Servus
Seit längerem Versuche ich mich als Schriftsteller, und mein privates Universum ist mittlerweile auf gut dreißig Geschichten angewachsen; ein erster Roman in der holsderTeufelwieoften Überarbeitung. Jetzt möchte ich hier mal etwas zur öffentlichen Begutachtung reinstellen. Bitte lest, und scheut euch nicht davor zurück Kritik zu üben. Die Geschichte war ursprünglich für einen Wettbewerb gedacht, wurde aber nicht rechtzeitig fertig. Auch deshalb hungere ich nach Feedback darüber.
Tempestas
(eine Geschichte aus dem lebendigen Universum)
Die Katze war nervös. Ihr Schwanz zuckte, sie zitterte in ihrem dösenden Schlaf und erwachte sie, so suchten ihre Augen beständig den Horizont ab. Dann schrie sie kurz und legte sich wieder schlafen.
Das Meer lag ruhig da, flach und glatt wie eine Scheibe aus dem Kirchenfenster. Man sah es in fast jeder Richtung, nur an einer Stelle schoben sich ihm die Hügel auf dem Rücken der Insel in den Weg. In der Ferne ballten sich einige Wolken zusammen, sie schimmerten rosa im Schein des langsam aufziehenden Abendrots. Hjelga drückte sich tiefer in das trockene Riedgras des Daches und versuchte Bilder in den dunklen Wolkenfetzen zu erkennen.
Etwas geschah.
Die Großen bemerkten es nicht, aber Hjelga war es gewohnt dass die Alten blind durch den Tag liefen. Manchmal fragte sie sich, ob die Ohren durch das ständige Rauschen des Meeres irgendwann aufgefüllt wurden. Das würde erklären, warum die Großmutter fast gar nichts mehr hören könnte.
Hjelgas Finger legten sich vorsichtig um den Leib der Katze, und nahm sie behutsam in den Arm. Das Tier öffnete nur einmal kurz ein Auge, warf dem Mädchen einen missmutigen Blick zu, und versank wieder ins Dösen. Ihr warmes weiches Fell strich Hjelga schmeichelnd durch die aufgerissenen Hände. Die Katze raunte kurz, sah zu ihr hoch, streckte sich und begann dann ihr die Fingerspitzen abzulecken. Der Geschmack der Fischdärme hielt sich daran wie Pech, gleich wie oft Hjelga ihre Arme in die Regentonne tauchte. Und die Arbeit des Ausnehmens kehrte jeden Tag aufs Neue wieder, so dass ihr gar keine Chance blieb den Geruch jemals loszuwerden. Fische, Fische, Fische. Am Morgen wurden sie von den Fischern gebracht, gemeinsam mit Mutter und ihren Schwestern nahm sie sie aus, bis Vater sie mit ihren Brüdern dann zum Markt brachte.
Über dem Rücken der Insel sank die Sonne herab. Eine steife Brise blies von Norden, und Hjelga zog ihr Kleid enger um sich. Es nützte nicht viel, denn der Wind pfiff beißend durch jede Naht, wo ein paar Stiche mit grobem Garn einen Flicken auf dem ausgeblichenen Stoff hielten. Hjelga hätte gern ein neues Kleid gehabt, oder gar einen großen Übermantel aus gewachstem Leintuch wie ihn die besseren Fischer trugen. Aber schon allein diesen Gedanken zu denken kam ihr wie eine Sünde vor. Vater und Mutter arbeiten sich die Finger wund, nahmen Heringe oder Makrelen aus, flickten Segel und Netze, bestellten anderer Leute Felder; nur um einen Kanten Brot auf den Tisch zu bringen. Wie konnte sie da so hochmütig sein, und neue Kleider für sich verlangen? Aber das änderte nichts daran, dass sie nur zu gerne eines gehabt hätte.
Die Katze strampelte, Hjelga setzte sie auf die Dachkante bevor sie auf die Idee kam die Krallen auszufahren. Mit einem hochmütigen Blick bedachte das struppige Fellbündel die enge Hafengasse unter sich, ehe sie den buschigen Schwanz um sich schlang und begann sich zu putzen. Hjelga hockte sich in ihre Kuhle, zog die Beine an und sah der Katze zu. Das Tier war auf einem Schiff gekommen, wie alles Fremde und Anmutige. Irgendwo hinter den Wellen des Meeres musste es ein Land geben, in dem nur schöne Dinge existierten. Wo es keine Kälte gab, denn die Händler kamen immer in bunten Kleidern, die so dünn waren, dass man den Stoff des Unterrocks darunter hervor schimmern sah. Dann hüllten sie sich in dicke Pelzmäntel, und suchten die Schänken entlang des Hafens heim. Oft schon hatte Hjelga sie bis spät in die Nacht grölen gehört, und die Schreie der Mädchen die; wie Mutter sagte, zu gar nichts anderem taugten.
In den Gassen rund um das Hafenbecken, die Lagerhäuser und die Anlegekais, gab es viele dieser Mädchen. Hjelga wusste nicht genau was sie machten, es hieß immer sie sei noch zu jung dafür, aber es musste etwas sehr schlimmes sein. Sowohl Mutter als auch der Herr Pastor sagten das wieder und wieder. Außerdem sollte man sie am Besten gar nicht erst anschauen.
Mittlerweile stand die Sonne recht tief, man konnte sie betrachten ohne geblendet zu werden. Gemächlich rutschte sie wie ein orangener Fettfleck am Himmel herab, und überzog dabei die Stadt mit einem abendlichen Schimmer. Hjelga hatte nicht oft Zeit, sich dieses Schauspiel anzusehen. Aber heute war das anders. Vater und Mutter waren den Onkel besuchen gegangen, der außerhalb der Stadt wohnte. Sie würden einige Tage bei ihm sein, ihm auf den Feldern seiner Herrschaft helfen oder sonst was. Derweil blieb Hjelga in der Obhut ihrer Brüder zurück, denn ihre große Schwester Magdlin war längst verheiratet und hatte sich um ihre eigenen Bälger zu kümmern. Die jungen Burschen aber fanden die Mädchen aus der Ankerstrickgasse immer schon wesentlich interessanter als ihre eigene kleine Schwester. So blieb ihr nun ein seltener Moment Ruhe, in dem sie auf einem Dach liegen, in dem Himmel starren, und ihren eigenen Gedanken nachhängen konnte. Der Wind, der niemals über der Insel schwieg, wurde plötzlich stärker. Wie ein scharfer Hund der an seiner Kette zerrte, riss er an den Dächern der Häuser, und brachte einige der ärmeren Hütten vollständig ins Schwanken. Zwischen den rosa schimmernden Wolken über ihr geisterten einige flinke Blitze umher, die niemand sonst bemerkte da sich keiner die Zeit für solche Beobachtungen nahm. Einzig Hjelga sah, wie zuckende Lichter sich in das Abendrot am Himmel mischten. Sie umspielten den massigen Wetterhahn auf der Kirchturmspitze und drehten ihn aus dem Wind. Am Horizont konnte sie bereits ferne Sturmwolken ausmachen, die sich finster und drohend näher schoben. In immer stärker werdenden Böen schob der Wind sie vor sich her. Und dennoch bot ihnen der Wetterhahn nun seine breite Seite dar. Hjelga verstand nichts von den hohen Dingen die die Welt zusammenhielten, so wie Pfarrer Mathäus. Aber niemand wurde auf einer Insel groß, ohne einen Sturm zu erkennen wenn man ihn sah. Gebannt starrte Hjelga auf den schmiedeeisernen Gockel, von dem aus sich die zuckenden Lichter immer weiter in den Himmel spannen. Auch fiel ihr als Erste auf, dass diese seltsamen Blitze nicht donnerten. Gebannt starrte Hjelga auf das Schauspiel am Himmel, fragte sich ob das wohl etwas mit den tanzenden Lichterbögen zu tun hatte, die sich im Winter manchmal im fernen Norden zeigten. So dauerte es eine Weile, bis ihr aufging dass der Wind nicht länger an ihrem Kleid zerrte. Sie stand auf, steckte einen Finger in den Mund und hielt ihn hoch, doch nicht der kleinste Hauch war mehr zu spüren. Nun bemerkten auch die ersten Erwachsenen am Boden, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Laute Stimmen vermischt mit gelegentlichen Schreien stiegen aus den Gassen der Stadt auf.
Die Lichter waren inzwischen etwa auf die Höhe der ersten Dächer herab gesunken. Hjelgas ausgestreckter Finger wurde davon berührt, es kitzelte komisch. Schnell zog sie die Hand wieder zurück, und stellte fest dass ihre Fingernägel deutlich länger waren als die an der anderen Hand. Das mulmige Gefühl in ihrem Magen wuchs zu stattlicher Größe heran. Was immer dort oben vor sich ging, es bremste den Sturm aus und überzog den Himmel mit einem, eigentlich recht hübschen, Lichterspiel. Die Rufe und Schrei der Leute auf den Straßen drangen zu ihr. Hjelga wurde das zu unheimlich. Sie raffte ihr Kleid, und rutschte das dicke Riedgras hinab. Ein Bauschen altes Stroh fing sie gut auf. Hastig lief sie in das Haus, in dem ihre Familie ein Zimmer bewohnte. Keiner ihrer Brüder war da, vermutlich standen sie auf der Straße und gafften in den Himmel. Hjelga kroch in ihr Bett, auf dem noch recht neuen Strohsack nah dem Herd, und zog sich die Flickendecke über den Kopf. Jede Faser ihres kindlichen Verstandes wusste, dass sie zuhause in Sicherheit war. Fern von allem das ihr Böses wollte. Und genau in diesem Moment geschah es, dass die Welt unterging.
„Als die Friesen zum ersten Mal an die Nordsee kamen, da erschreckte sich dass Meer so sehr, dass es dir Flucht ergriff. Und seitdem kommt es alle zwölf Stunden wieder, um nachzusehen ob sie noch da sind.“
„Oh Gott, wie oft kann ein Mensch immer wieder denselben Witz erzählen, bevor er zu schreien anfängt. Oder viel mehr, bevor ich zu schreien anfange?“ fragte Bernd Langerson.
Er bekam keine Antwort, was nicht verwunderlich war. Schließlich bestand die höchste Lebensform neben ihm, im Umkreis von wenigstens einem Kilometer, aus einer Qualle die einsam in einer kleinen Pfütze dümpelte. Die heimatliche Hallig Norse lag nun schon fast außer Sichtweite, und verschwamm mit jedem Schritt über den nassen Sandboden weiter mit dem Horizont. Die Gummistiefel bewegten sich in einer Mischung aus Schmatzen und Quietschen.
„Geh nicht allein ins Watt!“
Diese Worte bekam jeder Tourist gleich bei der Ankunft zu hören. Bei Ebbe konnte sich der Sandboden der Nordsee leicht als trügerische Falle erweisen, denn wenn die Flut wieder stieg schloss sie unachtsame Wanderer schnell auf flachen Sandbänken ein. Und selbst im Sommer lud das kalte Salzwasser der offenen See nicht unbedingt zum Schwimmen ein. Jedem wurde das gesagt, und wie in einem Naturgesetz, gab es immer jemand der davon überzeugt war, diese Worte gelten für ihn nicht. Wie die afroamerikanische Familie im letzten Jahr. Auch sie hatten sich in der Einöde des Watts verirrt, und waren dann in letzter Minute mit dem Schlauchboot von einer überspülten Sandbank gerettet worden. Immerhin, die schon sehr erwachsene Tochter hatte sich daraufhin Bernd gegenüber als äußerst... dankbar erwiesen. Oder sie wollte nur eine Geschichte mit einem Eingeborenen von einer Insel aus der Alten Welt, um zuhause vor ihren Freundinnen angeben zu können. Seit jener Zeit hatte Bernd Langerson jedenfalls ein reges Interesse an der englischen Sprache entwickelt, verstärkt auch durch eine weitere Errungenschaft der Hallig, Sateliten-DSL. Das ganze hatte natürlich auch seine Schattenseiten. Seit der Anschaffung wurde sein Vater nicht müde zu betonen, dass wenn er sich mit derselben Energie früher auf die Schularbeiten gestürzt hätte wie nun auch den Computer, dann auch seine Noten über eine durchschnittliche drei Komma vier hinaus gegangen wären. Und dass damit letztendlich ein besserer Job in Aussicht gestellt wäre, als der so genannte Kurator eines kleinen Museums für Heimatkunde auf einer winzigen Hallig, die ohnehin kaum ein Mensch kannte. Kurator aus dem einen Grund, da es besser klang als Hausmeister. Einige versprengte Touristen brachten zwar jedes Jahr wieder genügend Geld auf das kleine Eiland um den nächsten Winter zu überstehen, aber darauf wollte sich eigentlich niemand verlassen. Auch wenn sie es taten.
Das kleine Museum, das im Raum einer altertümlichen Schmiede untergebracht war, bestand im Wesentlichen aus vergilbten Fotos alter Inselansichten, von denen die Hälfte überhaupt nicht von Norse stammte. Aber das fiel keinem Touristen auf. Die Bilder zeigten ernst bis verbittert aussehende Männer und Frauen, die in übertriebenen Trachten vor den Rieddächern ihrer geduckt wirkenden Häuser standen. Der Rest hielt sich die Waage zwischen historisch interessant und Standgut. Ein alter Messingkompass, salzverkrustete Schiffsplanken, hübsche Muscheln, eine ausgestopfte Möwe und so weiter.
Oft war Bernd schon an Tagen wie diesem hinaus ins Watt gegangen, wenn der Herbst die ersten Sturmwinde brachte und die Einsamkeit auf der ach so freien Insel bisweilen erdrückend schien. Dann half es immer zu gehen, wobei das Ziel keine Rolle spielen durfte. Vor der Flut musste er zurück sein, aber ansonsten gab es keine Grenzen. Das weite Watt lag vor ihm da und wartete auf ihn. Manchmal fand sich bei solchen Streifzügen etwas interessantes, dass einen Fensterplatz im Museum verdienen konnte. Alte Markstücke etwa, die Leuten bei früheren Wanderungen aus den Taschen gefallen waren. Mit einer entsprechenden Patina aus Salz, Tang und Algen wirkten sie fast wie verlorene Münzen eines Wikingerschatzes. Aber an diesem Tag blieben selbst solch kleine Funde aus.
Bernd wanderte schon einige Zeit in einem weiten Bogen, als plötzlich eine knöchelhohe Welle seine Stiefel umschwappte. Rasch kontrollierte er seine Uhr, doch bis die Flut eine solche Höhe erreichte sollte es noch Stunden dauern. Ging der Mond jetzt falsch, und mit ihm die Gezeiten?
Aber bei genauerer Untersuchung erwies sich die Sorge um die Astronomie als unbegründet. Das Wasser lief lediglich auseinander, stieg nicht an sondern verrann im Sand. Er blickte hoch. Außerdem stammte es aus der entgegengesetzten Flutrichtung, was bedeutete...
Bernds Kopf verharrte auf halber Höhe. Für einen Augenblick weigerte sich sein Gehirn auch nur einen Gedanken zu produzieren. Es brauchte die Zeit, um die Bilder die es von den Augen erhielt nochmals zu kontrollieren. Als sich nach nochmaliger Prüfung am gesehenen Ergebnis nichts änderte, nahm es seine Arbeit wieder auf, und durch Bernds Kopf zuckte die Erkenntnis: „Das war neulich noch nicht da!“
Keine hundert Meter von seinen Füßen entfernt, erhob sich ein flaches Kliff aus lehmiger Erde über die Ebene des Wattenmeers, wohl kaum mehr als einen Meter hoch. Die Kante sah nicht aus, wie etwas das auf natürliche Weise entstanden war. Mehr als hätte jemand ein Messer genommen, ein Stück Boden fein säuberlich ausgeschnitten, um ihn danach an diese Stelle zu legen. Mitsamt der Gebäude die darauf standen.
