doch bist, Nurara. Es ist so schade …“, flüsterte er.

                            „Und Sie haben tatsächlich nur Frachtschiffe?“, fragte Nurara etwas enttäuscht.

                            Ervin, der Verkäufer sah Nurara mitfühlend an und antwortete: „Das ist unser Geschäft, Ma’am. Mit gebrauchten Yachten lässt sich leider kein Geld verdienen. Aber warten Sie mal, lassen Sie mich kurz nachschauen.“ Er tippte ein paar Befehle in das Datapad, das er mitführte. Plötzlich verwandelte sich seine konzentrierte Miene zu einem breiten Lächeln. „Ich glaube, ich habe da was, das könnte Sie interessieren. Bitte folgen Sie mir!“

                            Das Trio setzte sich in Bewegung. Gemeinsam marschierten sie knapp fünf Minuten über das große Areal. „Sagt Ihnen der Begriff Helios Drive Yards etwas?“, fragte Ervin leutselig.

                            Sam schüttelte den Kopf, aber Nuraras Augen weiteten sich und sie nickte eifrig. „Die HDY bauen edle, sportliche Luxusyachten. Irre teuer die Dinger.“

                            Ervin bestätigte dies mit einem knappen Nicken. „Korrekt, Ma’am. Und sie bauen nur nach Kundenwunsch. Jedes Schiff, das die HDY-Werften verlässt, ist ein Unikat. Hier, wir sind da.“

                            Hinter einem Containerschiff der Colossus-Klasse duckte sich ein schnittiges, dunkelgrün lackiertes Raumschiff von etwa sechzig Metern Länge. Es hatte zwei Decks, organisch wirkende Flügel, die der Optik eines Mantarochens entlehnt waren, zwei massive Triebwerke für den Atmosphärenflug, die sich harmonisch in den Übergang zwischen Tragflächen und Rumpf schmiegten, sowie zwei große, ehrfurchtgebietende Schubdüsen für den Vortrieb im All. Am spitz zulaufenden Bug prangte eine kleine Teufelsfigur im Sprung. Darunter stand der treffende Name des Schiffes: Up jumped the Devil.
                            „Eine HDY RK-700“, begann Ervin. „Das Schiff ist de facto fabrikneu, die Maschinen sind mit zwanzig Betriebsstunden noch nicht einmal eingelaufen. Es hat gerade mal die Überführung vom Uranus hier her hinter sich.“

                            „Wenn es aber doch eine Einzelanfertigung ist, wieso hat der Eigner das Schiff nicht übernommen?“, wollte Sam wissen.

                            „Der Eigner, Sir, war ein berühmter Musiker. Er hat die Fertigstellung seines Schiffes leider nicht mehr erleben dürfen. Zwei Wochen vor Auslieferung starb er an einer Überdosis Morph. Sehr bedauerlich. Siebenundzwanzig Jahre alt…“

                            Nurara verzog säuerlich den Mund. „Sowas nennt man landläufig schlechtes Omen“, stellte sie lakonisch fest.

                            Ervin erschrak. „Dann … dann haben Sie kein Interesse?“

                            Nurara machte mit dem Zeigefinger eine verneinende Geste. „Wer sagt das? Ich bin nicht abergläubisch. Ich würde gerne mal an Bord gehen.“

                            Ein Lächeln huschte über Ervins Gesicht. „Selbstverständlich gerne. Bitte!“ Er drückte auf seinem Datapad herum und die Einstiegsluke öffnete sich zischend. „Das Schiff verfügt nicht über eine Druckschleuse. Vielmehr können Sie ein Energiefeld aufbauen, das Druck und Atemluft im Inneren festhält und trotzdem durchschreitbar ist.“ Er führte Nurara und Sam hinein. Die Luft war etwas abgestanden, dennoch roch sie intensiv nach frischem Holz, Leder und neuen Metallen und Kunststoffen. Die Devil wurde ab der Luke zum Heck hin breiter. An Steuerbord befand sich eine üppig gepolsterte Rundecke mit einem Tisch in der Mitte. „Der Tisch ist im Boden versenkbar. Hier haben wir die Pantry und im rückwärtigen Bereich liegen vier geräumige Doppelkabinen mit eigenen sanitären Anlagen. Zentral dahinter finden Sie den Durchstieg zum Maschinenraum und einen kleinen Frachtraum. Gehen wir mal nach vorn ins Cockpit.“

