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    [SF] - Der Trick

    Der Trick


    »Bin ich wach?«
    »Ja.« Sie verzieh ihm die dumme Frage.
    »Ist das...?« fragte er, die Augen zusammenkneifend und voll Schwäche und Müdigkeit kaum in der Lage, auf einen Bildschirm zu zeigen.
    »Ja«, antwortete sie.
    Die Anzeigefläche war fast vollständig schwarz und wäre der Aufwachraum nicht verdunkelt gewesen, so hätte sich die kleine Scheibe aus blassen, grauen Lichtreflexen vor dem Hintergrund gar nicht abgehoben.
    Da erklang in der Steuerzentrale ein Signalton, unmissverständlich, so enervierend. Eva verschwand mit den Worten, sie müsse den Alarm abstellen, einen Weckruf, den sie aktiviert hatte, um nicht Gefahr zu laufen, ihrer Restmüdigkeit nach dem Kälteschlaf zum Opfer zu fallen.

    Er lag immer noch auf seiner Pritsche. Erst nachdem einige Sekunden vergangen waren, spürte er die Gurte, die seinen Leib festhielten. Er hätte rufen und darum bitten können, sie zu lösen. Vermutlich hätte es nach der Rückkehr Evas bereits ausgereicht, sich zu räuspern, um darauf aufmerksam zu machen. Er schwieg und ließ nach der Anspannung seiner Muskeln den Oberkörper langsam wieder zurück sinken. Mit geschlossenen Augen dachte er nach und das beständige Rauschen der Luftumwälzer und Kühlaggregate verschwamm bald zu einem undifferenzierbaren Klangteppich, ehe er auch diese Eindrücke verlor und ganz und gar in seine Gedankenwelt hinabtauchte.
    Er glaubte sich an einen Traum aus dem Kälteschlaf erinnern zu können, doch die Fetzen, die er sich zurück ins Gedächtnis zu holen mühte, widerstanden der Wirklichkeit nicht. Nur fünf Sätze hatten Eva und er seit seinem Erwachen gewechselt, und doch formten diese Fragmente einer menschlichen Unterhaltung immer neue Zusammenhänge, dehnten sich, als seien die vergangenen Minuten eine Zusammenfassung der Tage, Wochen, Monate und Jahre, in denen für die beiden Astronauten in der Rakete in Wahrheit nichts geschehen war.

    »Hier, nimm die rote, Stärkung des Metabolismus. Die gelbe vielleicht erst in ein paar Minuten«, sagte Eva. Er hatte ihre Rückkehr ebenso wenig bemerkt wie das Lösen der Haltegurte. Sein Körper schwebte nun einige Millimeter über der Bettauflage.

    »Gib mir die violette auch jetzt gleich«, meinte er schließlich, nachdem er ihrer Anweisung gefolgt war. Eva verstand es als Scherz, doch der Blick auf ihren eigenen Medikamentenschuber machte sie betroffen. Nach ihrem Erwachen hatte sie den Einnahmeplan nach Vorschrift eingehalten und nur vor den Antidepressiva innegehalten. Erst als Eva ihr störrisches Verhalten aufgefallen war, hatte sie sich besonnen und die violette Tablette geschluckt.


    Als sich beide in der Steuerzentrale zusammen gefunden hatten, bereitete Eva die bislang vorhanden Informationen auf.
    Die Rakete befand sich immer noch auf dem vorberechneten Kurs. Ihre Vorhut, eine Sonde, die aufgrund der nötigen Antriebssysteme annähernd die selben Ausmaße vorweisen konnte wie das Hauptraumschiff, lotete dabei verlässlich die Wegstrecke nach Gefahren aus. Sie erfüllte aber noch einen weiteren Zweck, denn indem sie die Umgebung nach Anomalien absuchte, oblag es ihr auch, Missionsziele neu oder umzudefinieren, falls eine eingehendere Untersuchung durch die Mannschaft sinnvoll erschien. Ein derartiger Fall, der eher theoretische als realistische Option gewesen zu sein schien, war nun eingetreten. Die Sonde war an einem Planetensystem vorbei geflogen, in dem eine starke Quelle elektromagnetische Wellen funkte. Die Signale wurden geprüft, ihre Muster mit hoher Wahrscheinlichkeit einem nicht natürlichem Ursprung zugerechnet. Nach der Analyse entschied die Sonde, den Kurs der Hauptrakete anzupassen und die Mannschaft aus ihrem Kälteschlaf zu erwecken.