In traumwandlerischer Sicherheit kam Bernd näher, seine Füße achteten allein auf den Boden und darauf nicht an jene Stellen zu treten wo man im Schlick versank und den Stiefel zurück lassen musste um wieder zu entkommen. Er hatte nur noch Augen für die neu entstandene Insel.
Bei näherer Betrachtung ergab sich, dass die Schnittkante einem weit gefassten Bogen folgte. An den Seiten ließen sich die einzelnen Erdschichten wie auf einer geologischen Schautafel erkennen. Besonders deutlich wurde dies am Deich, wo sich Lehm, Kies und festgestampfter Boden zu einem stabilen Wall vereinte. Oder zumindest wäre er stabil gewesen, wenn ihn nicht jemand in der Mitte durchgesäbelt hätte. Dabei verlief der Schnitt bei weitem nicht geradlinig. Immer wieder gab es Kurven und Dellen, als hätte jemand den Schneidenden bei seiner Arbeit abgelenkt. Andächtig wanderte Bernd die Kante entlang, bis hinterhalb des Deiches Häuser auftauchten. Windschiefe Hütten, deren Holz mit einer dicken Salzkruste überzogen war. Einige davon quer aufgeschnitten, entlang der Bruchkante am Boden. Schließlich fand er eine kleine Absenkung. Ohne groß zu überlegen erkletterte er die neue Insel, und wanderte gaffend über die schiefen Pflastersteine.
Hjelga konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen sein mochte. Sie hatte sich in ihrer Bettlade versteckt, die Decke über den Kopf gezogen und gebetet; während draußen etwas vor sich ging von dem sie gar nichts wissen wollte. Tag und Nacht waren aus den Fugen geraten. Einmal hatte sie es gewagt, sich einen gedörrten Fisch aus dem Vorratsschrank zu nehmen, dann hatte der Himmel erneut geglitzert und sie war wieder im Bett verschwunden. Nach einer Weile musste sie wohl eingeschlafen sein, denn als sie wieder aus dem Fenster sah, war es helllichter Tag. Eine blasse Sonne schien herein, und kaum ein Wölkchen zeigte sich am Himmel. Der Sturm schien einfach verschwunden zu sein, aufgelöst in dem Gerumpel, dass während der Nacht das Haus mitsamt dem Boden erschüttert hatte. Aber die Schreie...
Hjelga schüttelte den Kopf bis er wehtat. Sie wollte nicht daran denken. Niemehr, nimmer.
Nun stand sie auf der Gasse neben ihrem Heim, und versuchte krampfhaft nicht zu bemerken, dass quer durch das Zimmer der Nachbarn die Erde mitsamt dem Haus verschwunden war. Leise patschten ihre kleinen Füße durch den Straßenmatsch. Selbst ohne den seltsamen Donner und den zerrissenen Boden hätte sie nun gewusst, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte. Es war fiel zu ruhig. Spätestens als sie die Apfelwebergasse erreichte, hätte das Geschrei der Marktweiber einsetzen müssen, ebenso das Schelten der Fuhrleute und Fischer die sich auf den schmalen Straßen in die Quere kamen und die Rufe der Tagelöhner im Hafen. All das fehlte plötzlich. Auch der Geruch nach rauchenden Torffeuern und dörrendem Fisch. Ruhe und Stille lagen wie eine zu schwere Decke über der Stadt, und schienen ihre Bewohner zu erdrücken. Wenn sie denn nur zu finden wären.
Seit ihrem Erwachen hatte Hjelga keinen anderen Menschen mehr gesehen, und das in einer Stadt in der sich die Leute gleich nach dem Aufstehen auf die Füße traten. Hjelga fürchtete sich. Schlimmer noch als in dunklen Nächten, wenn Vater und Mutter weit fort arbeiten mussten. Selbst schlimmer als sie noch klein war, und der Wattmann ums Haus schlich und stöhnte. Mutter hatte ihren Brüdern schnell verboten sie so zu erschrecken, und von Vater hatten sie eine Prügel bekommen, aber das änderte nichts an der Angst des kleinen Mädchens. Das was jetzt vor sich ging allerdings, das war noch schlimmer. Ihre Furcht ging soweit, dass sie sich beim Schrei einer Möwe in einen leeren Marktstand flüchtete, obwohl dieser Vogel das normalste der Welt war. Die Möwe flatterte ungelenk, und landete nur wenige Schritte entfernt auf der Straße. Mit einem beleidigten Ausdruck auf dem Schnabel blickte sie sich um. Es wollte ihr nicht in den Sinn, dass hier wo sie für gewöhnlich immer ein paar Fetzen Fischdarm ergaunern konnte, nun plötzlich kein Betrieb mehr sein sollte. Sie plusterte ihr Gefieder auf, und begann ganz im Stil eines unzufriedenen Kunden vor den Buden auf und ab zu wandern. Ihr Blick brachte ihre gesamte Verachtung über die Unzuverlässigkeit der Menschen zum Ausdruck.
Hjelga hatte an diesem Tag noch keinen Tropfen getrunken, ansonsten hätte sie beim Anblick dessen was jetzt geschah sicherlich ihr Kleid nass gemacht. Denn aus ihrem Versteck sah sie, wie ein rotes Etwas sich vom nahen Dach stürzte, und den grauweißen Vogel mit seinen Klauen packte.
„Der Teufel!“ erkannte Hjelga voller Entsetzen. Es konnte nur der Teufel sein. Rote Haut wie altes Eisen, schwarze Augen ohne Lider und Hörner die aus dem Schädel wuchsen; es konnte nur der Teufel sein! Sein Gewand war wie ein Silberschein, warf aber Falten wie hartes Tuch. Mit einem Zischen vergrub er seine aufgerissenen Lippen in den Eingeweiden der Möwe. Der arme Vogel fand noch die Kraft für einen letzten krächzenden Schrei, dann wurden seine Augen leer.
Der Teufel indessen trank gierig vom Blut seines Opfers, Tropfen davon rannen ihm das Kinn hinab und tropften von den kleinen Dornen daran in den Straßendreck.
Irgendwo in der Ferne klang ein Ruf, doch Hjelga wagte nicht zu antworten.
Entsetzt beobachtete sie, wie die doppelt gezackten Zähne des Teufels sich durch den kleinen Brustkorb arbeiteten. Das Knacken der zierlichen Rippen schien um soviel lauter zu sein als bei einem gewöhnlichen Huhn. Es stach Hjelga in die Ohren. Rote Knochensplitter flogen nach allen Seiten, während gleichzeitig eine fleischige orangene Zunge aus der Kehle des Ungeheuers hervor zuckte um auch die letzten Reste roten Saftes aus dem Kadaver zu lecken. Schließlich warf er den leergesaugten Vogel fort. Der gefiederte Leichnam landete nah dem Fass hinter dem sich Hjelga versteckte, genau zu ihren Füßen.
Entsetzen lähmte ihr den Leib. Sie wollte weglaufen, durch die Stände kriechen und sich weit, weit fort verstecken. Aber ihr Körper gehorchte nicht. Still und starr blieb sie stehen, wie eine Maus vor der Schlange. Das faulende Salzfass hinter dem sie sich verbarg raunte und knirschte im Wind. Der Teufel brauchte nur aufzustehen, sich umzudrehen, und es war um sie geschehen.
„Das muss zu einem neuen Themenpark gehören.“ dachte Bernd, nachdem er sich mehrmals in verschiedene Körperteile gekniffen hatte. Soweit es ihn betraf, wollte er für den Moment ausschließen, nur durch einen Tagtraum zu stolpern. Dafür hätte er auch niemals genug Fantasie gehabt.
„Japaner, Amerikaner, irgendwo glaubt einer es gäbe noch Bedarf für einem dieser dämlichen Parks, in denen sich Leute in so genannten historischen Trachten bemühten, ein paar Idioten überteuertes Essen und Souvenirs anzudrehen. Das ist immer noch mein Job!“
Vor ihm erhoben sich nun die Gebäude dessen, was wohl das Stadtzentrum darstellen sollte. Im Gegensatz zu den Salz- und Dreckverkrusteten Hütten die den äußeren Ring bildeten, breiteten sich im Zentrum der seltsamen Stadt massivere Häuser aus. Vor allem ihre zur Straße hin ausgerichteten Fronten erinnerten an eine protzig ausgestreckte Faust, bei der an jedem Finger drei schwere Goldringe steckten. An manchen Stellen schimmerte sogar das Weiß einer Fachwerkfassade hervor. Ein seltener Anblick mitten im Wattenmeer. Selbst die Pflastersteine fügten sich hier in Reih und Glied aneinander, während sie im Rest der Stadt wirkten wie beiläufig ausgestreut. Wappen und Zunftembleme verzierten jeden Balken, ebenso die zugeschlagenen Fensterläden. Überhaupt sah man an keinem der Gebäude auch nur ein offenes Fenster. Alles schien verriegelt zu sein.
„Ist wohl noch kein Betrieb.“ sagte Bernd laut. Die Hauswände zu beiden Seiten der schmalen Straße warfen ein leises Echo zurück, irgendwo in der Ferne gackerten Hühner, ansonsten blieb es still.
„Hier kann doch was nicht stimmen.“ dachte Bernd „Städte sollten nicht so leer sein. Auch wenn’s nur Touristenfallen sind.“
Doch für eine Touristenfalle schien all das recht robust gebaut zu sein. Nach einer weiteren Querstraße erreichte er einen offenen Platz, an dem mehrere Pfade aus verschiedenen Richtungen zusammenliefen. Die noch unbedeckten Pflastersteine bildeten ein verbogenes Kreuzmuster, direkt zu Füßen der hoch aufstrebenden Holzkirche. Früher musste dieser Platz sehr weit erschienen sein, bevor man von allen Seiten aus Verkaufsbuden errichtet hatte, die nun alle verlassen da lagen. Bunte, mittelalterlich anmutende Bilder über den breit gezimmerten Durchreichen zeigten was wohl einmal hier verkauft werden sollte. Oder bereits verkauft wurde, wenn man von dem Geruch rund um den Stand mit dem Fisch darüber ausging. Unter dem Tresen fand Bernd eine alte, blutverschmierte Schüssel, an der noch Reste von Fischinnereien hafteten. Die Maden darin fühlten sich sichtlich wohl, und auch die bunt schillernden Fliegen brummten voller Lebenslust.
„Gut, man kann’s auch übertreiben mit dem Realismus.“ meinte er „Kein Gesundheitsamt der Welt würde das hier durchgehen lassen.“
Er ging noch einige Schritte, ehe er vor dem Tor der Kirche stehen blieb. Diese Kirche unterschied sich deutlich von denen die Bernd bisher gesehen hatte. Ein systemloses Muster aus kleinen Holztafeln, mehr oder minder künstlerisch geschnitzt, überzog die Außenwände. Bei näherer Betrachtung, und mit einer Vorstellungskraft, erkannte er dass es sich wohl um Heiligenbilder handelte. Einige der gebrochenen Planken und Bretter trugen Kreuze, oder schemenhafte Mariendarstellungen. Dinge, die man im lutheranischen Norden normalerweise vergeblich suchte. Entweder hatte der Erbauer dieser Siedlung schlecht recherchiert, oder sehr gut. Dann stellte dieser Ort vermutlich eine mittelalterliche Siedlung vor der Reformation dar. Wer aber machte sich diese Mühe?
Der innerdeutsche Tourismus war kein lohnendes Geschäft für diese Art von historisch korrekten Attraktionen. Und selbst wenn... wer ließ irgendwo auf dem Festland eine ganze Stadt errichten, um sie dann mitten im Watt sang und klanglos auszusetzen? Solche Anlagen brauchten Pflege, Wartung. Selbst in dem winzigen Museum zuhause fehlte es nie an Dingen die kaputt gingen. Bei näherer Betrachtung konnte dieses Unternehmen nur der Finanzvernichtung dienen, also was steckte dahinter?
Bernd umrundete schließlich die Kirche. Einige schwere Balken verkeilen die niedrigen Türen, und die Fenster mit waren alten Brettern vernagelt worden. Als wollte jemand die Kirche sturmfest machen. Aber es hatte das gesamte Jahr noch keine größeren Stürme gegeben, auch keine Warnungen. Er trat einige Schritte zurück, blickte nach oben, und ein neues Puzzleteil für das Rätsel das ihn umgab sprang ihm ins Auge. Dem Kirchturm fehlte die Spitze.
Ein sauberer, glatter Schnitt, wenn auch recht krumm geführt, durchtrennte das hölzerne Bauwerk einige Meter über den Dächern der umliegenden Gebäude. Von der Spitze des Kirchturms, der Glocke oder dem Wetterhahn, fehlte jede Spur. Als hätte ein Riese ihn mit einem runden Messer abgetrennt und eingesteckt.
„Als Schlüsselanhänger vielleicht.“ murmelte Bernd, der für einen Moment von seinen eigenen Metaphern gefangen wurde. Doch rasch lauter werdendes Gebrüll von der rechten Seite riss ihn schnell aus diesem tranceartigen Zustand.
Er trat aus dem Windschatten einer Verkaufsbude um in die Straße zu spähen aus der der Lärm kam, als ihn ein rot und silbern gefärbter Schemen von den Beinen fegte. Der Aufprall traf ihn wie ein Hufschlag. Er schlug gegen eine Budenwand, Holz krachte und er rutschte zu Boden. Bernd landete hart, schaffte es aber die größte Wucht mit den Schulterblättern abzufedern. Trotzdem sah er Sternformationen.
„Woher stammst du?“ hörte er leise und summend. Wie aus weiter Ferne. Er schlug die Augen auf, und sah verschwommene Flecken in hellblau und braun, die tanzten. Zusammen mit Schwindel und aufsteigender Übelkeit kamen ihm diese Symptome vage bekannt vor, schließlich bekam er nicht zum ersten Mal etwas auf den Schädel; was das Ganze aber nicht angenehmer machte.
„Stammst du von hier?“ fragte die leise Stimme weiter. Sie klang gehetzt und zischte. „Nein, das Gewebe stimmt nicht. Sprichst du Anglisch? Antworte! Verstehst du es?“
Eine raue Hand ergriff die seine und zog ihn hoch. Es fühlte sich an, wie ein Stein der in der prallen Mittagssonne gelegen war. Noch immer tollten die Farbkleckse vor Bernds Augen umher, nun aber mehr rote.
„Wa... we... was?“ brachte er mühsam hervor.
„Du ya spiik anglish?“ fragte die Zischelstimme. Etwas packte Bernd an der Schulter und hielt ihn aufrecht.
„Yes?“ brabbelte er, während seine Hände an verschiedenen Stellen nach seinem Schädel suchten.
„Oh! Gut. Versuch hier zu bleiben. Ich hole dich.“
Die roten Flecken verschwanden aus Bernds Gesichtsfeld. Irgendwie schaffte er es, seine Schläfen zu finden und festzuhalten während das Gebrüll zu seiner Rechten lauter wurde. Bernd blinzelte angestrengt, hielt sich die Ohren zu und starrte auf das Muster der Pflastersteine, bis diese sich endlich nicht mehr bewegten. Dafür tauchten nun Schuhe darauf auf. Alte Lederstiefel, ausgefranst und brüchig, begleitet von einer Woge aus Weihrauch und altem Fisch.