                            Nuraras Augen glänzten vor Freude. Dieses Schiff sagte ihr zu. Es war groß, geräumig und nach allem, was sie über HDY-Produkte wusste, sehr schnell und wendig. Das Cockpit war, bedingt durch den spitz zulaufenden Bug eng, aber nicht ungemütlich. Pilot und Copilot saßen dicht beieinander, dahinter gab es noch zwei weitere, komfortabel gepolsterte Sessel. Direkt hinter der Cockpittüre, im Korridor, führte eine steile Treppe zum Oberdeck. „Was ist da oben?“, wollte Nurara wissen.

                            Ervin grinste. „Die Eignerkabine. Gehen Sie ruhig hinauf.“

                            Nurara ließ sich das nicht zweimal sagen. Wie ein geölter Blitz stürmte sie den Niedergang hinauf, dicht gefolgt von Sam und Ervin. Die beiden Männer hörten nur ein verzücktes Kreischen von ihr. Zentral in der Kabine befand sich ein kreisrundes Bett von knapp drei Metern Durchmesser, dessen Matratzen noch in ihre Schutzfolien eingeschweißt waren. An der Rückwand gab es eine Schiebetür, die offen stand und den Blick in ein luxuriöses Badezimmer freigab. Die Wände waren gesäumt von mit edlem Holz verkleideten Schränken. „Das ist irre! Sam, ich will dieses Schiff haben! Unbedingt!“ Nurara zitterte vor Aufregung.

                            Ervin grinste verschmitzt und drückte einen Knopf an der Wand. „Sehen Sie nach oben, Ma’am“, flüsterte er geheimnisvoll. Sam und Nurara sahen zur gewölbten Decke, welche ihre Farbe veränderte und mit einem Mal transparent wurde und das volle Sonnenlicht hereinließ.

                            „Wahnsinn“, flüsterte Sam.

                            „Was soll das Schiff kosten?“, fragte Nurara ohne den Blick von der Decke abzuwenden. In Gedanken sah sie sich bereits mit Sam in diesem Bett liegen und einen Sternenhimmel betrachten.

                            Ervin räusperte sich. „Nun, äh, sechseinhalb …“

                            Nurara trat an den Verkäufer heran und sah ihm fordernd in die Augen. „Wie lange steht dieses Schiff schon hier?“

                            „Etwa vier Monate.“

                            „Es müsste einmal komplett durchgecheckt werden, in vier Monaten können Standschäden auftreten … ich würde drei dafür geben.“

                            Ervin schüttelte den Kopf. „Ich könnte Ihnen bestenfalls fünfhunderttausend entgegen kommen. Den Checkup gebe ich Ihnen inklusive.“

                            Nurara sah Sam an. „Schatz, ich habe meine Tasche im Gleiter liegen lassen. Wärst du so lieb, sie mir zu holen?“

                            „Klar, Süße, bin gleich wieder da.“ Da Sam ohnehin keinen Einfluss auf Nuraras Entscheidung nehmen konnte und wollte, machte es ihm nichts aus, sich für zehn Minuten die Beine zu vertreten und ihre Tasche aus dem Mustang zu holen.

                            Zehn Minuten, soviel Zeit blieb Nurara, um mit Ervin einig zu werden. Als sie hörte, dass Sam das Schiff verlassen hatte, sah sie Ervin unverbindlich lächelnd an. Mit einem Mal wurden ihre Züge hart und unnachgiebig. „Ervin. Ervin, Ervin …“, murmelte sie und streichelte zärtlich ihren Bauch. „Ervin, ich trage ein kleines Mädchen in mir und ich möchte, dass meine Tochter sicher in diesem Schiff aufgehoben ist. So sicher, wie sie gerade in meinem Bauch ist, Sie verstehen?“

                            „Selbstverständlich, Ma’am, aber worauf wollen Sie hinaus?“ Ervin schaute Nurara verwundert an. Er war über alle Maßen erstaunt über ihren Launenwechsel.