    »Kann alles mögliche sein«, wertete er, dicht über den leise knackenden Lautsprechern gebeugt.
    »Eben.«
    Er vermochte ihre Euphorie nicht vorbehaltlos zu teilen. Nach dem ersten Studium der Daten konnte er nicht anders, als ernüchtert zu reagieren. Sie bemerkte das wohl, ohne die bei ihm zugrunde liegende Angst vor Enttäuschung bewusst erkannt zu haben. Die Berichte und Aufzeichnungen versah sie nun mit aufmunternden Kommentaren.
    »Wir haben noch nicht mal ein Tausendstel der Speichersätze begutachtet. Nach diesen bisherigen Ergebnissen hätte die Sonde wohl noch nicht reagiert.«
    Er benötigte den Perspektivwechsel, weg vom akustischen, hin zum optischen Rauschen auf einem Navigationsmonitor, der den Zielplaneten trotz aller technischen Anstrengung immer noch lediglich in eine zittrige Scheibe hellgrauer Bildpunkte verwandeln konnte. Ein Quietschen riss seinen Blick zurück.
    »Was war das?«
    »Ein Ausschlag«, antwortete Eva. Sie betätigte die Kontrolltasten, um den eben vernommen Aufzeichnungsabschnitt erneut abspielen zu lassen. Beide hörten gebannt zu, er schloss sogar die Augen. Unvermittelt löste sich aus dem Hintergrund der Töne, die so klangen, als prassele beständiger Regen gegen Metallbögen, eine schrille Spitze, die abebbte, ohne völlig in den Restklängen aufzugehen. Erst nach fast zwei Minuten einigten sich beide darauf, keine signifikanten Muster mehr wahrnehmen zu können, doch der nächste Ausschlag ließ nicht einmal eine Viertelstunde auf sich warten.

    Schließlich schaltete er die Aufzeichnung ab.

    »Wer von uns beiden wird gehen?«
    Es war eine stille Übereinkunft, einst durch launige Augenkontakte geschlossen, dass sie die offizielle Entscheidung übergehen würden. Die obligatorische Landung – egal ob auf dem eigentlichen Zielplaneten oder auf dieser Welt – sollte ihm vorbehalten sein, während Eva über das Mutterschiff im Orbit wachen würde. Wie töricht erschien ihnen nun dieses Spiel, das sie auf der Erde so leichtfertig eingegangen waren und das jetzt, durch die Aussicht auf Kontakt mit einer außerirdischen Intelligenz, noch einmal unermesslich an Tragweite gewonnen hatte.

    »Na«, meinte sie fast beiläufig, um seine Reaktion zu testen, »Du – wie in den Vorschriften festgehalten.«
    Einen Moment dachte er nach. »Was auf der Erde beschlossen wurde, gilt«, sagte er schließlich und beide verstanden, dass er damit nicht das Regelwerk der Entscheidungsträger meinte, die bereits vor vielen Jahren verstorben waren.


    Große Sendemasten und Funksatelliten im Orbit, die Unmengen Kommunikationssignale von einer Hemisphäre zur anderen, oder vom Planeten zu natürlichen oder sogar künstlichen Trabanten schickten, erschienen vor seinem inneren Auge. Das Aussehen der Außerirdischen fügte sich harmonisch zur Szenerie einer Technologie, die menschlichen Maßstäben gerecht wurde. Hätte er die Besonderheiten dieses Bildes jedoch weiter verfolgt, so wäre es ihm wahrscheinlich unmöglich gewesen, zu erklären, weshalb er sich die Bewohner des Planeten kleiner als die Menschen vorstellte und ihnen doch zwei Arme und zwei Beine zudachte.