„Who it der Deibel?“ keifte eine raue Stimme.
Bernd hob vorsichtig den Kopf. Etwas unterhalb seiner Nasenspitze begegnete ihm ein fremdes Gesicht. Ein alter Mann, irgendwo zwischen den Sechzigern und Einhundertfünf. Die Haut warf faltige Gebirgszüge, aber die Haare die unordentlich unter seiner Lederkappe hervorquollen besaßen ein helles Braun. Über der Stirn war ein Kreuz auf die Haube mit den Ohrklappen gestickt. Der Rest der Kleidung sah nach einer uralten Mönchskutte aus.
Bernd schluckte einen scheußlichen Geschmack hinunter, ehe er mühsam fragte: „Wie bitte?“ Offenbar dachte seine Zunge gerade über eine Revolution nach.
Rings um ihn nahm die Lautstärke zu. Verschiedene Diskussionen in einer unbekannten Sprache fanden simultan statt, und verschlüsselten sich auf diese Weise sehr effektiv.
Bernd erkannte, dass er umzingelt war. Er stand gegen den Tresen einer Bude gedrängt, während sich im Halbkreis um ihn eine Menschenmenge sammelte. Manche waren klein, andere standen gebückt, keiner von ihnen überragte den Mann an der Spitze, der Bernd nach wie vor aus zusammengekniffenen Augen anfunkelte. Die Tatsache, dass Manche in den hinteren Reihen mit Mitgabeln und Sensen winkten, förderte nicht eben das gegenseitige Vertrauen.
„Entschuldigung.“ sagte Bernd vorsichtig. Die Gehirnerschütterung hatte offensichtlich einige seltsame Nebenwirkungen. Es kostete Kraft, seine Gedanken zusammen zu halten. „Ich... ich wollte nicht in ihren Park stolpern. Tut mir leid, wenn ich sie bei der Arbeit gestört habe, aber...“
„Janst du mi nid verstand, Lendrett? Wher it der Deibel in?“ knurrte das Faltengesicht. In dem Strick, der sein Gewand um die Hüften zusammen hielt, wurde in Messer sichtbar.
„Deibel... Deibel...“ In Bernds Kopf drehte sich alles.
„Isjer am End eener van deenen?“ raunte der Mönch. „Isjer mijem Leibhaftgen in Bund?“
„Ist... ich... was?“ brachte Bernd hervor. Woher stammten diese Leute? Dänemark? Holland? Skandinavien? Ein paar Worte die dieser Kerl benutzte klangen vertraut, ein wenig so wie Oma manchmal redete. Aber der Rest...
„Hören sie, ich verstehe sie nicht!“ begann er, so deutlich wie möglich. „Aber wenn sie mich jetzt durchlassen, verspreche ich dass ich abhaue und sie nie wieder störe. Von mir aus unterschreibe ich auch eine Schweigeerklärung, oder so etwas, damit ihr komischer Park hier nicht vorzeitig enthüllt wird, in Ordnung?“
Doch ein Blick in die Gesichter der Menge verriet, dass hier gar nichts in Ordnung war. Tief in den Höhlen liegende Augen starrten unter den Kapuzen und über den Kopf gezogenen Decken hervor, und fixierten Bernd mit einer beunruhigenden Entschlossenheit. Irgendwo aus der Menge drangen Geräusche, die er nur aus Kochsendungen kannte. Ein Wetzstein, der über eine Klinge gezogen wurde.
„Das ist nicht gut!“ erkannte Bernd tief in seinem Inneren. Instinktiv wich er einen halben Schritt zurück, und stieß sich die Theke des leeren Standes in den Rücken. „Was wollen die nur von mir?“
Der Alte mit der Kreuzkappe zog ein zerschlissenes Stück Pergament aus einer Falte seiner Mönchskutte und hielt es vor sein Gesicht. Mit mahlenden Kiefern begann er zu lesen.
„En dion de exorcicie, de Christo...“ stimmte er einen formlosen Singsang an. Dabei riss er den fast zahnlosen Mund weiter und weiter auf; seine Aussprache wurde zusehends feuchter, bis er bei den letzten Lauten einen braunen Klumpen Speichel in Bernds Gesicht schleuderte. Auch die schnellsten Reflexe konnten einen Treffer nicht mehr verhindern.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ schrie Bernd, während er versuchte das zähe Geschoss mit dem Ärmel abzuwischen. Dadurch sah er auch nicht, dass an verschiedenen Stellen der Menge Klingen und Gabelspitzen gehoben wurden. Irgendwo tauchte sogar einen brennende Fackel auf. Bernd bemerkte die Veränderung erst, als die Meute synchron nach Luft schnappte und einen Schritt von ihm zurück wich. Bernd hörte wie hinter seinem Rücken altes Holz zersplitterte, kurz bevor er rückwärts in die Verkaufsbude krachte. Heiße Finger packten ihn wie Schraubzwingen an den Schultern und zerrten ihn mit sich ehe sein Hinterkopf abermals den Boden küsste.
„Wir sollten jetzt gehen.“ sagte die zischelnde Stimme. Sie klang merkwürdig gelassen, während die Menschenmeute sich unter einer Art Jagdgeheul in Bewegung setzte.
„War das wirklich nötig?“ fragte Bernd keuchend. Vorsichtig betastete er seine Schultern. Sie schmerzten, aber außer acht großen Abschürfungen schien es keine weiteren Wunden zu geben. Immerhin bluteten sie kaum noch.
„Ja.“ erklang die Antwort von der anderen Seite des Raumes. „Ja, es war nötig. Den letzten konnte ich nicht rechtzeitig erwischen. Es sah nicht sehr angenehm aus, obwohl ich Hitze zu schätzen weiß. Aber in loderndes Feuer gestoßen zu werden, erscheint mir etwas übertrieben.“
Bernd zog mit zusammengebissenen Zähnen den zweiten Hemdärmel über seine schmerzende Schulter und atmete tief ein. Das erste Mal seit sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte fand er Zeit sich umzusehen. Er stand nun in einem lichten Raum, oder besser gesagt in einer warmen, trockenen Höhle. Erste Schweißtropfen traten aus seinen Poren.
An der Decke hingen einige Lampen die für gedämpftes Licht sorgten, und ein weiches Schattenspiel über alles legten. Der größte Teil des Raumes wurde von einer massigen Konsole eingenommen, einem Felsenbogen der im Zentrum der Höhle ringförmig aus dem Boden wuchs. Irgendwo hinter den Wänden gurrten und zirpten Maschinen, begleitet von sporadischem Gackern. Hinter der Konsole ragten Berge aus Unrat in die Höhe, zerbrochene Holz- wie auch Metallkisten, größtenteils leer. Hätte man den Architekten von Stonehenge gebeten, die Brücke eines U-Boots zu entwerfen, das Ergebnis müsste etwa so ausgesehen haben. Die Wände wurden von großflächigen Malereien eingenommen. An den Rändern eine primitive Symbolik die an steinzeitliche Höhlenmalerei erinnerte; in der Mitte eine präzise Sternkonstellation, inklusive einer fremdartig zackigen Beschriftung. An einer Seite, wie überflüssig und nachträglich hinzugefügt, plätscherte ein kleiner Brunnen unter einer Glaskuppel. Und davor stand sein Gastgeber. Bernd wusste nicht mehr was er denken sollte. Ob Gehirnerschütterung oder nicht, soviel konnte er sich doch nicht einbilden.
„Und du bist...“ begann er langsam „...wirklich der Teufel?“
Das Wesen ließ den Kopf sinken. Durch die beiden weißen Hörner die aus seiner Stirn wuchsen gewann diese Geste zudem an Ausdruck. Seine Haut aus feinen roten Schuppen erinnerte an eine rostige Eidechse, ebenso die starren schwarzen Augen, die wie bodenlose Abgründe auf den Betrachter wirkten. Das Geschöpf besaß keine Ohren, aber an Kinn Wangen und Kiefer, wo immer die Haut straff über den Knochen saß, bohren sich spitze Dornen an die Oberfläche. Sein silbern glänzender, jedoch mit einigem Dreck besudelter Anzug schien nicht ganz zu passen. Auch ein wulstiger Anhänger den es um den Hals trug störte das Gesamtbild auf subtile Weise.
„Hör mir zu.“ Seine Stimme klang wie eine singende Säge, nur etwas tiefer. „Ich stamme nicht von deiner Welt, aber ich bin nicht dein Teufel. Welches Jahr schreibt ihr gerade? Wenn du Anglisch sprichst, müsstest du mich eigentlich begreifen können.“
„Dann bist du ein... ein Alien?“ folgerte Bernd benommen.
„Alien... fremd, außerirdisch, ja genau! Endlich!“ Der rote Teufel wirkte sichtlich erleichtert. „Komm her, hilf mir. Wir haben noch einiges zu tun.“
„Warte, warte, warte mal!“ rief Bernd. Ein Zittern erfasste seine Hände und breitete sich in die Arme aus. Das konnte doch alles nicht wahr sein! „Was... was bist du? Was treibst du hier? Wo kommt diese Stadt her? Du müsstest doch in der Wüste landen, irgendwo in New Mexico, aber doch nicht hier im Wattenmeer, das ist doch...“
Bernd strauchelte. Er wäre gestürzt, hätte das schuppige Alien ihn nicht gestützt und zu einer der umgedrehten Kisten gelenkt. Schwer atmend ließ Bernd sich auf dem warmen Metall nieder.
„Gib auf deinen Kopf acht.“ zischelte der Außerirdische „Ich weiß nicht, wie man ihn richtet. Hier trink.“ Mit einer Geste verwies er auf den nahen Brunnen. „Und wenn du darauf bestehst, werde ich deine Fragen beantworten. Sofern du mir danach hilfst.“
Bernd nickte kraftlos. In Ermangelung eines Bechers musste er das lauwarme Wasser mit den Händen schöpfen.
„Zuerst, mein Name lautet Lu´cancaliash. Von der Gilde Ken´trayv.“ stellte sich das Alien vor. „Ich bin ein Vishýn.“ Das Wort klang wie ein artikuliertes Zischen.
Das Drehen in Bernds Kopf wurde ein klein wenig langsamer. „Lu´can... kann ich dich Luke nennen?“
„Luke? Luke...“ Lu´cancaliash überlegte. „Oh! Machtauserwählter, Jedimeister. Ja, so kannst du mich nennen, wenn du unbedingt willst.“
Bernd spürte wie der Schwindel wieder anwuchs. „Du kennst Star Wars?“
„Sicherlich.“ antwortete der Vishýn wie selbstverständlich „Wenn man auf die europäischen Behörden warten muss, hat man viel Zeit die Kultur eines Planeten kennen zu lernen.“
„Du hast dich bei der EU angemeldet? Aber die... du... Nein, nein, nein; das kann doch alles nicht stimmen!“
Lu´cancaliash schwieg für einen Moment, um dann zu sagen: „Womöglich kommt es hier zu Unstimmigkeiten. Welches Jahr schreibt ihr im Augenblick?“
„2008“ antwortete Bernd reflexartig „Warum?“
„2008“ Lu´cancaliash nahm ein flaches Steinbrett aus einem Fach unterhalb der Konsole, und begann mit den krallenbewehrten Fingern darauf zu Zeichnen. Die Malerei auf dem Stein folgte den Fingern und bewegte sich später selbstständig.
„Oh.“ sagte das Alien schließlich „Meine Mutter ist noch nicht geschlechtsreif.“ Dann wandte es sich wieder an Bernd. „Der Grund für deine Verwirrung ist selbstverständlich. Ich startete diesen Versuch von dir aus gesehen in der Zukunft.“
„Jetzt bist du auch noch ein Zeitreisender.“ stellte Bernd lakonisch fest.
„Ja. Meine Forschungen waren innerhalb meiner Gilde umstritten, in der Folge musste ich mich nach fremdem Kapital umsehen um sie zu belegen. Auf der Erde, genauer in der Großeuropäischen Union fand ich Gehör. Kapital gegen Beteiligung an eventuellen Ergebnissen. Die Neugier einer kurzlebigen Gattung kann sich wirklich auszahlen. Ich starte dieses Experiment, von hier aus gesehen, in fünf Götterjahren. Das sind etwa zweihundertsiebenundfünfzig deiner Jahre. Das ist auch der Grund für meine verwirrenden Angaben. Bitte verzeih.“
Bernd Langerson saß bemüht ruhig auf der wackligen Metallkiste. Sein Kopf fühlte sich zwar langsam ein wenig besser an, dafür hatte er nun mit Halluzinationen zu kämpfen. Anders konnte er sich nicht erklären, was um ihn herum geschah.
„Du bist also ein Außerirdischer.“ stellte er mit beunruhigender Ruhe fest. „Du bist in der Zukunft auf die Erde gekommen, um hier mit irdischem Geld eine Zeitmaschine zu finanzieren, die offenbar funktioniert hat. Und du hast mich hier rein gezerrt, weil ich sonst von der wütenden Mengen dort draußen auf den Scheiterhaufen geschleift worden wäre.“
„So ist es.“ sagte Lu´cancaliash. „Im Übrigen hoffe ich, dass ich deiner Psyche keinen zu großen Schaden zugefügt habe, aber es ging nicht anders.“
Bernd schüttelte den Kopf, und stellte dabei fest dass sich der Inhalt etwas zu sehr bewegte. „Nein, nicht mehr als üblich, schätze ich.“
„Gut.“ meinte das schuppige Alien „Ich bin mir nicht sicher, aber in einigen Zeitebenen scheinen Menschenmänner etwas merkwürdig zu reagieren, wenn sie von einem Weibchen überwältigt werden.“
„Nein, ist schon gut, ich... Moment Mal! Weibchen?“ Bernd fixierte den Außerirdischen bis sein Blick nicht mehr verschwamm. „Du bist eine Frau?“
In seinen Augen gab es an dem schuppigen Ding nichts was auch nur entfernt auf weibliche Züge hindeutete. Allein schon die kratzende Stimme machte jede Ahnung zunichte.
„Ich gehöre zum gebärenden Teil meiner Spezies.“ antwortete Lu´cancaliash. Ihre Klauenfinger zeichneten filigrane Muster auf die Oberfläche der Felskonsole. „Allerdings zweifle ich, ob der Begriff Frau für mich angemessen ist. Immerhin ist es ein Idiom für Säugetiere. Gleichwohl läuft uns die Zeit davon, wir müssen beginnen. Bist du bereit mir zu helfen?“ Der letzte Satz war weniger eine Frage als vielmehr ein Ausdruck von Ungeduld.
Behutsam richtete Bernd sich auf. Noch wackelig, aber immerhin gehorchtem ihm seine Beine wieder.