                            „Wie ist dieses Schiff bewaffnet?“

                            Ervin rief die Schiffsdaten auf seinem Datapad auf. „Nun, es verfügt über die üblichen sechs Sonarkanonen, je zwei in den Flügeln und zwei in der Bugspitze.“ Der Begriff "Sonarkanone" war eigentlich irreführend. Tatsächlich verschossen diese Kanonen keinen Schall, was in der Leere des Weltalls wirkungslos gewesen wäre, sondern hochfrequente Energieimpulse, die beim Auftreffen auf einen instabilen Gegenstand diesen in Schwingung versetzten und irgendwann zerrissen. Diese Technologie fand ursprünglich Anwendung im Weltraumbergbau. Mit raumschiffgroßen Sonarkanonen wurden Asteroiden gesprengt, um sie nach ihren Rohstoffen auszubeuten. Die kleineren Varianten fanden Einzug in der zivilen Raumfahrt, um beim Flug durch Asteroidenfelder Schiff und Besatzung vor kleineren, herumfliegenden Brocken zu schützen. An Raumschiffen selber konnten Sonarkanonen äußerlich keinen Schaden anrichten, dennoch war ihr Einsatz gegen Raumschiffe verboten, denn der Treffer einer Sonarkanone auf einem Hohlkörper, wie einem Schiffsrumpf, verursachte ähnlich laute und schmerzhafte Geräusche wie das Läuten einer Kirchenglocke, in deren unmittelbarer Nähe man sich befand. Platzende Trommelfelle, Blutstürze und Herzrhythmusstörungen wären die Folge. „Unter dem Rumpf hat dieses Modell noch einen Waffenschacht frei.“

                            Nurara verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn Sie mir in diesen Schacht eine Ionenpulskanone einbauen, gebe ich Ihnen vier Millionen für dieses Schiff. Vollgetankt und durchgecheckt.“

                            „Eine Ionenpulskanone? Was haben Sie vor? Wollen Sie Piraterie betreiben?“ Ionenpulskanonen konnten die Elektronik und Bewaffnung eines Schiffes lahmlegen, ohne es zu beschädigen oder die Besatzung zu gefährden.

                            Nurara lachte herzhaft. „Nein, Ervin. Die Zeiten sind vorbei. Ich bin nur noch auf Sicherheit bedacht.“

                            „Aber ich habe keine derartigen Waffen …“

                            Nurara seufzte. „Ervin, mein lieber Ervin. Warum schwindeln Sie denn so? Direkt nebenan steht ein Colossus K-123, der bald auseinander fällt. Wenn der keine Ionenpulskanonen hat … vier Millionen plus Check plus Sprit. Wir sollten uns langsam einig werden, bevor mein Mann wieder da ist.“

                            Ervin zögerte einen Moment, dann sah er ein, dass er dem Charme und dem Fachwissen dieser schönen Frau nichts entgegenzusetzen hatte. „Also gut. Mein letztes Angebot: fünf und Sie bekommen die Devil so, wie Sie wünschen.“ Ervin hielt ihr die Hand hin, auf dass Nurara einschlug.

                            Nurara hörte Schritte näherkommen. Sie entspannte ihre Gesichtszüge und schlug ein. „Einverstanden. Liefern Sie mir dieses Prachtstück auf den Landeplatz der Weltraumpolizeibehörde in New York City.“
                            Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

                            Mission accomplished.

                            Kommentar


                              #89
                              Jede Geschichte braucht ihre Katastrophe. Hier kommt sie.






                              Als Nurara und Sam wieder auf der Interstate waren, saß Nurara selig lächelnd auf dem Beifahrersitz. Sie sagte keinen Ton, sondern grinste nur vor sich hin. Plötzlich klingelte die Komm-Einheit des Mustangs. Sam nahm das Gespräch an und auf dem Bildschirm erschien Jonathan. „Hey, Dad! Was gibt es?“, rief Sam gut gelaunt.

                              Jonathan lächelte. „Wo seid ihr zwei Turteltauben gerade? Warum grinst Nurara so? Ich frag besser nicht …“

                              „Wir sind auf dem Heimweg, Dad. Wir brauchen noch etwa zwanzig Minuten. Was ist denn?“

                              „Könnt ihr noch auf einem Sprung beim Gericht vorbeikommen? Nurara, Richter Callahan möchte dich gerne sehen.“

                              „Warum?“, wollte Nurara wissen.

                              „Überraschung …“, gab Jonathan geheimnisvoll zurück. „Wartet es ab.“

                              „Dad, es ist Samstag! Wieso sollte jemand bei Gericht heute arbeiten?“, warf Sam verwundert ein.