    »Aber wie?« fragte sie nachdenklich, »wie entscheiden wir?«
    »Schach?« schlug er beschwingt vor, so als sei ihm die Idee spontan gekommen.
    »Dann ist die Angelegenheit schon entschieden. Du spielst zu schwach«, entgegnete sie und er grinste. Eva war sich nun gewiss: Das Spiel hatte längst begonnen, und weil sie ihm ohne weiteres zutraute, sich einen entscheidenden Coup in den Weiten des Alls durch die Schmach vieler Niederlagen auf der Erde erkauft zu haben, lenkte sie das Gespräch. Es war nicht weniger als die Unmöglichkeit einer Entscheidung, die sie aufzeigen wollte.
    »Und wer erhält Weiß?« forschte sie also nach.
    »Wer anfängt, klären wir über Münzwurf.«
    »Und wer wirft die Münze, beziehungsweise, wer fängt sie?« insistierte Eva.
    »Darüber lassen wir den Computer entscheiden.«
    Die Worte verklangen, kehrten aber in der wohlerwogenen Stille wieder ins Bewusstsein zurück und je länger sie dort ungestört wirken konnten, desto stärker entfalteten sie eine bedrohliche Wirkung. Ihre Einschätzung, in ihm einen Vertreter derjenigen zu sehen, für die Rechensysteme gute und wichtige Maschinen, aber dennoch nur Maschinen waren, bewahrheitete sich. Im Notfall würde er sich der künstlichen Urteilskraft anvertrauen, denn schon jetzt verließen sich beide Astronauten auf die Technik, um in der Unwirtlichkeit des Weltalls zu überleben. Doch die Schicksalswahl über zwei Menschen ließ sich damit nicht vergleichen. So hatte Eva ihn bedrängt, ihn wünschen lassen, er hätte die Anregung mit dem Computer als Starthilfe zum Entscheidungsprozess nie gewagt.
    »Ja, der Computer zieht für uns ein Los«, begann Eva von Neuem und als sie sah, dass er gerade zum Erwidern Luft holte, legte sie nach. »Der Computer ist vollkommen objektiv. Und wenn ich darüber nachdenke: Lassen wir ihn doch gleich entscheiden. Nicht nur über die Vergabe der Spielfiguren; Nein, über den Start selbst!«
    »Nein. Das wird nicht geschehen!« entgegnete er harsch.

    »Gut«, erwiderte sie aufrichtig und zweideutig zugleich, »gut, dann suchen wir weiter. Wir werden bestimmt ein Spiel finden, bei dem die Ausgangsbedingungen niemanden bevorzugen.« Und um sicher zu stellen, dass sich ihr Kollege nicht vom eben geschürten Unbehagen erholen konnte, nun, da der Computer nicht mehr Teil der Überlegungen war, fügte sie vollkommen trocken hinzu:
    »Glück wird man ja in jedem Spiel brauchen...«


    Schatten und Licht spielten in einer lebendig pulsierenden Welt, doch vollkommen finstere Wolken am Tage vermochte sich Eva nur schwer vorzustellen. In der Erwartung für außerirdisches Leben hingegen war sie weit weniger gebunden als er und so erlaubte sich Eva den Einstieg über die Frage nach der Essenz dieser Wesen über ihre merkwürdigen Signale, die sie von der Vorstellung wegtrieben, die physische Form der Fremden sei in den Mittelpunkt zu rücken. Vielmehr stellte sie Überlegungen an, auf welcher Basis ein kulturelles Netzwerk steht, das sich mit den Mustern menschlicher Kommunikationsanalysen nicht decken wollte: Noch immer waren die gefunkten Signale nicht zu decodieren. So forschte sie der Idee nach, wie sie die fremde Intelligenz überhaupt erkennen könnte und kam schließlich mit sich überein, sie müsse anpassungsfähig, agil, planvoll und zugleich intuitiv sein.


    Über Tage gärte der nicht ausgetragene Konflikt zusammen mit immer neuen Vorstellungen über außerirdisches Leben in ihnen. Dabei gelang es – nicht zuletzt durch geschicktes Einstellen der Tablettendosis – ihre Aufregung und die paranoide Empfindung zu kanalisieren, in der einzigen Ansprechperson einen Kontrahenten zu erkennen. Die Vorbereitung für die Landemission profitierte von ihrem Eifer, denn sie betrieben auch die seelenloseste Kalkulation und Systemprüfung von den unsinnigsten Vorstellungen und Projektionen über jenen Planeten und seine Bewohner beflügelt.
    In der vollkommen menschlichen Banalität hatten sie sich über Zeichen der Mimik und Gestik oder über kleine, scheinbar beiläufige Bemerkungen kultiviert aber unnachgiebig gestritten, wer von ihnen beiden diese andere Welt wirklich mit den Sinnen erfahren durfte, was bei all den weitentwickelten Geistesleistungen der Menschheit eine Wirklichkeit aus der bloßen Idee, der reinen Illusion eines Fremden erschaffen würde, denn was ist das Wissen um diese andere Welt, wenn man sie lediglich glauben kann, statt den Boden zu befühlen und zu betasten, die fremde Luft zu schmecken und die Umgebung zu riechen?