„Helfen? Wobei Helfen? Und warum?“
„Weil diese Tür dort nicht gebaut wurde, um einer Belagerung stand zu halten.“ zischte Lu´cancaliash „Die verbliebenen Bewohner dieser Siedlung scheinen mir mein Versehen noch immer übel zu nehmen. Früher oder später werden sie durch diese Tür kommen. Und da ich bereits gesehen habe, was sie ihresgleichen antun, bin ich nicht darauf aus zu erfahren, was sie noch für mich bereithalten.“
„Versehen“ wiederholte Bernd „Welches Versehen? Was hast du mit ihnen angestellt?“
„Ich habe ihre Existenz gerettet.“ antwortete die Vishýn „Von einem gewissen Standpunkt aus.“
„Und von welchem?“
„Es spielte sich so ab: Nach den ersten Testläufen dieser Maschinerie wagten wir unseren ersten Sprung. Neben mir waren zwei menschliche Begleiter hier. Wir stellten schon bald fest, wie einfach es in gewisser Weise ist, sich durch das Temporalum zu bewegen. Die Probleme begannen erst, als wir versuchten konkrete Punkte entlang der Realitätsachse anzusteuern. Eine Art von Unschärfe machte die Orientierung schwer. Es dauerte einige Zeit, uns dem Planeten anzunähern. Ich verlor die Menschen bei dieser Landung. Einer trank aus einer Vulkanquelle, der andere viel vorzeitlicher Fauna zum Opfer. Ich konnte nichts für sie tun, und startete die Maschinerie alleine. Erst später bemerkte ich, dass die Orientierungssysteme, die die Menschen mitbrachten und bedienten, sich nicht auf das von mir gesprochene Varak umstellen lassen. Vermutlich eine Sicherungseinrichtung, von der ich nichts erfuhr. Es gelang mir schließlich, mich an das Zeitalter der Menschen heran zu tasten. Doch um noch präziser zu steuern, brauche ich jemanden der für mich das Anglisch der Systeme liest.“ Lu´cancaliashs schwarze Augenpanzer richteten sich auf Bernd. „Dich!“
„Ich? Aber... nein nein nein nein, Moment. Was ist jetzt mit der Stadt da draußen?“
„Ja, die Stadt.“ Die schuppige Außerirdische zeichnete unablässig weiter an ihren Symbolen. „Die Siedlung rund um die Maschinerie lag ursprünglich auf dieser Insel. Ich fand sie, kurz bevor ein Sturm über sie hinweg ziehen würde. Meine Systeme zeigten mir, dass die Verwüstung keine Überlebenden zurücklassen würde. Also erweiterte ich den Wirkungskreis der Maschinerie, in der Hoffnung eine möglichst große Zahl zu retten. Und in der Annahme, dass mir ihre Dankbarkeit dafür bei meinen Problem weiterhelfen würde. Leider war ich offenbar nicht ausreichend mit einigen Aspekten der primitiveren Menschenkulturen vertraut.“
„Sie halten dich für den Teufel.“ stellte Bernd fest.
Lu´cancaliashs Echsengesicht richtete sich auf ihn.
„So ist es. Ich versuchte bereits, sie wieder abzuladen, aber die entsprechenden Aspekte der Maschinerie sind beschädigt. Ebenso wie der Austrittsmechanismus. Es hängt vermutlich mit der Vulkanerruption zusammen, vielleicht auch mit dem Biss. Wie dem auch sei. Wir müssen jetzt beginnen. Nimm dir die Folien, ich habe sie in dem Behälter rechts von dir verstaut. Breite sie auf der Konsole aus, und sag mir was du dort liest.“
„Jetzt warte doch mal!“ forderte Bernd „Du hast gesagt, die Stadt wäre untergegangen. Wenn das so ist, dann bedeutet dass das da draußen ist Rungholt. Verstehst du, Rungholt! Die versunkene Stadt in der Nordsee. Und Norse ist dann der Rest der ursprünglichen Insel. Ich muss einen Archäologen herrufen, nein, besser gleich einen Reporter. Mit Kameras. Einen Alien und eine versunkene Stadt, das glaubt doch sonst nie einer...“
„Würdest du nun bitte zu lesen beginnen?“ fiel ihm Lu´cancaliash unsanft in die Planung.
„Lesen? Sag mal, wann habe ich eigentlich gesagt, ich würde das hier lesen? Ich muss nach Hause, anrufen. Nur keine Angst, gib mir nur ein paar Stunden Zeit. Ich hole Spezialisten, die werden sich dann mit deinem Problem befassen. Ich werde reich, wenn ich es nur richtig anstelle. Ich muss...“
Das plötzliche Auftauchen des schuppigen Gesichts vor dem seinen riss Bernd aus seinen Träumen. Für einen Augenblick beobachtete er, wie sich die Atemlöcher der Vishýn öffneten und schlossen. War es möglich in den Zügen eines humanoiden Dinosauriers Verblüffung zu erkennen?
„Sag mir, Mensch...“ zischelte sie „...wie kommst du auf den Gedanken, dass du die Wahl hättest?“
Es dauerte einen Moment des Unglaubens, ehe Bernd das volle Ausmaß dieser Worte begriff.
„Was?“ stieß er wütend hervor.
Die Echsenfrau wandte sich wieder ihren Zeichnungen zu. „Ich kann nicht riskieren, dass sich die Maschinerie zu sehr auf einen Zeitrahmen einstellt. Für jede Sekunde des Verweilens müssen mehr Wahrscheinlichkeiten gebrochen werden um wieder zu starten. Der Prozess begann, als ich dich herein brachte. Wenn du jetzt versuchst diese Stadt zu verlassen, werden tausend deiner Jahre über dich hinweg stürmen ehe du die andere Seite erreichst. Und was dort auf dich wartet, wäre leerer als das All. Wirst du jetzt beginnen?“
„Du Elendes...“ Bernd verlor die Beherrschung. Adrenalin fegte den Schwindel der leichten Gehirnerschütterung beiseite. In einem Aufwallen gnadenlosen Zorns stürzte er sich auf das rot geschuppte Alien. Er schleuderte nach vorn, seine rechte Faust zielte auf den Kopf, genau zwischen die starren schwarzen Augen und weißen Hörner. Er war zum Äußersten bereit, als eine Wand auf Höhe des Brustbeins seinen Angriff stoppte. Keuchend entwich die Luft aus seinen Lungen, und irgendwo in seinem Brustkorb quietschten einige Rippen. Die Arme fielen ihm nieder und er sank herab, bis ihn die Hand die ihn aufgehalten hatte wieder sichernd packte.
„Bevor du etwas derartiges noch einmal versuchst, bedenke Folgendes.“ sagte Lu´cancaliash ohne eine Spur von Ärger. „Ich bin unter Graviationsbedingungen aufgewachsen, die dich zermalmen würden. Und ich bin in der Lage, jedes einzelne deiner Organe in einem anderen Zeitalter zu platzieren. Ich will nicht behaupten, mein Handeln wäre nobel. Aber es war notwendig. Hilf mir die Maschinerie zu beherrschen, und ich bringe dich in deine Heimat zurück.“
Mit sanftem Druck wurde Bernd vor die Konsole dirigiert. Ein blinkender Bildschirm, dünn und flexibel wie ein Stück Papier und an den Seiten eingerollt breitete sich vor ihm aus.
„Aber, aber ich kann nur Englisch, kein Anglisch.“ sagte er, während er sich den schmerzenden Brustkorb rieb. „Ich weiß nicht mal was das ist.“
„Anglisch ist eine Hochsprache der Vereinigten Nationen.“ entgegnete Lu´cancaliash „Zumindest wurde mir das gesagt. Es ging aus dem alten Englisch hervor wird seit Jahrhunderten kultiviert, um der Zersetzung durch regionale Akzente entgegen zu wirken. Versuche es!“
Diese Anweisung duldete keinen Widerspruch. Bernd entrollte die Folie, berührte wahllos eines der blinkenden Symbole, und begann mühsam den sich entfaltenden Text zu lesen.
Hjelga weinte bitterlich. Es war zuviel, alles zuviel, viel zu viel. Der Teufel mochte zurück gewichen sein als er die Männer kommen sah, aber sie konnte sich nicht bremsen. Selbst als dem großen, starken Mann der nach Eisen roch sie hochgenommen hatte und fest hielt, wollte es ihr nicht gelingen ihre Tränen zu stoppen. Durch einen verschwommenen Schleier sah sie, wie die Menge rund um Pfarrer Mathäus sich aufteilte. Einige standen Wache rings um sie, und geleitete sie auf ihrem Weg in die Stadt. Der zweite, weitaus größere Teil folgte dem alten Pfarrer mit der bestickten Kappe den Hügel hinauf, wohin der Teufel mit seinem Gehilfen geflohen war. Sie würden ihn zur Strecke bringen.
Der alte Schmied trug sie sicher, doch die Tränen flossen ihr weiter über die Wangen während sie sich an seinen Bart und seine lederne Schürze klammerte. Auch weil sie tief in ihrem Herzen begriffen hatte, dass sie die Eltern niemehr wieder sehen würde. Der letzte aller Tage geschah um sie herum, es ging mit der Welt zu Ende. Pfarrer Mathäus hatte Recht behalten. Selbst wenn sie den Teufel fingen, und ihn mitsamt seinem Helfershelfer im Feuer austrieben, würde dass nicht mehr ändern was bereits geschah. Ein großer Teil der Stadt war verschwunden, im Meer versunken oder von Gott entrückt. Einerlei. Vater und Mutter waren fort, außerhalb der Stadtmauern als es geschah. Sie drückte sich enger an den Schmied, dessen Namen sie nicht einmal kannte, wie an einen Felsen in der wilden Brandung. Es blieben ihr nur noch Tränen.
Die Schläge wurden lauter. Was als ein unregelmäßiges, suchendes Klopfen begonnen hatte, wuchs sich nun zu rhythmischem Dröhnen aus. Auf der Felswand im Inneren der Zeitmaschine formten autonome Farbpartikel ein Bild, dass zeigte was vor der kleinen Schleuse vor sich ging.
„Glücklicherweise sind die Menschen dieses Zeitalters nicht mit dem Prinzip der Schiebetüren vertraut.“ bemerkte Lu´cancaliash. Sie justierte eine Zeichnung auf der Konsole, und das übertragene Bild fuhr auf einen weiteren Blickwinkel zurück. Missfallen zeichnete sich auf ihrem echsenhaften Gesicht ab. „Aber das wird nicht lange so bleiben.“
„Warum haben sie die Tür nicht schon früher bemerkt?“ fragte Bernd. Er wischte einen weiteren Textblock beiseite, nachdem sich heraus gestellt hatte dass es sich um ein Suppenrezept handelte.
„Sie konnten mir wohl folgen, da ich mich mit zusätzlichem Gewicht belastete.“ erwiderte die Vishýn. Bernd verstand die unterschwellige Drohung selbst unter der zischenden Aussprache.
Auf der Übertragung, die wie auf dem Rücken einer Myriade kleiner Käfer über die Felswand kroch, wurde der Rammbock sichtbar, den die Menschen Rungholts in ihrer Mitte hielten. Eigentlich handelte es sich um einen Stützbalken, versehen mit hübschen Schnitzereien, den sie von einem der nahen Gebäude gebrochen hatten. Das Holz war alt und schmierig, besaß jedoch einen harten Kern und erfüllte seinen neuen Zweck als Rammbock dementsprechend gut. Die Schläge, die wie ein tobender Stier auf das Metall der Türen einstürmten, verfehlten ihre Wirkung nicht. Quietschend gab das Material nach, Millimeter um Millimeter. Und anstatt vor Müdigkeit aufzugeben, jubelte die Menge und ließ die Schläge immer schneller auf das Tor prallen.
„Sie werden durchbrechen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.“ stellte Lu´cancaliash fest. Die Ruhe, welche die Außerirdische fast wie eine Haut umgab, begann zu bröckeln. Ihre Krallenfinger bewegten sich mit der Präzision eines Industrieroboters über die Konsole. „Ich hoffe, du tröstest dich nicht mit dem Gedanken, dass dich deine Artgenossen verschonen werden wenn sie diese Anlage erstürmen. Diese Menschen werden sich in ihrem blinden Zorn auf alles stürzen was sie hier vorfinden, und ich sagte schon wie sie vorgehen.“
„Ja, ich weiß.“ presste Bernd zwischen den Zähnen hervor. Mit seiner Nervosität schien auch die Temperatur im Inneren des Zeitschiffs, oder wie immer man diese Maschine nennen sollte, zu steigen. „Kannst du nicht einen Blindflug versuchen, oder so was?“
„Ich kenne diesen Terminus nicht.“ entgegnete Lu´cancaliash. Ihre Augenpanzer hingen starr auf der Bildübertragung. „Hätte ich mich nur nicht gegen das Anbringen von Waffen verweigert.“
„Das bedeutet, die Maschine einfach starten. Mit den Kursdaten arbeiten, die ich bisher übersetzt habe. Selbst wenn ich wüsste, was sie bedeuten.“
„Das brauchst du nicht.“ sagte die Vishýn bestimmt.
„Und was würde passieren, wenn du einfach Koordinaten ansteuerst, die du kennst, weil du sie schon einmal passiert hast?“
Die Bewegung der Krallenhände stoppte abrupt.
„Seit ich meine Menschencrew verloren habe, steuere ich ungefähre Koordinationen an, dass heißt fliege ich blind; wie du es nennst. Aber das ist noch immer besser, als mit bereits passierten Koordinaten zu arbeiten. Es bestünde das Risiko, die Raumzeit an einer bereits geschädigten Stelle weiter zu belasten. Paradoxien wären die Folge. Freie Variablen, die den brechenden Wahrscheinlichkeiten Lücken eröffnen, durch die sich die Maschinerie unberechenbar verhält. Ein temporaler Katapulteffekt wäre möglich. Es könnte buchstäblich alles geschehen!“
Ein weiterer dumpfer Schlag erschütterte die Kabine. Das Metall rund um die Einstiegsluke knirschte bedenklich.
„Ich weiß nicht wie du das siehst...“ meinte Bernd „...aber Alles ist besser als hier.“
„Du hast noch nicht annähernd soviel Alles gesehen wie ich.“ zischte Lu´cancaliash. Ein weiterer Stoß durchlief die Kabine, begleitet vom Quietschen sich verbiegenden Stahls. „Obgleich ich geneigt bin, dir zuzustimmen.“
Hastig wischte ihre Klauenhand einige Muster beiseite und begann im selben Zug neue zu zeichnen. „Ich versuche den temporalen Pfad zu finden, der mich hierher brachte, und ihm in umgekehrter Richtung anzusteuern. Dadurch sollte die Maschinerie im richtigen Augenblick von der Stadt separiert werden, und diese in ihren ursprünglichen Zeitrahmen zurück fallen. Aber das ist nicht mehr als eine Hoffnung. Diese Passage wird nicht lange bestand haben, ich muss ihn auf der Konsole halten. Es liegt an dir, den Wechsel auszulösen.“
Mit den Hörnern wies sie auf eine Fläche wild durcheinander wuselnder Farbpunkte. Eine Käferkolonie drängte sich als Vergleich auf.
Es krachte ein weiteres Mal, etwas brach unüberhörbar. Undeutliche Stimmen drangen ins Innere der Maschinerie, begleitet vom Geruch brennender Pechfackeln.
„Sie haben die Tür durchbrochen. Tu es!“ schrie Lu´cancaliash.
Zum ersten Mal erklang in der zischenden Stimme des Echsenwesens unüberhörbare Panik. Die Hand des Menschen sauste auf die blinkende Ansammlung wimmelnder Flecken. Bernd fühlte jeden seiner Muskeln als er auf die steinerne Schaltfläche schlug. Im Bruchteil eines Augenblicks entschied sich, ob sein Leben außerhalb der Zeit ein Ende fand. Seine Finger berührten die Schaltfläche, und die fernen Maschinen begannen zu singen.