                              „Frag nicht, Junge. Macht, dass ihr herkommt. Und rase nicht so Sam, du weißt, dass du jetzt auf zwei Frauen aufpassen musst!“ Jonathan schaltete ab.
                              Sam und Nurara sahen sich einen Moment verdutzt an während sie näher an New York City herankamen. Sie hatten immer noch nicht bemerkt, dass der alte, verbeulte Pickup die Verfolgung wieder aufgenommen hatte…



                              New York State Supreme Courthouse, Büro von Richter Callahan


                              Als die beiden das Büro von Richter Callahan betraten, saßen bereits Marshall Garnie, Jonathan und Katherine dort beim Kaffee in ziviler Freizeitkleidung. „Miss Nurara, Mister McCabe, schön dass Sie es noch so schnell geschafft haben“, rief Callahan freudig. „Bitte, nehmen Sie doch Platz.“

                              Nurara und Sam setzten sich. Beide hatten keine Ahnung, was jetzt passieren würde, aber ein Blick in die grinsenden Gesichter der anderen sagte ihnen, dass es eine gute Nachricht sein musste. Callahan ließ sich in seinen antiken Ledersessel fallen, setzte seine Lesebrille auf und nahm ein Stück Papier in die Hand, auf dem das Regierungswappen prangte.
                              „Meine liebe Nurara“, begann Callahan, der in Hemd und karierter Golfhose mehr wie ein gemütlicher Großvater denn wie ein altehrwürdiger Richter aussah. „Sie haben Ihr Resozialisierungsprogramm erfolgreich hinter sich gebracht und vom ‚Ettore DiLauro‘-Institut eine hervorragende Beurteilung erhalten. Major Ballard hier war so frei, eigenmächtig diese Beurteilung Präsident Cashew zur Bewertung vorzulegen. Der Präsident hat mich und Ihren Anwalt heute Morgen deswegen vom Golfplatz wegzitiert, was Jonathan und ich recht wenig amüsant gefunden haben.“ Er sah Nurara streng an und fuhr fort: „Der Grund, warum der Präsident uns einbestellt hat, ist diese Verfügung, die ich jetzt hier verlesen soll. Ich bitte alle Anwesenden, sich zu erheben. Die Anwesenden kamen des Richters Aufforderung nach und eine gespannte Stille senkte sich über die Gruppe. Callahan räusperte sich einmal und verlas mit kräftiger Stimme den Inhalt des Dokumentes:

                              ‚Im Namen des terranischen Volkes und der Regierung des Sonnensystems begnadige ich hiermit die Verurteilte Nurara. Der Haftbefehl und die Bewährung sind mit sofortiger Wirkung aufzuheben.
                              Gezeichnet
                              Cashew, Präsident‘

                              Bitte nehmen Sie wieder Platz, meine Damen und Herren!“

                              Einen Moment herrschte angespanntes Schweigen im Büro des Richters. Dann brandete allgemeiner Jubel auf. Nurara fiel nacheinander allen Anwesenden um den Hals. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.

                              Auf der Treppe vor dem Gerichtsgebäude machte Sam kurz halt. Er stand mit Nurara auf dem großen Absatz, Katherine und Garnie blieben einige Stufen darüber stehen. Jonathan war noch bei Callahan geblieben. „Nurara“, sagte Sam, „das war ein großartiger Tag für uns und ich möchte dich jetzt etwas fragen.“ Er kramte in seiner Hosentasche und zog ein kleines Kästchen hervor. Er öffnete es und ein silberner Ring mit einem stattlichen Edelstein kam zum Vorschein. Nurara schlug mit großen Augen verblüfft und atemlos die Hände vor den Mund, als Sam sich vor ihr hinkniete. „Nurara, willst du …“

                              „Nurara! Hey, Nurara!“, rief plötzlich jemand von den unteren Treppenabsätzen. Unten auf der Straße war ein verbeulter, alter Pickup-Gleiter geparkt, von dem ein junger Mann mit langen, zotteligen schwarzen Haaren kam und die Treppe hinaufstürmte. „Nurara, endlich habe ich dich wiedergefunden!“ Sam war aufgestanden und sah Nurara fragend an. Diese zuckte nur verständnislos mit den Schultern. Der junge Mann kam näher. Er trug eine verschlissene Armeejacke, löcherige Hosen und wirkte im Großen und Ganzen sehr ungepflegt. Als er auf dem Treppenabsatz zum Stehen kam, musste er einmal kräftig durchatmen. „Nurara, es ist so schön, dich endlich zu treffen. Weißt du noch, wer ich bin?“