    Die Lösung des Problems, wie der Pilot für die Landemission zu bestimmen sei, erschien plötzlich.
    Beide saßen auf ihren Plätzen in der Steuerzentrale und wie in den Stunden zuvor hätten sie sich wohl weiter ihren Gedanken überlassen, wäre Eva nicht aufgefallen, dass ihr Kollege unter leichten Seufzern ausatmete. Die eingezogene Luft hielt er dabei immer ungewöhnlich lang an, um sie dann in einem unvermittelten Anfall von Entspannung zu entlassen. Als er ihren Blick auf sich ruhen fühlte, erklärte er sich.
    »Es ist nichts.«
    Sie schwiegen, nur für einige Sekunden.
    »Woran denkst du denn?« fragte Eva.
    »Ich glaube, ich denke überhaupt nicht.«
    »Denkst du über sie nach? Über sie und ihre Signale?«
    »Nein.«
    »Du denkst nicht nach? Was fordert denn dann Deine Konzentration?« meinte Eva und fuhr fort. »Melancholie? Sehnsucht nach der Erde?«
    »Nein.«
    »Es wäre nur zu verständlich: Die Welt, zu der wir kommen, ist nicht unsere eigene, aber auch die Erde, zu der wir zurückkehren, wird sich nach der lange Zeit, die vergangen ist, verändert haben. Ist es das? Du antwortest nicht? Für Zweifel wäre es jetzt auch zu spät.«
    Er schwieg noch einen Moment, spürte dann aber dem Fordernden nach, das in Evas Stimme gewesen war.
    »Nein, nein, es ist nichts. Ich«, begann er zögerlich und deutete auf den Fensterausschnitt direkt vor seinem Platz in der Steuerzentrale, »habe nur rausgeschaut. Ein Stern deckt sich mit der schwachen Spiegelung einer Instrumentenanzeige. Wenn man sich nur ein wenig bewegt, dann wirkt es, als würden diese beiden Lichter miteinander tanzen, oder als umgarne das diffusere Licht der Anzeige den feinen Punkt des Sternenlichts.«
    »Fall nur nicht in eine Hypnose! Die Beeinflussung durch die Tabletten ist schon stark genug«, sagte Eva.
    Schließlich war er es, der sich zu ihr wandte. Aus dem Nichts verkündete er, nun den Einfall gehabt zu haben, der ihr Problem lösen würde.


    Eva hörte sich den Vorschlag an, dachte nach.
    »Ein wenig kindisch«, meinte sie schließlich.
    »Kann sein, aber wichtiger ist doch, dass es funktionieren wird: Wir schauen einander in die Augen und wer als erster den Blick löst, hat verloren. Einverstanden? Es ist gerecht, weil nur wir die Entscheidung herbeiführen. Es ist eindeutig und es ist einfach.«

    ›Ja‹, dachte sie bei sich, und weiter: ›Wie die Tiere, anstarren.‹
    Aber sie nickte – und hatte bereits einen Plan.

    Die Kilometer verflogen und mit der schwindenden Distanz gewann der Planet an echter Struktur. Die Fleckenteppiche bildeten nicht den Kontrast aus Land und Wasser ab, sondern wurden durch optische und spektrale Abtaster als gigantische Wolkenkonvolute hauptsächlich aus Kohlenstoff mit Verunreinigungen entlarvt. In den Funkwust der Planetenbewohner Reaktionen auf die ausgesandten Grußbotschaften hineindeuten zu wollen, wäre der Projektion der Wünsche gleichgekommen, denn so springend und lebendig die zugleich undurchschaubaren Muster waren, die sie einfingen, so wenig bestand ein Zweifel an ihrer ziellosen Streuung ins All hinaus, die nur durch das planeteneigene Verlangen nach Austausch motiviert sein konnte. Doch es war bezeichnend für die Verfassung, in der sich die beide Astronauten befanden, seit sie von den Bordsystemen nur zu dem Zweck aus dem Kälteschlaf geholt worden waren, dem Planeten einen Besuch abzustatten, dass das vollkommene Mysterium der Signale den Reiz des Neuen nur noch steigerte und das Gefühl vermittelte, der Schlüssel zu diesem einzigartigen Moment in der Geschichte der Menschheit läge im echten Erleben.