Der Himmel färbte sich bunt, ein weiteres Mal. Der Boden begann zu wackeln, Dinge in nahen Häusern kippten um und zerbrachen. Wimmernd klammerte Hjelga sich an die lederne Schürze des Schmieds. Ihre Augen waren rot, trocken und brannten. Sie hatte keine Tränen mehr. Wie eine zu groß geratene Puppe hing sie in den starken Armen des alten Mannes. Sie sah gen Himmel, und betrachtete das unheilvolle, und dennoch wunderschöne Farbenspiel. Gelb, Rot, Lila und andere für die sie keinen Namen wusste, flossen über und ineinander wie zähe Nebelbänder.
Ein Türstock verdeckte das Licht über Hjelga, sie wurde in ein Haus getragen.
„Ruhig.“ hörte sie eine vertraute Stimme flüstern. „Es wird alles gut.“
Mühsam drehte Hjelga den Kopf, und blickte in das Gesicht ihrer großen Schwester Magdlin. Jener Schwester, nach der sie sich in den letzten Tagen so sehr gesehnt hatte. Mehr als nach Mutter, mehr als nach Vater. Magdlin hatte immer Zeit für sie gehabt, und sie niemals ausgeschimpft. Wenn es jemanden gab, bei dem sie nun sein wollte, dann bei ihr. Hjelga wurde Magdlin in die Arme gelegt, und während ihre eigenen Kinder sich an den Saum ihres Kleides klammerten, strich sie ihrer kleinen Schwester behutsam durchs Haar. Rings um sie tobten die Stimmen.
Es donnerte wie von Gewittersturm, doch der Himmel war wolkenlos. Nur das gleißende Blitzen des fremdartigen, vielfarbigen Wetterleuchtens flackerte zwischen den Ritzen der vernagelten Fensterläden. Das Brummen im Boden wurde lauter
„Alles wird gut.“ wisperte Magdlin hingebungsvoll. Allen Glauben den sie besaß legte sie in diese Worte. Hjelga, ihre Kinder, und auch sie selbst wollten überzeugt sein.
Und dann war es still. Es gab kein werden, kein langsames Geschehen. Plötzlich, im Bruchteil eines Wimpernschlags, wie ein von der Schere durchtrenntes Band, war jeder Laut vorüber. Als hätte jemand einen großen Kessel voller Stille über der Stadt ausgegossen. Eine Ruhe so tief, dass sie in den Ohren brannte. Niemand durchbrach dieses Schweigen, keiner wagte es. Selbst die Wanzen und Mäuse in den Kellern saßen verstummt und geduckt in ihren Schlupfwinkeln.
Jedes Lebewesen fühlte, tief in seinem Innersten, dass etwas geschah, das nicht sein durfte. Alles Leben besitzt einen Sinn für Zeit, eine Uhr die nach den Schlägen des Herzens oder den Kontraktionen von Zellmembranen tickt. Für gewöhnlich zählten sie alle in dieselbe Richtung, doch nun schienen sie das Ziel aus den Augen verloren zu haben. Orientierungslos verharrten sie in dem, was ihnen als Gegenwart erschien, während außerhalb davon die Zeit ihren angestammten Weg wieder fand. Die Stadt fiel in den Sturm zurück, aus dem sie vor einigen Tagen genommen worden war. Kaum eine Sekunde fehlte sie im Gefüge der Zeit, doch in jener Sekunde hatte die Nordsee die Lücke im Deich gefunden. Boden und Häuser stürzten in die See, der hölzerne Kirchturm wurde von den peitschenden Böen getroffen, und knickte wie ein ausgedörrter Hobelspan. Im jaulenden Wind verlor sich das letzte Jammern des Holzes. Wellen von der Größe von Schiffen warfen sich auf die Häuser, zermalmten sie wie gefräßige Mäuler, und spieen Balken und Putz über die Verbliebenen. Wie ein Ungeheuer, eine Bestie aus Salz, Wind und Wasser, heulte der Sturm auf. Sein gurgelnder Triumphschrei erklang, als die Wogen ein letztes Mal über die geborstenen Deiche schwappten. Die aus dem Turm geschleuderte Kirchglocke erklang noch einmal, ehe schlussendlich die gesamte Insel von den Fluten entzwei gerissen wurde.
Und es begab so in jener finstren Nacht der Furcht und des Bangens, dass die prächtige Stadt Rungholt mitsamt all ihrer übrigen Bewohner im Meer versank.
Das Jahr 5238, Schlesstein Nordmeer Küstensiedlungen, eurofrikanisches Commonwealth
„Und wer ist das, Mami?“ fragte das kleine Mädchen und zeigte auf die nächste der glitzernden Hologrammstatuen. Die halbdurchscheinende Darstellung aus Luft und Laserlicht zeigten die scharf geschnittenen Züge eines jugendlichen Mannes, der in einen langen gelben Mantel gekleidet war. Sein Haar tanzte wild umher, während er bedeutungsvoll zur fernen Küste blickte. Die Mutter des Mädchens strich ihr langes Haar zurück, und achtete darauf keines der eingeflochtenen Flüsterblätter zu knicken. Sie berührte das richtige und wusste bescheid.
„Das ist Berlan!“ sagte sie stolz. „Der erste aller Zeitenfahrer. Und er kam von hier.“
„Hier aus Schlesstein?“ fragte die Kleine ungläubig.
„Ja, aber damals hieß es noch anders. Eines Tages tauchte er auf, vor mehr als dreitausend Jahren! Aber wir kennen ihn immer noch. Er tauchte auf, und sein Schiff verschwand wieder. Angeblich hat er die ganze Zeit bereist, und dann beschlossen damit aufzuhören. Er muss tausend Abenteuer bestanden haben. Kannst du dir vorstellen, wie das damals war? Weißt du, das alles ist unglaublich lange her. Ich glaube sogar, damals war hier noch Wasser.“
„Oh“ Das Mädchen blickte zu der Lichtstatue hoch, und fragte sich wie lange sie wohl Interesse heucheln musste, ehe sie ihre Mutter weiter in Richtung des nächsten Süßigkeitenkrämers dirigieren konnten.
Die Wohnbäume zu beiden Seiten der Straße bildeten eine monotone Kulisse für den Erinnerungspfad, und sorgten so dafür dass die Lichtplastiken das Interessanteste blieben was es hier zu sehen gab. Bis ein mehrdimensionales Flackern für einen kurzen Moment einen bunten Schein darüber legte. Eine Tür öffnete sich, die vor einem Blinzeln noch nicht dort gewesen war, und ein Vishýn trat halb heraus. Dem Geruch nach musste es sich um eine Frau handeln, und nach dem altertümlichen Wärmeanzug den sie trug, eine nicht sehr wohlhabende. Soweit im Norden waren die Schuppigen kein häufiger Anblick. Die wenigen, die auf der Erde lebten, verließen selten ihr Sahara-Habitat.
Die Vishýnfrau blickte sich ebenso staunend wie argwöhnisch um, was durch ihre starren Augenpanzer ein wenig seltsam aussah. Schließlich näherte sie sich den Menschen.
„Verzeihung.“ sagte ihr altmodischer Übersetzer ungelenk „Sprechen sie zufällig anglisch?“
Seit längerem Versuche ich mich als Schriftsteller, und mein privates Universum ist mittlerweile auf gut dreißig Geschichten angewachsen; ein erster Roman in der holsderTeufelwieoften Überarbeitung. Jetzt möchte ich hier mal etwas zur öffentlichen Begutachtung reinstellen. Bitte lest, und scheut euch nicht davor zurück Kritik zu üben. Die Geschichte war ursprünglich für einen Wettbewerb gedacht, wurde aber nicht rechtzeitig fertig. Auch deshalb hungere ich nach Feedback darüber.
Tempestas
(eine Geschichte aus dem lebendigen Universum)
Die Katze war nervös. Ihr Schwanz zuckte, sie zitterte in ihrem dösenden Schlaf und erwachte sie, so suchten ihre Augen beständig den Horizont ab. Dann schrie sie kurz und legte sich wieder schlafen.
Das Meer lag ruhig da, flach und glatt wie eine Scheibe aus dem Kirchenfenster. Man sah es in fast jeder Richtung, nur an einer Stelle schoben sich ihm die Hügel auf dem Rücken der Insel in den Weg. In der Ferne ballten sich einige Wolken zusammen, sie schimmerten rosa im Schein des langsam aufziehenden Abendrots. Hjelga drückte sich tiefer in das trockene Riedgras des Daches und versuchte Bilder in den dunklen Wolkenfetzen zu erkennen.
Etwas geschah.
Die Großen bemerkten es nicht, aber Hjelga war es gewohnt dass die Alten blind durch den Tag liefen. Manchmal fragte sie sich, ob die Ohren durch das ständige Rauschen des Meeres irgendwann aufgefüllt wurden. Das würde erklären, warum die Großmutter fast gar nichts mehr hören könnte.
Hjelgas Finger legten sich vorsichtig um den Leib der Katze, und nahm sie behutsam in den Arm. Das Tier öffnete nur einmal kurz ein Auge, warf dem Mädchen einen missmutigen Blick zu, und versank wieder ins Dösen. Ihr warmes weiches Fell strich Hjelga schmeichelnd durch die aufgerissenen Hände. Die Katze raunte kurz, sah zu ihr hoch, streckte sich und begann dann ihr die Fingerspitzen abzulecken. Der Geschmack der Fischdärme hielt sich daran wie Pech, gleich wie oft Hjelga ihre Arme in die Regentonne tauchte. Und die Arbeit des Ausnehmens kehrte jeden Tag aufs Neue wieder, so dass ihr gar keine Chance blieb den Geruch jemals loszuwerden. Fische, Fische, Fische. Am Morgen wurden sie von den Fischern gebracht, gemeinsam mit Mutter und ihren Schwestern nahm sie sie aus, bis Vater sie mit ihren Brüdern dann zum Markt brachte.
Über dem Rücken der Insel sank die Sonne herab. Eine steife Brise blies von Norden, und Hjelga zog ihr Kleid enger um sich. Es nützte nicht viel, denn der Wind pfiff beißend durch jede Naht, wo ein paar Stiche mit grobem Garn einen Flicken auf dem ausgeblichenen Stoff hielten. Hjelga hätte gern ein neues Kleid gehabt, oder gar einen großen Übermantel aus gewachstem Leintuch wie ihn die besseren Fischer trugen. Aber schon allein diesen Gedanken zu denken kam ihr wie eine Sünde vor. Vater und Mutter arbeiten sich die Finger wund, nahmen Heringe oder Makrelen aus, flickten Segel und Netze, bestellten anderer Leute Felder; nur um einen Kanten Brot auf den Tisch zu bringen. Wie konnte sie da so hochmütig sein, und neue Kleider für sich verlangen? Aber das änderte nichts daran, dass sie nur zu gerne eines gehabt hätte.
Die Katze strampelte, Hjelga setzte sie auf die Dachkante bevor sie auf die Idee kam die Krallen auszufahren. Mit einem hochmütigen Blick bedachte das struppige Fellbündel die enge Hafengasse unter sich, ehe sie den buschigen Schwanz um sich schlang und begann sich zu putzen. Hjelga hockte sich in ihre Kuhle, zog die Beine an und sah der Katze zu. Das Tier war auf einem Schiff gekommen, wie alles Fremde und Anmutige. Irgendwo hinter den Wellen des Meeres musste es ein Land geben, in dem nur schöne Dinge existierten. Wo es keine Kälte gab, denn die Händler kamen immer in bunten Kleidern, die so dünn waren, dass man den Stoff des Unterrocks darunter hervor schimmern sah. Dann hüllten sie sich in dicke Pelzmäntel, und suchten die Schänken entlang des Hafens heim. Oft schon hatte Hjelga sie bis spät in die Nacht grölen gehört, und die Schreie der Mädchen die; wie Mutter sagte, zu gar nichts anderem taugten.
In den Gassen rund um das Hafenbecken, die Lagerhäuser und die Anlegekais, gab es viele dieser Mädchen. Hjelga wusste nicht genau was sie machten, es hieß immer sie sei noch zu jung dafür, aber es musste etwas sehr schlimmes sein. Sowohl Mutter als auch der Herr Pastor sagten das wieder und wieder. Außerdem sollte man sie am Besten gar nicht erst anschauen.
Mittlerweile stand die Sonne recht tief, man konnte sie betrachten ohne geblendet zu werden. Gemächlich rutschte sie wie ein orangener Fettfleck am Himmel herab, und überzog dabei die Stadt mit einem abendlichen Schimmer. Hjelga hatte nicht oft Zeit, sich dieses Schauspiel anzusehen. Aber heute war das anders. Vater und Mutter waren den Onkel besuchen gegangen, der außerhalb der Stadt wohnte. Sie würden einige Tage bei ihm sein, ihm auf den Feldern seiner Herrschaft helfen oder sonst was. Derweil blieb Hjelga in der Obhut ihrer Brüder zurück, denn ihre große Schwester Magdlin war längst verheiratet und hatte sich um ihre eigenen Bälger zu kümmern. Die jungen Burschen aber fanden die Mädchen aus der Ankerstrickgasse immer schon wesentlich interessanter als ihre eigene kleine Schwester. So blieb ihr nun ein seltener Moment Ruhe, in dem sie auf einem Dach liegen, in dem Himmel starren, und ihren eigenen Gedanken nachhängen konnte. Der Wind, der niemals über der Insel schwieg, wurde plötzlich stärker. Wie ein scharfer Hund der an seiner Kette zerrte, riss er an den Dächern der Häuser, und brachte einige der ärmeren Hütten vollständig ins Schwanken. Zwischen den rosa schimmernden Wolken über ihr geisterten einige flinke Blitze umher, die niemand sonst bemerkte da sich keiner die Zeit für solche Beobachtungen nahm. Einzig Hjelga sah, wie zuckende Lichter sich in das Abendrot am Himmel mischten. Sie umspielten den massigen Wetterhahn auf der Kirchturmspitze und drehten ihn aus dem Wind. Am Horizont konnte sie bereits ferne Sturmwolken ausmachen, die sich finster und drohend näher schoben. In immer stärker werdenden Böen schob der Wind sie vor sich her. Und dennoch bot ihnen der Wetterhahn nun seine breite Seite dar. Hjelga verstand nichts von den hohen Dingen die die Welt zusammenhielten, so wie Pfarrer Mathäus. Aber niemand wurde auf einer Insel groß, ohne einen Sturm zu erkennen wenn man ihn sah. Gebannt starrte Hjelga auf den schmiedeeisernen Gockel, von dem aus sich die zuckenden Lichter immer weiter in den Himmel spannen. Auch fiel ihr als Erste auf, dass diese seltsamen Blitze nicht donnerten. Gebannt starrte Hjelga auf das Schauspiel am Himmel, fragte sich ob das wohl etwas mit den tanzenden Lichterbögen zu tun hatte, die sich im Winter manchmal im fernen Norden zeigten. So dauerte es eine Weile, bis ihr aufging dass der Wind nicht länger an ihrem Kleid zerrte. Sie stand auf, steckte einen Finger in den Mund und hielt ihn hoch, doch nicht der kleinste Hauch war mehr zu spüren. Nun bemerkten auch die ersten Erwachsenen am Boden, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Laute Stimmen vermischt mit gelegentlichen Schreien stiegen aus den Gassen der Stadt auf.