                              „Nein, ich habe keine Ahnung wer Sie sind. Was wollen Sie?“, fragte Nurara verärgert. Der junge Mann, er war in Nuraras Alter, schob seine fettigen Haare aus dem Gesicht und sah ihr direkt in die Augen. Nurara erschrak. „Peyo!“, keuchte sie. „Alruna Peyo. Was willst du kleiner Stinker von mir? Du hast es anscheinend immer noch nicht kapiert, was? Kat, das ist die hässliche Kröte, von der ich dir erzählt habe. Alruna Peyo, die lästige Schmeißfliege, die mir an der Uni nachgestellt hat.“

                              „Was ich will? Ich werde dich jetzt mitnehmen, Nurara. An einen Ort, wo wir beide glücklich sind …“ Seine Stimme war zu einem gefährlichen, halbirren Singsang geworden.

                              „Wie hast du mich überhaupt gefunden?“, fragte Nurara verwundert.

                              Alruna zog sein Datapad aus der Jackentasche und hielt ihr das Display mit dem leuchtenden roten Punkt hin. „Das Amulett mit dem roten Stein, ich sehe, du trägst es noch. Weißt du noch, wie du da rangekommen bist?“
                              Nurara sah an sich herab. Sie trug dieses Amulett seit Jahren. Sie hatte es in ihrem Spind an der Uni gefunden und es nie im Fundbüro des Campus abgegeben. Sie hatte sich auch nie gefragt, woher es kam und wer es in ihren Spind gelegt hatte.
                              „Der Ring ist ein Sender mit Antenne und der kleine rote Stein eine Energiezelle. Es reagiert auf Körperwärme, hihihi“, sagte Alruna mit einem irren Kichern.

                              Nurara riss sich das Amulett vom Hals und warf es Alruna vor die Füße. „Da hast du es wieder, die miese kleine Ratte. Nimm es und verpiss dich endlich!“, schrie sie.

                              Alruna ging zwei Schritte rückwärts und griff hinter sich. Blitzschnell zog er einen gefährlich aussehenden, antiken Revolver hervor, der in der Sonne blitzte. Katherine und Garnie schalteten sofort. Alruna Peyo war der Mörder der beiden Rulwakowa-Frauen. Ebenso schnell zog Katherine ihre Protonenpistole unter ihrer Jacke hervor und schrie: „Runter mit der Waffe, Mister! Sofort! Sie sind festgenommen.“

                              „Halt die Fresse, du Schlampe!“, brüllte Alruna und gab zwei Schüsse in ihre Richtung ab. Einer verfehlte Katherine nur knapp am Kopf, der andere Schuss traf sie in die Schulter und zertrümmerte ihr linkes Schlüsselbein. Mit einem gellenden Schmerzensschrei kippte Katherine nach hinten über und schlug hart mit dem Kopf auf die Kante einer Treppenstufe auf. Garnie ließ sich sofort nieder und kümmerte sich um sie. Die umstehenden Passanten liefen mit panischen Schreien davon. Alruna richtete die Waffe auf Nurara. „So, mein Schatz. Jetzt zu uns beiden.“

                              Sam hob abwehrend die Hände und wollte sich schützend vor Nurara stellen. „Hören Sie, Mann. Lassen Sie das! Nurara ist schwanger, verstehen Sie? Seien Sie bitte vernünftig, bevor noch mehr passiert.“ Er ging langsam mit ausgestreckten Händen auf Alruna zu, den Ring noch immer zwischen den Fingern.