    »Die Rechenarbeiten sind im Gange. Das Raumschiff wird geostationär bleiben, die Kapsel gemäß dem Standardverfahren landen und nach einem Ausstieg wieder zurückkehren. Die ersten Bremsmanöver setzen in wenigen Minuten ein. Es wird also Zeit«, sagte Eva.
    Sie beobachtete, wie er die Steuerzentrale verließ, dann wandte sie sich wieder zu den Instrumenten um. In einer Nebennische befand sich eine kleine Einheit, nicht mehr als ein zweizeiliges Display und zehn Ziffern-, sowie zwei weiteren Einstellungstasten darunter. Flink tippte sie viermal und bestätigte, die beiden Zahlenpaaren erschienen in der zweiten Reihe, darüber die Bordzeit.



    Ihre blauen Augen besaßen grüne Einsprengsel. Er hatte es nie bemerkt, und das, obwohl sie sich – die Zeit im Kälteschlaf nicht mitgerechnet – seit nun mehr als fünf Jahren kannten.
    Wieder konnten die Lüftungsgeräusche ihre stupide Dominanz ausüben, denn niemand sprach ein Wort.
    Während er ihre Augen betrachtete, blickte sie einfach durch ihn hindurch. Eva besann sich auf die Übungen der Ausbildung, die die Konzentration geschult hatten. Dabei unterdrückte sie die Gedanken an ihre eigene Strategie für den Sieg und hörte einfach auf das ihren regelmäßigen Atem und das ruhige Schlagen ihres Herzens.
    Er war immer noch nicht gesättigt vom Eindruck des weiblichen Augenpaars, das ihm nun so unheimlich erschien. Es war ein Moment, der die Kraft zu einer großen Wirkung gehabt hätte, doch stattdessen unterwarfen sich beide nicht mehr nur der Aufgabe des Astronauten, sondern entgeistigten sich.
    So verstrichen die Minuten und das Raumschiff näherte sich die entscheidenden Kilometer.


    Eva dachte nach. Die Uhr des Aufwachraums konnte sie aus den Augenwinkeln als vagen Fleck wahrnehmen. Es reichte nicht, um die digitale Anzeige zu sehen, denn die einzelnen Zahlen verschwammen zu Leuchtfeldern. Doch um den erst langsam zu vollem Bewusstsein gelangenden Astronauten dennoch möglichst früh wieder ein Zeitgefühl zu vermitteln, gab es noch die analoge Visualisierung mit ihren klar trennbaren Zeigern. Eva löste den Blick von seinen Augen nicht eine Sekunde und vermochte dennoch über die ungefähre Uhrzeit im Klaren zu sein.
    ›Es können nicht einmal mehr fünf Minuten sein‹, dachte sie und wähnte sich bereits in der Landungskapsel und während sie ihr gegenüber anblickte, sah das innere Auge schon das Panorama der fremden Welt. Doch hatte sie ihre Gedanken über viele Minuten zurück gehalten, sprangen sie jetzt von einer Idee zur nächsten. Vermutlich würde sie sich später darüber ärgern, dennoch gab sie der Erforschung des eigenen Zustands freien Lauf, und ließ schließlich sogar lang verborgene Zweifel gewähren.

    Sie schaute träge zur Decke.
    Er erwachte aus seiner Apathie, starrte aber weiterhin in ihr Gesicht.
    »Ich habe...«, begann er fast ungläubig.
    »...gewonnen«, vollendete sie.
    Einen Moment blieben beide noch sitzen, dann schnallte sie sich plötzlich und rasch ab und schwebte zur Steuerzentrale, indem sie sich an der nächstgelegenen Säule kräftig abstieß. Er blieb zurück.



    Er spürte seinen Herzschlag. Es lag, dachte er bei sich, bestimmt an den Antidepressiva, dass es ihm kaum gelang, den Überschwang an Gefühlen der Vernunft unterzuordnen. Er öffnete den Reißverschluss seiner Brusttasche, holte das Pillenetui heraus und zog den Schieber zurück. Seine leicht bebenden Finger waren gerade im Begriff, die grüne Pille zu fassen, da meldete sich Eva über den Lautsprecher.
    »Der Kontakt zur zweiten Sonde ist soeben abgebrochen, aber das kein Grund, sich Sorgen zu machen. Sie kam viel zu schnell runter. Das ist alles noch im Rahmen der Simulationen und eine Bestätigung für die Atmosphärendaten haben wir jetzt auch. Du wirst einen guten Abstieg haben. Ich schicke Dir eine weitere Sonde hinterher, schön langsam. Sie wird nur wenige hundert Meter von der Kapsel entfernt landen. Verstanden?«
    Er hatte jedes einzelne Wort vernommen, nur mit dem Ausklang der jeweils letzten Silben verschwand auch ihr Sinn im Nichts. Er versuchte sich zu räuspern und sie zu bitten, die letzten Sätze noch einmal zu wiederholen.
    »Verstanden«, entfuhr es ihm stattdessen. Er klappte den Etuischieber zurück.
    »Dein Start erfolgt nach Computersystem in zweiundsiebzig Sekunden automatisch. Achte auf die Bordsignale. Stellrad Vier muss auf Eins stehen, Rad Fünf auf Null. Du erinnerst Dich an den Simulator auf der Erde? Wenn was passiert ist, dann zuerst bei Rad Vier oder Fünf. Den Rest hast du ohnehin nicht in der Hand. Achtundfünfzig Sekunden bis zum Start. Ich erwarte Deinen Funkspruch, sobald du angekommen bist!«
    »Verstanden.«