Die Lichter waren inzwischen etwa auf die Höhe der ersten Dächer herab gesunken. Hjelgas ausgestreckter Finger wurde davon berührt, es kitzelte komisch. Schnell zog sie die Hand wieder zurück, und stellte fest dass ihre Fingernägel deutlich länger waren als die an der anderen Hand. Das mulmige Gefühl in ihrem Magen wuchs zu stattlicher Größe heran. Was immer dort oben vor sich ging, es bremste den Sturm aus und überzog den Himmel mit einem, eigentlich recht hübschen, Lichterspiel. Die Rufe und Schrei der Leute auf den Straßen drangen zu ihr. Hjelga wurde das zu unheimlich. Sie raffte ihr Kleid, und rutschte das dicke Riedgras hinab. Ein Bauschen altes Stroh fing sie gut auf. Hastig lief sie in das Haus, in dem ihre Familie ein Zimmer bewohnte. Keiner ihrer Brüder war da, vermutlich standen sie auf der Straße und gafften in den Himmel. Hjelga kroch in ihr Bett, auf dem noch recht neuen Strohsack nah dem Herd, und zog sich die Flickendecke über den Kopf. Jede Faser ihres kindlichen Verstandes wusste, dass sie zuhause in Sicherheit war. Fern von allem das ihr Böses wollte. Und genau in diesem Moment geschah es, dass die Welt unterging.
„Als die Friesen zum ersten Mal an die Nordsee kamen, da erschreckte sich dass Meer so sehr, dass es dir Flucht ergriff. Und seitdem kommt es alle zwölf Stunden wieder, um nachzusehen ob sie noch da sind.“
„Oh Gott, wie oft kann ein Mensch immer wieder denselben Witz erzählen, bevor er zu schreien anfängt. Oder viel mehr, bevor ich zu schreien anfange?“ fragte Bernd Langerson.
Er bekam keine Antwort, was nicht verwunderlich war. Schließlich bestand die höchste Lebensform neben ihm, im Umkreis von wenigstens einem Kilometer, aus einer Qualle die einsam in einer kleinen Pfütze dümpelte. Die heimatliche Hallig Norse lag nun schon fast außer Sichtweite, und verschwamm mit jedem Schritt über den nassen Sandboden weiter mit dem Horizont. Die Gummistiefel bewegten sich in einer Mischung aus Schmatzen und Quietschen.
„Geh nicht allein ins Watt!“
Diese Worte bekam jeder Tourist gleich bei der Ankunft zu hören. Bei Ebbe konnte sich der Sandboden der Nordsee leicht als trügerische Falle erweisen, denn wenn die Flut wieder stieg schloss sie unachtsame Wanderer schnell auf flachen Sandbänken ein. Und selbst im Sommer lud das kalte Salzwasser der offenen See nicht unbedingt zum Schwimmen ein. Jedem wurde das gesagt, und wie in einem Naturgesetz, gab es immer jemand der davon überzeugt war, diese Worte gelten für ihn nicht. Wie die afroamerikanische Familie im letzten Jahr. Auch sie hatten sich in der Einöde des Watts verirrt, und waren dann in letzter Minute mit dem Schlauchboot von einer überspülten Sandbank gerettet worden. Immerhin, die schon sehr erwachsene Tochter hatte sich daraufhin Bernd gegenüber als äußerst... dankbar erwiesen. Oder sie wollte nur eine Geschichte mit einem Eingeborenen von einer Insel aus der Alten Welt, um zuhause vor ihren Freundinnen angeben zu können. Seit jener Zeit hatte Bernd Langerson jedenfalls ein reges Interesse an der englischen Sprache entwickelt, verstärkt auch durch eine weitere Errungenschaft der Hallig, Sateliten-DSL. Das ganze hatte natürlich auch seine Schattenseiten. Seit der Anschaffung wurde sein Vater nicht müde zu betonen, dass wenn er sich mit derselben Energie früher auf die Schularbeiten gestürzt hätte wie nun auch den Computer, dann auch seine Noten über eine durchschnittliche drei Komma vier hinaus gegangen wären. Und dass damit letztendlich ein besserer Job in Aussicht gestellt wäre, als der so genannte Kurator eines kleinen Museums für Heimatkunde auf einer winzigen Hallig, die ohnehin kaum ein Mensch kannte. Kurator aus dem einen Grund, da es besser klang als Hausmeister. Einige versprengte Touristen brachten zwar jedes Jahr wieder genügend Geld auf das kleine Eiland um den nächsten Winter zu überstehen, aber darauf wollte sich eigentlich niemand verlassen. Auch wenn sie es taten.
Das kleine Museum, das im Raum einer altertümlichen Schmiede untergebracht war, bestand im Wesentlichen aus vergilbten Fotos alter Inselansichten, von denen die Hälfte überhaupt nicht von Norse stammte. Aber das fiel keinem Touristen auf. Die Bilder zeigten ernst bis verbittert aussehende Männer und Frauen, die in übertriebenen Trachten vor den Rieddächern ihrer geduckt wirkenden Häuser standen. Der Rest hielt sich die Waage zwischen historisch interessant und Standgut. Ein alter Messingkompass, salzverkrustete Schiffsplanken, hübsche Muscheln, eine ausgestopfte Möwe und so weiter.
Oft war Bernd schon an Tagen wie diesem hinaus ins Watt gegangen, wenn der Herbst die ersten Sturmwinde brachte und die Einsamkeit auf der ach so freien Insel bisweilen erdrückend schien. Dann half es immer zu gehen, wobei das Ziel keine Rolle spielen durfte. Vor der Flut musste er zurück sein, aber ansonsten gab es keine Grenzen. Das weite Watt lag vor ihm da und wartete auf ihn. Manchmal fand sich bei solchen Streifzügen etwas interessantes, dass einen Fensterplatz im Museum verdienen konnte. Alte Markstücke etwa, die Leuten bei früheren Wanderungen aus den Taschen gefallen waren. Mit einer entsprechenden Patina aus Salz, Tang und Algen wirkten sie fast wie verlorene Münzen eines Wikingerschatzes. Aber an diesem Tag blieben selbst solch kleine Funde aus.
Bernd wanderte schon einige Zeit in einem weiten Bogen, als plötzlich eine knöchelhohe Welle seine Stiefel umschwappte. Rasch kontrollierte er seine Uhr, doch bis die Flut eine solche Höhe erreichte sollte es noch Stunden dauern. Ging der Mond jetzt falsch, und mit ihm die Gezeiten?
Aber bei genauerer Untersuchung erwies sich die Sorge um die Astronomie als unbegründet. Das Wasser lief lediglich auseinander, stieg nicht an sondern verrann im Sand. Er blickte hoch. Außerdem stammte es aus der entgegengesetzten Flutrichtung, was bedeutete...
Bernds Kopf verharrte auf halber Höhe. Für einen Augenblick weigerte sich sein Gehirn auch nur einen Gedanken zu produzieren. Es brauchte die Zeit, um die Bilder die es von den Augen erhielt nochmals zu kontrollieren. Als sich nach nochmaliger Prüfung am gesehenen Ergebnis nichts änderte, nahm es seine Arbeit wieder auf, und durch Bernds Kopf zuckte die Erkenntnis: „Das war neulich noch nicht da!“
Keine hundert Meter von seinen Füßen entfernt, erhob sich ein flaches Kliff aus lehmiger Erde über die Ebene des Wattenmeers, wohl kaum mehr als einen Meter hoch. Die Kante sah nicht aus, wie etwas das auf natürliche Weise entstanden war. Mehr als hätte jemand ein Messer genommen, ein Stück Boden fein säuberlich ausgeschnitten, um ihn danach an diese Stelle zu legen. Mitsamt der Gebäude die darauf standen.
In traumwandlerischer Sicherheit kam Bernd näher, seine Füße achteten allein auf den Boden und darauf nicht an jene Stellen zu treten wo man im Schlick versank und den Stiefel zurück lassen musste um wieder zu entkommen. Er hatte nur noch Augen für die neu entstandene Insel.
Bei näherer Betrachtung ergab sich, dass die Schnittkante einem weit gefassten Bogen folgte. An den Seiten ließen sich die einzelnen Erdschichten wie auf einer geologischen Schautafel erkennen. Besonders deutlich wurde dies am Deich, wo sich Lehm, Kies und festgestampfter Boden zu einem stabilen Wall vereinte. Oder zumindest wäre er stabil gewesen, wenn ihn nicht jemand in der Mitte durchgesäbelt hätte. Dabei verlief der Schnitt bei weitem nicht geradlinig. Immer wieder gab es Kurven und Dellen, als hätte jemand den Schneidenden bei seiner Arbeit abgelenkt. Andächtig wanderte Bernd die Kante entlang, bis hinterhalb des Deiches Häuser auftauchten. Windschiefe Hütten, deren Holz mit einer dicken Salzkruste überzogen war. Einige davon quer aufgeschnitten, entlang der Bruchkante am Boden. Schließlich fand er eine kleine Absenkung. Ohne groß zu überlegen erkletterte er die neue Insel, und wanderte gaffend über die schiefen Pflastersteine.
Hjelga konnte nicht sagen, wie viel Zeit vergangen sein mochte. Sie hatte sich in ihrer Bettlade versteckt, die Decke über den Kopf gezogen und gebetet; während draußen etwas vor sich ging von dem sie gar nichts wissen wollte. Tag und Nacht waren aus den Fugen geraten. Einmal hatte sie es gewagt, sich einen gedörrten Fisch aus dem Vorratsschrank zu nehmen, dann hatte der Himmel erneut geglitzert und sie war wieder im Bett verschwunden. Nach einer Weile musste sie wohl eingeschlafen sein, denn als sie wieder aus dem Fenster sah, war es helllichter Tag. Eine blasse Sonne schien herein, und kaum ein Wölkchen zeigte sich am Himmel. Der Sturm schien einfach verschwunden zu sein, aufgelöst in dem Gerumpel, dass während der Nacht das Haus mitsamt dem Boden erschüttert hatte. Aber die Schreie...
Hjelga schüttelte den Kopf bis er wehtat. Sie wollte nicht daran denken. Niemehr, nimmer.
Nun stand sie auf der Gasse neben ihrem Heim, und versuchte krampfhaft nicht zu bemerken, dass quer durch das Zimmer der Nachbarn die Erde mitsamt dem Haus verschwunden war. Leise patschten ihre kleinen Füße durch den Straßenmatsch. Selbst ohne den seltsamen Donner und den zerrissenen Boden hätte sie nun gewusst, dass etwas nicht in Ordnung sein konnte. Es war fiel zu ruhig. Spätestens als sie die Apfelwebergasse erreichte, hätte das Geschrei der Marktweiber einsetzen müssen, ebenso das Schelten der Fuhrleute und Fischer die sich auf den schmalen Straßen in die Quere kamen und die Rufe der Tagelöhner im Hafen. All das fehlte plötzlich. Auch der Geruch nach rauchenden Torffeuern und dörrendem Fisch. Ruhe und Stille lagen wie eine zu schwere Decke über der Stadt, und schienen ihre Bewohner zu erdrücken. Wenn sie denn nur zu finden wären.
Seit ihrem Erwachen hatte Hjelga keinen anderen Menschen mehr gesehen, und das in einer Stadt in der sich die Leute gleich nach dem Aufstehen auf die Füße traten. Hjelga fürchtete sich. Schlimmer noch als in dunklen Nächten, wenn Vater und Mutter weit fort arbeiten mussten. Selbst schlimmer als sie noch klein war, und der Wattmann ums Haus schlich und stöhnte. Mutter hatte ihren Brüdern schnell verboten sie so zu erschrecken, und von Vater hatten sie eine Prügel bekommen, aber das änderte nichts an der Angst des kleinen Mädchens. Das was jetzt vor sich ging allerdings, das war noch schlimmer. Ihre Furcht ging soweit, dass sie sich beim Schrei einer Möwe in einen leeren Marktstand flüchtete, obwohl dieser Vogel das normalste der Welt war. Die Möwe flatterte ungelenk, und landete nur wenige Schritte entfernt auf der Straße. Mit einem beleidigten Ausdruck auf dem Schnabel blickte sie sich um. Es wollte ihr nicht in den Sinn, dass hier wo sie für gewöhnlich immer ein paar Fetzen Fischdarm ergaunern konnte, nun plötzlich kein Betrieb mehr sein sollte. Sie plusterte ihr Gefieder auf, und begann ganz im Stil eines unzufriedenen Kunden vor den Buden auf und ab zu wandern. Ihr Blick brachte ihre gesamte Verachtung über die Unzuverlässigkeit der Menschen zum Ausdruck.
Hjelga hatte an diesem Tag noch keinen Tropfen getrunken, ansonsten hätte sie beim Anblick dessen was jetzt geschah sicherlich ihr Kleid nass gemacht. Denn aus ihrem Versteck sah sie, wie ein rotes Etwas sich vom nahen Dach stürzte, und den grauweißen Vogel mit seinen Klauen packte.
„Der Teufel!“ erkannte Hjelga voller Entsetzen. Es konnte nur der Teufel sein. Rote Haut wie altes Eisen, schwarze Augen ohne Lider und Hörner die aus dem Schädel wuchsen; es konnte nur der Teufel sein! Sein Gewand war wie ein Silberschein, warf aber Falten wie hartes Tuch. Mit einem Zischen vergrub er seine aufgerissenen Lippen in den Eingeweiden der Möwe. Der arme Vogel fand noch die Kraft für einen letzten krächzenden Schrei, dann wurden seine Augen leer.
Der Teufel indessen trank gierig vom Blut seines Opfers, Tropfen davon rannen ihm das Kinn hinab und tropften von den kleinen Dornen daran in den Straßendreck.
Irgendwo in der Ferne klang ein Ruf, doch Hjelga wagte nicht zu antworten.
Entsetzt beobachtete sie, wie die doppelt gezackten Zähne des Teufels sich durch den kleinen Brustkorb arbeiteten. Das Knacken der zierlichen Rippen schien um soviel lauter zu sein als bei einem gewöhnlichen Huhn. Es stach Hjelga in die Ohren. Rote Knochensplitter flogen nach allen Seiten, während gleichzeitig eine fleischige orangene Zunge aus der Kehle des Ungeheuers hervor zuckte um auch die letzten Reste roten Saftes aus dem Kadaver zu lecken. Schließlich warf er den leergesaugten Vogel fort. Der gefiederte Leichnam landete nah dem Fass hinter dem sich Hjelga versteckte, genau zu ihren Füßen.
Entsetzen lähmte ihr den Leib. Sie wollte weglaufen, durch die Stände kriechen und sich weit, weit fort verstecken. Aber ihr Körper gehorchte nicht. Still und starr blieb sie stehen, wie eine Maus vor der Schlange. Das faulende Salzfass hinter dem sie sich verbarg raunte und knirschte im Wind. Der Teufel brauchte nur aufzustehen, sich umzudrehen, und es war um sie geschehen.
„Das muss zu einem neuen Themenpark gehören.“ dachte Bernd, nachdem er sich mehrmals in verschiedene Körperteile gekniffen hatte. Soweit es ihn betraf, wollte er für den Moment ausschließen, nur durch einen Tagtraum zu stolpern. Dafür hätte er auch niemals genug Fantasie gehabt.