                              „Nurara ist schwanger? Von dir, du Scheißkerl? Sie hat nicht schwanger zu sein, nicht von dir und nicht von irgendjemand anderem! Sie ist eine Göttin und du bist ihrer nicht würdig!“ Alruna hob die Waffe in Richtung Sam und drückte zweimal ab.
                              Die Schüsse peitschen durch die Luft. Eine Kugel traf Sam mitten ins Herz, die zweite Kugel zerfetzte seine Halsschlagader. Sein heißes Blut spritzte und besudelte Nuraras Gesicht und ihr weißes Sommerkleid. Sam brach zusammen und bewegte sich nicht mehr. Der Ring, den Sam eben noch festgehalten hatte, kullerte die Treppenstufen hinab und blieb außer Sichtweite liegen.
                              Inzwischen waren ein halbes Dutzend Polizisten auf dem Treppenabsatz angekommen und hatten auf Alruna angelegt. Kommandos, die Waffe endlich fallen zu lassen wurden vielfach gerufen. Alruna hob die Hände, den Revolver immer noch in der Hand. Langsam drehte er sich einmal im Kreis, um die Situation zu erfassen. Sirenen heulten auf. Er konnte sein eigenes Blut in den Ohren pochen und rauschen hören. Nurara stand vor ihm, Sam‘s Blut im Gesicht und auf dem Kleid, den Mund offen und starr vor Schreck. „Nurara, sieh was du angerichtet hast. Du hast mein Leben zerstört und ich deins. Wir sind aber noch nicht ganz quitt, hihihi!“ Langsam spannte er den Hahn des Revolvers. Die letzte Kugel in der Trommel wanderte hinter den Lauf, dann legte er auf Nurara an. Er erwartete jeden Moment die Schüsse der Protonengewehre peitschen. Aber nichts geschah. Dann nahm er die Mündung des Revolvers in den Mund und drückte ab. Der Schuss brach mit einem ohrenbetäubenden Knall. Darauf folgte Stille.

                              Nurara ging schwankend zwei Schritte vorwärts und sank neben dem toten Sam auf die Knie. Um sich herum nahm sie nichts wahr, nicht Katherines schmerzvolles Wimmern, nicht die Sirenen der näherkommenden Ambulanzen und nicht das panische Stimmengewirr. Sie sah nur den blutüberströmten Sam. Dann spürte sie in sich einen Schmerz, wie sie ihn noch nie zuvor gespürt hatte. Es war ein tiefer, unglaublicher Schmerz in ihrem Bauch. Ein Schmerz, der all jenen Verlust ausdrückte, den sie in diesem Moment erlebte. Sie sah an sich herunter und bemerkte, wie sich der Schoß ihres Kleides rot färbte.
                              Sie schrie. Es war ein langer, herzzerreißender, unmenschlicher Schrei, der in den Häuserschluchten widerhallte.



                              New York City Central Medical Center, am frühen Abend

                              Schüsse, Schreie, Panik, Blut überall, Sam! Sam, bitte sag etwas! Schmerzen … Jelana, nein bitte nicht! Jelana!!!!
                              Schweißgebadet wurde Nurara wach. Das einfallende Licht der untergehenden Sonne blendete sie. Sie fühlte sich schwach und müde, aber sie hatte keine Schmerzen, es ging ihr gut. Sie hatte Durst. Sie sah sich in dem weiß getünchten Raum um. Wo war sie? Nurara hatte keine Orientierung. Rechts von ihr war ein Fenster, an dem ständig Menschen vorbeigingen, dann eine Schiebetür. Ein Wandschrank. Ein Tisch und zwei Stühle. Auf einem Stuhl saß ein älterer Mann, der wie Sam aussah. Eine kahle Wand, an der auf halber Höhe ein Fernsehgerät angebracht war. Links von ihr war das große Fenster, durch das das orange-rote Licht der sinkenden Sonne hereinfiel. Direkt neben ihr stand ein Ständer mit einer Flasche durchsichtigen Inhalts, aus der ein Schlauch zu ihrem Unterarm führte. Ihr Blick wanderte zurück zu dem Mann, der wie Sam aussah. Nuraras Blickfeld war etwas verschwommen, sie musste sich anstrengen, klar zu sehen. Je mehr sie sich konzentrierte, desto mehr Details wurden ihr bewusst. Die schwarzen Haare, die grauen Schläfen, die randlose Brille – es war nicht Sam, sondern sein Vater Jonathan. Seine Augen waren rotgeweint, aber er bemühte sich um ein Lächeln, was ihm sichtlich schwerfiel. Er stand auf und kam langsam zu ihr. Er setzte sich auf den Rand ihres Bettes, legte seine rechte Hand zärtlich auf ihren Bauch und nahm mit der anderen Hand die von Nurara.
                              „Hast du Schmerzen?“, fragte er mit leiser und besorgter Stimme.

                              Nurara schüttelte langsam den Kopf. „Sam?“, fragte sie, ihre Stimme war nur ein leises Krächzen.