    Die Absprengung von der Mutterrakete spürte man in der Landungskapsel als ein kurzes, dumpfes Dröhnen. Auf den Bildschirmen konnte er den Verlauf der Manöver beobachten. Die Kapsel wandte ihre abgerundete Rückseite der Planetenoberfläche zu. Um ihn wurde es finster. Nur die Blinklichter der Instrumente flackerten lebendig auf, während die Landefähre den Atmosphärenübergang meisterte. Die Anzeigen waren beruhigend, die Stellräder bedurften keiner Anpassung. So fand er auch Zeit, die Radioempfänger abzuhören. Noch immer lauschte er dabei einem wahnwitzigen Rauschen ohne begreifbare Botschaft, das im Abstieg Schwankungen unterlag. Die kleinen Seitenfenster blieben schwarz: wie feiner Russ schien etwas an der Außenseite des gesamten Vehikels als eine Art Andenken des Wolken–durchbruchs kleben geblieben zu sein.
    Er war gelandet.

    Die Außensensoren bestätigten die bisherigen Messungen: Der Außendruck und die planetare Schwerkraft war für Menschen angenehm und sogar die Außenluft stellte für kurze Zeit oder in geringen Dosen keine Bedrohung für den Organismus des Besuchers dar. Zum letzten Mal, bevor er tatsächlich seinen Fuß auf diesen Planeten setzen würde, schloss er die Augen, um sich die Oberfläche vorzustellen. Den Eindruck von Dunkelheit, der ob der Wolkenschichten schon aus der Umlaufbahn zu erwarten war, hatte er erst durch das Erlebnis der Landung verinnerlicht. Nun rechnete er mit einer von Moosen und Flechten überzogenen Welt oder mit einem Meer aus fahlen Pflänzchen, die kaum einen halben Meter über dem Boden in sanftem Wind hin und her wogten und damit Muster der Windspiele abbildeten. Das Licht des Sterns würde nach dieser Fantasie im Wechsel als Glimmen durch die Wolken drängen und nur hin und wieder durch Lücken in voller Intensität auf die Oberfläche niederfallen. Er erwartete eine an die extremen Bedingungen angepasste Flora und fand über streunende Gedanken zur Fauna den Weg zu letzten, kurzen Mutmaßung über die Lebewesen, die intelligent und technisch versiert genug waren, ihren Informationsaustausch über das Senden und Empfangen elektromagnetischer Wellen zu betreiben. Ohne es zu merken, seufzte er auf. Die letzte Botschaft vor Verlassen der Kapsel galt Eva.

    Bis er die Ausstiegsleiter nicht bezwungen hatte, wollte er keinen Blick auf die Umgebung wagen – ein Unterfangen, das ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre: Nachdem das Außenschott aufgesprungen war, hatte er sich mit geschlossenen Augen langsam mit kleinen Schritten zum Rand der Luke vorgefühlt, unbeholfen mit der rechten Hand die linke Führungsstange ertastet und wäre beim Umwenden des Körpers mit dem Fuß fast an der kleinen Kante eingehakt und mit Schwung aus drei Metern Höhe hinab gefallen. Als er dieses skurrile Abenteuer überstanden hatte, erblickte er die fremde Welt.