„Japaner, Amerikaner, irgendwo glaubt einer es gäbe noch Bedarf für einem dieser dämlichen Parks, in denen sich Leute in so genannten historischen Trachten bemühten, ein paar Idioten überteuertes Essen und Souvenirs anzudrehen. Das ist immer noch mein Job!“
Vor ihm erhoben sich nun die Gebäude dessen, was wohl das Stadtzentrum darstellen sollte. Im Gegensatz zu den Salz- und Dreckverkrusteten Hütten die den äußeren Ring bildeten, breiteten sich im Zentrum der seltsamen Stadt massivere Häuser aus. Vor allem ihre zur Straße hin ausgerichteten Fronten erinnerten an eine protzig ausgestreckte Faust, bei der an jedem Finger drei schwere Goldringe steckten. An manchen Stellen schimmerte sogar das Weiß einer Fachwerkfassade hervor. Ein seltener Anblick mitten im Wattenmeer. Selbst die Pflastersteine fügten sich hier in Reih und Glied aneinander, während sie im Rest der Stadt wirkten wie beiläufig ausgestreut. Wappen und Zunftembleme verzierten jeden Balken, ebenso die zugeschlagenen Fensterläden. Überhaupt sah man an keinem der Gebäude auch nur ein offenes Fenster. Alles schien verriegelt zu sein.
„Ist wohl noch kein Betrieb.“ sagte Bernd laut. Die Hauswände zu beiden Seiten der schmalen Straße warfen ein leises Echo zurück, irgendwo in der Ferne gackerten Hühner, ansonsten blieb es still.
„Hier kann doch was nicht stimmen.“ dachte Bernd „Städte sollten nicht so leer sein. Auch wenn’s nur Touristenfallen sind.“
Doch für eine Touristenfalle schien all das recht robust gebaut zu sein. Nach einer weiteren Querstraße erreichte er einen offenen Platz, an dem mehrere Pfade aus verschiedenen Richtungen zusammenliefen. Die noch unbedeckten Pflastersteine bildeten ein verbogenes Kreuzmuster, direkt zu Füßen der hoch aufstrebenden Holzkirche. Früher musste dieser Platz sehr weit erschienen sein, bevor man von allen Seiten aus Verkaufsbuden errichtet hatte, die nun alle verlassen da lagen. Bunte, mittelalterlich anmutende Bilder über den breit gezimmerten Durchreichen zeigten was wohl einmal hier verkauft werden sollte. Oder bereits verkauft wurde, wenn man von dem Geruch rund um den Stand mit dem Fisch darüber ausging. Unter dem Tresen fand Bernd eine alte, blutverschmierte Schüssel, an der noch Reste von Fischinnereien hafteten. Die Maden darin fühlten sich sichtlich wohl, und auch die bunt schillernden Fliegen brummten voller Lebenslust.
„Gut, man kann’s auch übertreiben mit dem Realismus.“ meinte er „Kein Gesundheitsamt der Welt würde das hier durchgehen lassen.“
Er ging noch einige Schritte, ehe er vor dem Tor der Kirche stehen blieb. Diese Kirche unterschied sich deutlich von denen die Bernd bisher gesehen hatte. Ein systemloses Muster aus kleinen Holztafeln, mehr oder minder künstlerisch geschnitzt, überzog die Außenwände. Bei näherer Betrachtung, und mit einer Vorstellungskraft, erkannte er dass es sich wohl um Heiligenbilder handelte. Einige der gebrochenen Planken und Bretter trugen Kreuze, oder schemenhafte Mariendarstellungen. Dinge, die man im lutheranischen Norden normalerweise vergeblich suchte. Entweder hatte der Erbauer dieser Siedlung schlecht recherchiert, oder sehr gut. Dann stellte dieser Ort vermutlich eine mittelalterliche Siedlung vor der Reformation dar. Wer aber machte sich diese Mühe?
Der innerdeutsche Tourismus war kein lohnendes Geschäft für diese Art von historisch korrekten Attraktionen. Und selbst wenn... wer ließ irgendwo auf dem Festland eine ganze Stadt errichten, um sie dann mitten im Watt sang und klanglos auszusetzen? Solche Anlagen brauchten Pflege, Wartung. Selbst in dem winzigen Museum zuhause fehlte es nie an Dingen die kaputt gingen. Bei näherer Betrachtung konnte dieses Unternehmen nur der Finanzvernichtung dienen, also was steckte dahinter?
Bernd umrundete schließlich die Kirche. Einige schwere Balken verkeilen die niedrigen Türen, und die Fenster mit waren alten Brettern vernagelt worden. Als wollte jemand die Kirche sturmfest machen. Aber es hatte das gesamte Jahr noch keine größeren Stürme gegeben, auch keine Warnungen. Er trat einige Schritte zurück, blickte nach oben, und ein neues Puzzleteil für das Rätsel das ihn umgab sprang ihm ins Auge. Dem Kirchturm fehlte die Spitze.
Ein sauberer, glatter Schnitt, wenn auch recht krumm geführt, durchtrennte das hölzerne Bauwerk einige Meter über den Dächern der umliegenden Gebäude. Von der Spitze des Kirchturms, der Glocke oder dem Wetterhahn, fehlte jede Spur. Als hätte ein Riese ihn mit einem runden Messer abgetrennt und eingesteckt.
„Als Schlüsselanhänger vielleicht.“ murmelte Bernd, der für einen Moment von seinen eigenen Metaphern gefangen wurde. Doch rasch lauter werdendes Gebrüll von der rechten Seite riss ihn schnell aus diesem tranceartigen Zustand.
Er trat aus dem Windschatten einer Verkaufsbude um in die Straße zu spähen aus der der Lärm kam, als ihn ein rot und silbern gefärbter Schemen von den Beinen fegte. Der Aufprall traf ihn wie ein Hufschlag. Er schlug gegen eine Budenwand, Holz krachte und er rutschte zu Boden. Bernd landete hart, schaffte es aber die größte Wucht mit den Schulterblättern abzufedern. Trotzdem sah er Sternformationen.
„Woher stammst du?“ hörte er leise und summend. Wie aus weiter Ferne. Er schlug die Augen auf, und sah verschwommene Flecken in hellblau und braun, die tanzten. Zusammen mit Schwindel und aufsteigender Übelkeit kamen ihm diese Symptome vage bekannt vor, schließlich bekam er nicht zum ersten Mal etwas auf den Schädel; was das Ganze aber nicht angenehmer machte.
„Stammst du von hier?“ fragte die leise Stimme weiter. Sie klang gehetzt und zischte. „Nein, das Gewebe stimmt nicht. Sprichst du Anglisch? Antworte! Verstehst du es?“
Eine raue Hand ergriff die seine und zog ihn hoch. Es fühlte sich an, wie ein Stein der in der prallen Mittagssonne gelegen war. Noch immer tollten die Farbkleckse vor Bernds Augen umher, nun aber mehr rote.
„Wa... we... was?“ brachte er mühsam hervor.
„Du ya spiik anglish?“ fragte die Zischelstimme. Etwas packte Bernd an der Schulter und hielt ihn aufrecht.
„Yes?“ brabbelte er, während seine Hände an verschiedenen Stellen nach seinem Schädel suchten.
„Oh! Gut. Versuch hier zu bleiben. Ich hole dich.“
Die roten Flecken verschwanden aus Bernds Gesichtsfeld. Irgendwie schaffte er es, seine Schläfen zu finden und festzuhalten während das Gebrüll zu seiner Rechten lauter wurde. Bernd blinzelte angestrengt, hielt sich die Ohren zu und starrte auf das Muster der Pflastersteine, bis diese sich endlich nicht mehr bewegten. Dafür tauchten nun Schuhe darauf auf. Alte Lederstiefel, ausgefranst und brüchig, begleitet von einer Woge aus Weihrauch und altem Fisch.
„Who it der Deibel?“ keifte eine raue Stimme.
Bernd hob vorsichtig den Kopf. Etwas unterhalb seiner Nasenspitze begegnete ihm ein fremdes Gesicht. Ein alter Mann, irgendwo zwischen den Sechzigern und Einhundertfünf. Die Haut warf faltige Gebirgszüge, aber die Haare die unordentlich unter seiner Lederkappe hervorquollen besaßen ein helles Braun. Über der Stirn war ein Kreuz auf die Haube mit den Ohrklappen gestickt. Der Rest der Kleidung sah nach einer uralten Mönchskutte aus.
Bernd schluckte einen scheußlichen Geschmack hinunter, ehe er mühsam fragte: „Wie bitte?“ Offenbar dachte seine Zunge gerade über eine Revolution nach.
Rings um ihn nahm die Lautstärke zu. Verschiedene Diskussionen in einer unbekannten Sprache fanden simultan statt, und verschlüsselten sich auf diese Weise sehr effektiv.
Bernd erkannte, dass er umzingelt war. Er stand gegen den Tresen einer Bude gedrängt, während sich im Halbkreis um ihn eine Menschenmenge sammelte. Manche waren klein, andere standen gebückt, keiner von ihnen überragte den Mann an der Spitze, der Bernd nach wie vor aus zusammengekniffenen Augen anfunkelte. Die Tatsache, dass Manche in den hinteren Reihen mit Mitgabeln und Sensen winkten, förderte nicht eben das gegenseitige Vertrauen.
„Entschuldigung.“ sagte Bernd vorsichtig. Die Gehirnerschütterung hatte offensichtlich einige seltsame Nebenwirkungen. Es kostete Kraft, seine Gedanken zusammen zu halten. „Ich... ich wollte nicht in ihren Park stolpern. Tut mir leid, wenn ich sie bei der Arbeit gestört habe, aber...“
„Janst du mi nid verstand, Lendrett? Wher it der Deibel in?“ knurrte das Faltengesicht. In dem Strick, der sein Gewand um die Hüften zusammen hielt, wurde in Messer sichtbar.
„Deibel... Deibel...“ In Bernds Kopf drehte sich alles.
„Isjer am End eener van deenen?“ raunte der Mönch. „Isjer mijem Leibhaftgen in Bund?“
„Ist... ich... was?“ brachte Bernd hervor. Woher stammten diese Leute? Dänemark? Holland? Skandinavien? Ein paar Worte die dieser Kerl benutzte klangen vertraut, ein wenig so wie Oma manchmal redete. Aber der Rest...
„Hören sie, ich verstehe sie nicht!“ begann er, so deutlich wie möglich. „Aber wenn sie mich jetzt durchlassen, verspreche ich dass ich abhaue und sie nie wieder störe. Von mir aus unterschreibe ich auch eine Schweigeerklärung, oder so etwas, damit ihr komischer Park hier nicht vorzeitig enthüllt wird, in Ordnung?“
Doch ein Blick in die Gesichter der Menge verriet, dass hier gar nichts in Ordnung war. Tief in den Höhlen liegende Augen starrten unter den Kapuzen und über den Kopf gezogenen Decken hervor, und fixierten Bernd mit einer beunruhigenden Entschlossenheit. Irgendwo aus der Menge drangen Geräusche, die er nur aus Kochsendungen kannte. Ein Wetzstein, der über eine Klinge gezogen wurde.
„Das ist nicht gut!“ erkannte Bernd tief in seinem Inneren. Instinktiv wich er einen halben Schritt zurück, und stieß sich die Theke des leeren Standes in den Rücken. „Was wollen die nur von mir?“
Der Alte mit der Kreuzkappe zog ein zerschlissenes Stück Pergament aus einer Falte seiner Mönchskutte und hielt es vor sein Gesicht. Mit mahlenden Kiefern begann er zu lesen.
„En dion de exorcicie, de Christo...“ stimmte er einen formlosen Singsang an. Dabei riss er den fast zahnlosen Mund weiter und weiter auf; seine Aussprache wurde zusehends feuchter, bis er bei den letzten Lauten einen braunen Klumpen Speichel in Bernds Gesicht schleuderte. Auch die schnellsten Reflexe konnten einen Treffer nicht mehr verhindern.
„Bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ schrie Bernd, während er versuchte das zähe Geschoss mit dem Ärmel abzuwischen. Dadurch sah er auch nicht, dass an verschiedenen Stellen der Menge Klingen und Gabelspitzen gehoben wurden. Irgendwo tauchte sogar einen brennende Fackel auf. Bernd bemerkte die Veränderung erst, als die Meute synchron nach Luft schnappte und einen Schritt von ihm zurück wich. Bernd hörte wie hinter seinem Rücken altes Holz zersplitterte, kurz bevor er rückwärts in die Verkaufsbude krachte. Heiße Finger packten ihn wie Schraubzwingen an den Schultern und zerrten ihn mit sich ehe sein Hinterkopf abermals den Boden küsste.
„Wir sollten jetzt gehen.“ sagte die zischelnde Stimme. Sie klang merkwürdig gelassen, während die Menschenmeute sich unter einer Art Jagdgeheul in Bewegung setzte.
„War das wirklich nötig?“ fragte Bernd keuchend. Vorsichtig betastete er seine Schultern. Sie schmerzten, aber außer acht großen Abschürfungen schien es keine weiteren Wunden zu geben. Immerhin bluteten sie kaum noch.
„Ja.“ erklang die Antwort von der anderen Seite des Raumes. „Ja, es war nötig. Den letzten konnte ich nicht rechtzeitig erwischen. Es sah nicht sehr angenehm aus, obwohl ich Hitze zu schätzen weiß. Aber in loderndes Feuer gestoßen zu werden, erscheint mir etwas übertrieben.“
Bernd zog mit zusammengebissenen Zähnen den zweiten Hemdärmel über seine schmerzende Schulter und atmete tief ein. Das erste Mal seit sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte fand er Zeit sich umzusehen. Er stand nun in einem lichten Raum, oder besser gesagt in einer warmen, trockenen Höhle. Erste Schweißtropfen traten aus seinen Poren.
An der Decke hingen einige Lampen die für gedämpftes Licht sorgten, und ein weiches Schattenspiel über alles legten. Der größte Teil des Raumes wurde von einer massigen Konsole eingenommen, einem Felsenbogen der im Zentrum der Höhle ringförmig aus dem Boden wuchs. Irgendwo hinter den Wänden gurrten und zirpten Maschinen, begleitet von sporadischem Gackern. Hinter der Konsole ragten Berge aus Unrat in die Höhe, zerbrochene Holz- wie auch Metallkisten, größtenteils leer. Hätte man den Architekten von Stonehenge gebeten, die Brücke eines U-Boots zu entwerfen, das Ergebnis müsste etwa so ausgesehen haben. Die Wände wurden von großflächigen Malereien eingenommen. An den Rändern eine primitive Symbolik die an steinzeitliche Höhlenmalerei erinnerte; in der Mitte eine präzise Sternkonstellation, inklusive einer fremdartig zackigen Beschriftung. An einer Seite, wie überflüssig und nachträglich hinzugefügt, plätscherte ein kleiner Brunnen unter einer Glaskuppel. Und davor stand sein Gastgeber. Bernd wusste nicht mehr was er denken sollte. Ob Gehirnerschütterung oder nicht, soviel konnte er sich doch nicht einbilden.
„Und du bist...“ begann er langsam „...wirklich der Teufel?“
Das Wesen ließ den Kopf sinken. Durch die beiden weißen Hörner die aus seiner Stirn wuchsen gewann diese Geste zudem an Ausdruck. Seine Haut aus feinen roten Schuppen erinnerte an eine rostige Eidechse, ebenso die starren schwarzen Augen, die wie bodenlose Abgründe auf den Betrachter wirkten. Das Geschöpf besaß keine Ohren, aber an Kinn Wangen und Kiefer, wo immer die Haut straff über den Knochen saß, bohren sich spitze Dornen an die Oberfläche. Sein silbern glänzender, jedoch mit einigem Dreck besudelter Anzug schien nicht ganz zu passen. Auch ein wulstiger Anhänger den es um den Hals trug störte das Gesamtbild auf subtile Weise.