                              Jonathan schloss die Augen, kurz davor wieder zu weinen und schüttelte ebenfalls langsam den Kopf. „Er ist tot, Nurara.“

                              „Warum? Er hat doch nichts getan!“

                              Jonathan packte ihre Hand fester. „Er hat versucht, dein und das Leben eures Kindes zu retten und es mit seinem eigenen bezahlt.“

                              „Es ist alles meine Schuld, Jonathan. Es … es tut mir so leid!“

                              „Niemand gibt dir die Schuld, Nurara. Nichts läge mir ferner, als dich für die heutigen Ereignisse verantwortlich zu machen. Vor mir brauchst du keine Angst zu haben, ich gebe dir keine Schuld.“

                              „Was ist mit … habe ich …Jelana …“

                              Jonathan legte einen Zeigefinger auf Nuraras Lippen. „Schhhhh, die Ärzte haben gesagt, du hattest sehr, sehr viel Glück. Es war nur eine Schockblutung. Unserer kleinen Jelana geht es sehr gut. Du bist sehr stark und die Kleine ist es auch. Dem Kind ist nichts passiert. Aber du musst dich jetzt besonders schonen.“

                              Nurara ließ ihren Kopf in das Kissen fallen und starrte ausdruckslos an die Decke. „Was ist mit Kat?“, wollte sie wissen.

                              „Sie wird gerade operiert. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut, mehr weiß ich auch nicht“, antwortete Jonathan. „Ich muss jetzt gehen, Nurara. Sam muss innerhalb von drei Tagen beerdigt werden.“ Jonathan ließ Nuraras Hand los, legte sie sanft auf ihrer Brust ab und stand auf. An der Tür wandte er sich noch einmal zu ihr. „Ich komme morgen wieder, Nurara, lass mich bitte wissen, wenn ich etwas für dich tun kann. Du kannst mich Tag und Nacht erreichen.“

                              Nurara sah ihm nach. „Danke, John. Ich habe deine Fürsorge nicht verdient“, flüsterte sie benommen.

                              Jonathans Miene wurde ärgerlich. „Rede keinen Mist, du wärst um ein Haar meine Schwiegertochter geworden und du trägst meine Enkelin in dir. Nenne mir nur einen Grund, warum du meine Fürsorge nicht verdienen solltest. Ob du willst oder nicht, betrachte dich als Familienmitglied der McCabes. Und wenn du es nicht für dich tust, tu es für Jelana! Ich liebe dich, als wärst du meine eigene Tochter.“ Als Jonathan ohne ein weiteres Wort das Krankenzimmer verlassen hatte, bekam Nurara einen Weinkrampf. Es war, als kreisten Stimmen um sie.

                              „Ich liebe dich Sam, ich liebe dich, wie ich noch nie zuvor jemanden geliebt habe. Bitte verlasse mich nie mehr.“

                              „Hab keine Angst, Nurara, wenn ich dich jemals verlasse, soll es das Letzte sein, was ich in meinem Leben tue. Darauf hast du mein Wort.“

                              „Ich liebe dich, als wärst du meine eigene Tochter.“


                              Nurara wusste, dass man sie jetzt nicht allein ließ. Dennoch fühlte sie sich unendlich einsam.

                              Nurara,
                              ich vermisse dich! Es ist Zeit …
                              V.


                              Nurara fasste noch auf dem Krankenbett einen Entschluss.
                              Für mich ist Gleichberechtigung dann erreicht, wenn es genauso viele weibliche wie männliche Idioten gibt.

                              Mission accomplished.

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                                #90
                                Zitat von Nurara McCabe Beitrag anzeigen
                                Jede Geschichte braucht ihre Katastrophe. Hier kommt sie.
                                Ich war schon bim ersten Lesen geschockt und ich bin es wieder.
                                Aber seien wir doch ehrlich. Wer kann sich Nurara schon als Ehefrau und Hausweibchen vorstellen?

                                ... und letztendlich ist diese Geschichte ja der Grundstein für weitere tolle stories von Dir.
                                ZUKUNFT -
                                das ist die Zeit, in der du bereust, dass du das, was du heute tun kannst, nicht getan hast.
                                Mein VT: http://www.scifi-forum.de/forum/inte...ndenz-steigend
                                Captain Future Stammtisch: http://www.scifi-forum.de/forum/inte...´s-cf-spelunke

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