    Trotz allem war Eva froh. Sie hätte mit einem Plan gewonnen, der so einfach war wie das Entscheidungsspiel selbst. Auch wenn sie selbst beim Erklingen des Alarms nicht umhin gekommen wäre, reflexartig zu zucken, so hätte ihr Blick dennoch weiter in seinen Augen geruht. Er wiederum hätte in seiner ersten Unwissenheit zwangsläufig aufgeschreckt zur Steuerzentrale gesehen. Bei dem ersten Laut der Sirene wäre es ihm noch unmöglich gewesen, die Lage einzuordnen und der Moment der Beruhigung, in dem er den lapidaren Weckton erkannt hätte, wäre der Augenblick mit der eigentlichen Erschütterung gewesen, verloren zu haben.
    Warum sich das Gefühl der Trauer ausblieb, vermochte Eva nicht zu erklären. Würde sie darüber nachdenken, so konnte sie nicht ausschließen, ihre freiwillige Aufgabe, nach der sie den Alarm in der Steuerzentrale abgestellt hatte, letztendlich zu bereuen.
    Manchmal war jedoch schlicht die Gewissheit zu viel, dass es einen außer–ordentlichen, einen unübertreffbaren Moment gab, der das restliche Leben zu nichts weiter verkommen ließ als zum Versuch, einen unwiederbringlichen Höhepunkt nachvollziehen zu wollen. Diese Krise für die nachfolgende Existenz und das vorprogrammierte Scheitern einer Steigerung degradierte dann auch rückwirkend die erlebte Sternstunde. Ob es daran lag oder nicht: In der Konsequenz wäre für Eva nun also nichts gewonnen und nichts verloren.



    Als er die Augen öffnete, wurde ihm klar, dass die Realität beides sein konnte: fantastische Erfüllung und absolute Enttäuschung. Ein Griff zu seinem Tablettenetui und die Einnahme einer aufputschenden Pille, und schon wäre die Deutung dessen, was er nun erblickte, als Zauberwelt rationalisierbar. Ein Beruhigungsmittel würde umgekehrt wirken und diesen Planeten zu einer traurigen Öde verkommen lassen. Er begriff, dass es keine Objektivität mehr gab und befürchtete zugleich, diesen Ort womöglich nie adäquat als das erfassen zu können, was er war.


    Vor ihm lag im Norden eine weite Ebene, an der sich gen Westen stufige Hügel anschlossen, die seiner Schätzung zufolge eine Höhe von zwei bis drei Metern nicht überstiegen.
    Am Himmel bildeten die grau-schwarzen Flecken konzentrische Wellen. Irgendetwas in ihrem Inneren schien blass weißlich zu glitzern, wahrscheinlich, so urteilte der Besucher von der Erde, handelte es sich dabei um Milliarden kleinerster Einschlüsse, die sich in den allgemeinen Bewegungen der Wolkenschichten immer wieder umwarfen, gegeneinander rieben oder lediglich das verbliebene Sonnenlicht des Sterns reflektierten, der gerade im Begriff war, diese Hemisphäre der Nacht Preis zu geben. Schienen die freien Bereiche des Himmels beim ersten Betrachten in von der Erde vertrauten Blautönen gefärbt zu sein, so offenbarten sie sich in Wahrheit in einem sanften Türkis. In den sich ändernden Lichtverhältnissen beobachtete er eine Zeit lang die Wolken, die nun immer stärkere Konzentrationsgefälle aufwiesen, ehe er seine Aufmerksamkeit weg vom Schauspiel in der Höhe lenkte. Denn erst jetzt erfasste ihn eine unbändige Aufregung, nämlich der Wunsch, die Sendequellen und die nicht irdische Intelligenz zu finden, deren technische Erzeugnisse bis ins All hinein wirkten.
    Doch der Umgebung waren auf Anhieb keine Spuren von Leben zu entlocken. Hier und da unterbrach er seine trägen Erkundungsgänge, drehte sich um nach den orange leuchtenden Positionslichtern der Landefähre, die wieder einmal zwanzig oder dreißig Meter weiter entfernt waren als zuvor, ging in die Knie, kauerte sich gar auf den Boden, zog für Sekunden die Atemmaske herab und roch an der dunklen, wie von Staub bedeckten Erde, kratzte mit dem Schuhprofil eine dünne Schicht des Materials ab, wobei ein kleines Wölkchen aufstob, hielt inne, sah zu den dunkel pulsierenden Wolken hinauf, nur um dann das ganze Ritual zu wiederholen. Die Oberfläche schien überall von einer dünnen Staubschicht bedeckt zu sein, sogar die festere, darunter liegende Substanz mochte keine davon abgesonderte Erde, sondern vielmehr die verdichtete Variante dieser Staubmoleküle sein.
    Das Erleben verschaffte ihm keine Befriedigung und so zog er wieder die Atem–maske ab, und tat mit allem verbliebenen Odem einen Schrei, als rufe er die Lebe–wesen dieses Ortes.
    Dann – er befand sich bereits wieder auf dem Rückweg, hin zur Kapsel – wurde er Zeuge einer Begebenheit, die das Einerlei dieser in seinen Augen bislang so überschaubaren Welt um eine weitere Facette bereicherte. Nur eine Armweite vor ihm erlebte er das Niederfallen jenes Staubs mit, so, als falle nur aus einem winzigen Bereich des Himmel schwarzer, trockener Schnee. Am Boden hob sich dieser Niederschlag durch seinen Anthrazitton von der graueren, älteren Umgebung ab. Jetzt achtete er auf seine Fußspuren und stelle mit Erstaunen fest, wie schwer es fiel, den zurück gelegten Weg auf diese Weise nachzuvollziehen, was nicht allein an der vorgerückten Dunkelheit der hereinbrechenden Nacht lag, denn die Abdrücke der Stiefel hatten sich nicht fest in den Untergrund eingegraben.

    Mitten in den Gedanken über das Rätsel, wie es sein konnte, dass sich die Urheber der Signale so verbargen, schreckte ihn ein lautes Donnern hoch. Er blieb stehen.
    Da durchbrach die Sonde die Atmosphärenschicht. Er sah, wie sich die Brems–fallschirme öffneten und die kleine Metallkapsel taumelnd etwa einen Kilometer ebenso von schwarzem Dunst eingenebelt nieder ging, wie seine Landfähre. Nun erhob sich ein Ächzen, das er aufziehenden Winden direkt unterhalb des dunklen Partikelmeers zuordnete. Die Sonde hatte ein Loch in diesen Teil der Wolkendecke gerissen, durch das man für einige Sekunden den Blick auf die Sterne im All vor verbliebenem Türkisschimmern erhaschen konnte. Jetzt boten die ausgefransten Ränder der Lücke einen verstörenden Anblick, denn statt die Wolkenschicht wieder zu schließen oder in ihrem Zustand zu verharren, sanken sie unter vereinzelten blau-weißen Lichtentladungen nieder. Immer stärker wurde der Wind, erfasste bereits die Bodenregionen.
    Er zögerte: Sollte er zurück in sein Raumschiff oder die Sonde überprüfen? Das Schauspiel am Himmel wurde indes immer einnehmender. Was ihn anzog, war der unglaubliche Reichtum an Nuancen zwischen tiefem, alles verschluckendem Schwarz und sanftem, fast wie Samt wogendem Grau. Immer wenn sich einer der Blitze entlud, zuckten seine Augen diesem spärlichem Licht nach. Statt Schutz zu suchen, setzte er einen Schritt nach dem anderen in Richtung der Hügelkette, den Kopf in den Nacken gelegt. In ihm regierte inzwischen eine Scheinvernunft, die ihm vorgaukelte, er, der erfahrene Pilot und Astronaut, könne die Ausmaße dieses Sturms einschätzen.
    Dann blieb er stehen und verfolgte gebannt, wie sich die fasrigen Enden der Wolkenschichten in einem unbeschreibbaren Kraftakt nach oben bäumten und die Schicht wieder auf die allgemeine Höhe zog. Es war ihm gelungen, einzelne Fäden, Stränge und Wolkenlappen mit den Augen zu fixieren, ihre Bewegungsabläufe zu unterscheiden und schließlich war ihm, als begreife er die unterschiedlichen Abläufe und Muster, die das Schließen des Wolkenareals über ihm bewirkt hatten. Entgegen seinen Erwartungen ebbten die Blitze nicht gleichzeitig mit den Winden ab. Noch Minuten nachdem sich die Lücke am Himmel geschlossen hatte, durchfuhren sie in nun regelmäßigeren Linien die ganze Hemisphäre.

    Den Weg zurück zur Kapsel ging er tief in Gedanken versunken.
    In seinem Geist kleidete sich das Geschehene in Worte; er empfand die Bewegungen am Himmel als Umsetzung einer instinktiven und zugleich ausgewogenen Erwiderung voller Agilität und Dynamik.
    Aber erst in dem Moment, als er den Blick von der aschgrau verkrusteten Landekufe zum pulsierenden Himmel dunkler Fetzen wandte, begriff er, dass er, dass der Mensch auf diesen Planeten als ein Mörder gekommen war.


    ENDE
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