„Hör mir zu.“ Seine Stimme klang wie eine singende Säge, nur etwas tiefer. „Ich stamme nicht von deiner Welt, aber ich bin nicht dein Teufel. Welches Jahr schreibt ihr gerade? Wenn du Anglisch sprichst, müsstest du mich eigentlich begreifen können.“
„Dann bist du ein... ein Alien?“ folgerte Bernd benommen.
„Alien... fremd, außerirdisch, ja genau! Endlich!“ Der rote Teufel wirkte sichtlich erleichtert. „Komm her, hilf mir. Wir haben noch einiges zu tun.“
„Warte, warte, warte mal!“ rief Bernd. Ein Zittern erfasste seine Hände und breitete sich in die Arme aus. Das konnte doch alles nicht wahr sein! „Was... was bist du? Was treibst du hier? Wo kommt diese Stadt her? Du müsstest doch in der Wüste landen, irgendwo in New Mexico, aber doch nicht hier im Wattenmeer, das ist doch...“
Bernd strauchelte. Er wäre gestürzt, hätte das schuppige Alien ihn nicht gestützt und zu einer der umgedrehten Kisten gelenkt. Schwer atmend ließ Bernd sich auf dem warmen Metall nieder.
„Gib auf deinen Kopf acht.“ zischelte der Außerirdische „Ich weiß nicht, wie man ihn richtet. Hier trink.“ Mit einer Geste verwies er auf den nahen Brunnen. „Und wenn du darauf bestehst, werde ich deine Fragen beantworten. Sofern du mir danach hilfst.“
Bernd nickte kraftlos. In Ermangelung eines Bechers musste er das lauwarme Wasser mit den Händen schöpfen.
„Zuerst, mein Name lautet Lu´cancaliash. Von der Gilde Ken´trayv.“ stellte sich das Alien vor. „Ich bin ein Vishýn.“ Das Wort klang wie ein artikuliertes Zischen.
Das Drehen in Bernds Kopf wurde ein klein wenig langsamer. „Lu´can... kann ich dich Luke nennen?“
„Luke? Luke...“ Lu´cancaliash überlegte. „Oh! Machtauserwählter, Jedimeister. Ja, so kannst du mich nennen, wenn du unbedingt willst.“
Bernd spürte wie der Schwindel wieder anwuchs. „Du kennst Star Wars?“
„Sicherlich.“ antwortete der Vishýn wie selbstverständlich „Wenn man auf die europäischen Behörden warten muss, hat man viel Zeit die Kultur eines Planeten kennen zu lernen.“
„Du hast dich bei der EU angemeldet? Aber die... du... Nein, nein, nein; das kann doch alles nicht stimmen!“
Lu´cancaliash schwieg für einen Moment, um dann zu sagen: „Womöglich kommt es hier zu Unstimmigkeiten. Welches Jahr schreibt ihr im Augenblick?“
„2008“ antwortete Bernd reflexartig „Warum?“
„2008“ Lu´cancaliash nahm ein flaches Steinbrett aus einem Fach unterhalb der Konsole, und begann mit den krallenbewehrten Fingern darauf zu Zeichnen. Die Malerei auf dem Stein folgte den Fingern und bewegte sich später selbstständig.
„Oh.“ sagte das Alien schließlich „Meine Mutter ist noch nicht geschlechtsreif.“ Dann wandte es sich wieder an Bernd. „Der Grund für deine Verwirrung ist selbstverständlich. Ich startete diesen Versuch von dir aus gesehen in der Zukunft.“
„Jetzt bist du auch noch ein Zeitreisender.“ stellte Bernd lakonisch fest.
„Ja. Meine Forschungen waren innerhalb meiner Gilde umstritten, in der Folge musste ich mich nach fremdem Kapital umsehen um sie zu belegen. Auf der Erde, genauer in der Großeuropäischen Union fand ich Gehör. Kapital gegen Beteiligung an eventuellen Ergebnissen. Die Neugier einer kurzlebigen Gattung kann sich wirklich auszahlen. Ich starte dieses Experiment, von hier aus gesehen, in fünf Götterjahren. Das sind etwa zweihundertsiebenundfünfzig deiner Jahre. Das ist auch der Grund für meine verwirrenden Angaben. Bitte verzeih.“
Bernd Langerson saß bemüht ruhig auf der wackligen Metallkiste. Sein Kopf fühlte sich zwar langsam ein wenig besser an, dafür hatte er nun mit Halluzinationen zu kämpfen. Anders konnte er sich nicht erklären, was um ihn herum geschah.
„Du bist also ein Außerirdischer.“ stellte er mit beunruhigender Ruhe fest. „Du bist in der Zukunft auf die Erde gekommen, um hier mit irdischem Geld eine Zeitmaschine zu finanzieren, die offenbar funktioniert hat. Und du hast mich hier rein gezerrt, weil ich sonst von der wütenden Mengen dort draußen auf den Scheiterhaufen geschleift worden wäre.“
„So ist es.“ sagte Lu´cancaliash. „Im Übrigen hoffe ich, dass ich deiner Psyche keinen zu großen Schaden zugefügt habe, aber es ging nicht anders.“
Bernd schüttelte den Kopf, und stellte dabei fest dass sich der Inhalt etwas zu sehr bewegte. „Nein, nicht mehr als üblich, schätze ich.“
„Gut.“ meinte das schuppige Alien „Ich bin mir nicht sicher, aber in einigen Zeitebenen scheinen Menschenmänner etwas merkwürdig zu reagieren, wenn sie von einem Weibchen überwältigt werden.“
„Nein, ist schon gut, ich... Moment Mal! Weibchen?“ Bernd fixierte den Außerirdischen bis sein Blick nicht mehr verschwamm. „Du bist eine Frau?“
In seinen Augen gab es an dem schuppigen Ding nichts was auch nur entfernt auf weibliche Züge hindeutete. Allein schon die kratzende Stimme machte jede Ahnung zunichte.
„Ich gehöre zum gebärenden Teil meiner Spezies.“ antwortete Lu´cancaliash. Ihre Klauenfinger zeichneten filigrane Muster auf die Oberfläche der Felskonsole. „Allerdings zweifle ich, ob der Begriff Frau für mich angemessen ist. Immerhin ist es ein Idiom für Säugetiere. Gleichwohl läuft uns die Zeit davon, wir müssen beginnen. Bist du bereit mir zu helfen?“ Der letzte Satz war weniger eine Frage als vielmehr ein Ausdruck von Ungeduld.
Behutsam richtete Bernd sich auf. Noch wackelig, aber immerhin gehorchtem ihm seine Beine wieder.
„Helfen? Wobei Helfen? Und warum?“
„Weil diese Tür dort nicht gebaut wurde, um einer Belagerung stand zu halten.“ zischte Lu´cancaliash „Die verbliebenen Bewohner dieser Siedlung scheinen mir mein Versehen noch immer übel zu nehmen. Früher oder später werden sie durch diese Tür kommen. Und da ich bereits gesehen habe, was sie ihresgleichen antun, bin ich nicht darauf aus zu erfahren, was sie noch für mich bereithalten.“
„Versehen“ wiederholte Bernd „Welches Versehen? Was hast du mit ihnen angestellt?“
„Ich habe ihre Existenz gerettet.“ antwortete die Vishýn „Von einem gewissen Standpunkt aus.“
„Und von welchem?“
„Es spielte sich so ab: Nach den ersten Testläufen dieser Maschinerie wagten wir unseren ersten Sprung. Neben mir waren zwei menschliche Begleiter hier. Wir stellten schon bald fest, wie einfach es in gewisser Weise ist, sich durch das Temporalum zu bewegen. Die Probleme begannen erst, als wir versuchten konkrete Punkte entlang der Realitätsachse anzusteuern. Eine Art von Unschärfe machte die Orientierung schwer. Es dauerte einige Zeit, uns dem Planeten anzunähern. Ich verlor die Menschen bei dieser Landung. Einer trank aus einer Vulkanquelle, der andere viel vorzeitlicher Fauna zum Opfer. Ich konnte nichts für sie tun, und startete die Maschinerie alleine. Erst später bemerkte ich, dass die Orientierungssysteme, die die Menschen mitbrachten und bedienten, sich nicht auf das von mir gesprochene Varak umstellen lassen. Vermutlich eine Sicherungseinrichtung, von der ich nichts erfuhr. Es gelang mir schließlich, mich an das Zeitalter der Menschen heran zu tasten. Doch um noch präziser zu steuern, brauche ich jemanden der für mich das Anglisch der Systeme liest.“ Lu´cancaliashs schwarze Augenpanzer richteten sich auf Bernd. „Dich!“
„Ich? Aber... nein nein nein nein, Moment. Was ist jetzt mit der Stadt da draußen?“
„Ja, die Stadt.“ Die schuppige Außerirdische zeichnete unablässig weiter an ihren Symbolen. „Die Siedlung rund um die Maschinerie lag ursprünglich auf dieser Insel. Ich fand sie, kurz bevor ein Sturm über sie hinweg ziehen würde. Meine Systeme zeigten mir, dass die Verwüstung keine Überlebenden zurücklassen würde. Also erweiterte ich den Wirkungskreis der Maschinerie, in der Hoffnung eine möglichst große Zahl zu retten. Und in der Annahme, dass mir ihre Dankbarkeit dafür bei meinen Problem weiterhelfen würde. Leider war ich offenbar nicht ausreichend mit einigen Aspekten der primitiveren Menschenkulturen vertraut.“
„Sie halten dich für den Teufel.“ stellte Bernd fest.
Lu´cancaliashs Echsengesicht richtete sich auf ihn.
„So ist es. Ich versuchte bereits, sie wieder abzuladen, aber die entsprechenden Aspekte der Maschinerie sind beschädigt. Ebenso wie der Austrittsmechanismus. Es hängt vermutlich mit der Vulkanerruption zusammen, vielleicht auch mit dem Biss. Wie dem auch sei. Wir müssen jetzt beginnen. Nimm dir die Folien, ich habe sie in dem Behälter rechts von dir verstaut. Breite sie auf der Konsole aus, und sag mir was du dort liest.“
„Jetzt warte doch mal!“ forderte Bernd „Du hast gesagt, die Stadt wäre untergegangen. Wenn das so ist, dann bedeutet dass das da draußen ist Rungholt. Verstehst du, Rungholt! Die versunkene Stadt in der Nordsee. Und Norse ist dann der Rest der ursprünglichen Insel. Ich muss einen Archäologen herrufen, nein, besser gleich einen Reporter. Mit Kameras. Einen Alien und eine versunkene Stadt, das glaubt doch sonst nie einer...“
„Würdest du nun bitte zu lesen beginnen?“ fiel ihm Lu´cancaliash unsanft in die Planung.
„Lesen? Sag mal, wann habe ich eigentlich gesagt, ich würde das hier lesen? Ich muss nach Hause, anrufen. Nur keine Angst, gib mir nur ein paar Stunden Zeit. Ich hole Spezialisten, die werden sich dann mit deinem Problem befassen. Ich werde reich, wenn ich es nur richtig anstelle. Ich muss...“
Das plötzliche Auftauchen des schuppigen Gesichts vor dem seinen riss Bernd aus seinen Träumen. Für einen Augenblick beobachtete er, wie sich die Atemlöcher der Vishýn öffneten und schlossen. War es möglich in den Zügen eines humanoiden Dinosauriers Verblüffung zu erkennen?
„Sag mir, Mensch...“ zischelte sie „...wie kommst du auf den Gedanken, dass du die Wahl hättest?“
Es dauerte einen Moment des Unglaubens, ehe Bernd das volle Ausmaß dieser Worte begriff.
„Was?“ stieß er wütend hervor.
Die Echsenfrau wandte sich wieder ihren Zeichnungen zu. „Ich kann nicht riskieren, dass sich die Maschinerie zu sehr auf einen Zeitrahmen einstellt. Für jede Sekunde des Verweilens müssen mehr Wahrscheinlichkeiten gebrochen werden um wieder zu starten. Der Prozess begann, als ich dich herein brachte. Wenn du jetzt versuchst diese Stadt zu verlassen, werden tausend deiner Jahre über dich hinweg stürmen ehe du die andere Seite erreichst. Und was dort auf dich wartet, wäre leerer als das All. Wirst du jetzt beginnen?“
„Du Elendes...“ Bernd verlor die Beherrschung. Adrenalin fegte den Schwindel der leichten Gehirnerschütterung beiseite. In einem Aufwallen gnadenlosen Zorns stürzte er sich auf das rot geschuppte Alien. Er schleuderte nach vorn, seine rechte Faust zielte auf den Kopf, genau zwischen die starren schwarzen Augen und weißen Hörner. Er war zum Äußersten bereit, als eine Wand auf Höhe des Brustbeins seinen Angriff stoppte. Keuchend entwich die Luft aus seinen Lungen, und irgendwo in seinem Brustkorb quietschten einige Rippen. Die Arme fielen ihm nieder und er sank herab, bis ihn die Hand die ihn aufgehalten hatte wieder sichernd packte.
„Bevor du etwas derartiges noch einmal versuchst, bedenke Folgendes.“ sagte Lu´cancaliash ohne eine Spur von Ärger. „Ich bin unter Graviationsbedingungen aufgewachsen, die dich zermalmen würden. Und ich bin in der Lage, jedes einzelne deiner Organe in einem anderen Zeitalter zu platzieren. Ich will nicht behaupten, mein Handeln wäre nobel. Aber es war notwendig. Hilf mir die Maschinerie zu beherrschen, und ich bringe dich in deine Heimat zurück.“
Mit sanftem Druck wurde Bernd vor die Konsole dirigiert. Ein blinkender Bildschirm, dünn und flexibel wie ein Stück Papier und an den Seiten eingerollt breitete sich vor ihm aus.
„Aber, aber ich kann nur Englisch, kein Anglisch.“ sagte er, während er sich den schmerzenden Brustkorb rieb. „Ich weiß nicht mal was das ist.“
„Anglisch ist eine Hochsprache der Vereinigten Nationen.“ entgegnete Lu´cancaliash „Zumindest wurde mir das gesagt. Es ging aus dem alten Englisch hervor wird seit Jahrhunderten kultiviert, um der Zersetzung durch regionale Akzente entgegen zu wirken. Versuche es!“
Diese Anweisung duldete keinen Widerspruch. Bernd entrollte die Folie, berührte wahllos eines der blinkenden Symbole, und begann mühsam den sich entfaltenden Text zu lesen.
Hjelga weinte bitterlich. Es war zuviel, alles zuviel, viel zu viel. Der Teufel mochte zurück gewichen sein als er die Männer kommen sah, aber sie konnte sich nicht bremsen. Selbst als dem großen, starken Mann der nach Eisen roch sie hochgenommen hatte und fest hielt, wollte es ihr nicht gelingen ihre Tränen zu stoppen. Durch einen verschwommenen Schleier sah sie, wie die Menge rund um Pfarrer Mathäus sich aufteilte. Einige standen Wache rings um sie, und geleitete sie auf ihrem Weg in die Stadt. Der zweite, weitaus größere Teil folgte dem alten Pfarrer mit der bestickten Kappe den Hügel hinauf, wohin der Teufel mit seinem Gehilfen geflohen war. Sie würden ihn zur Strecke bringen.
Der alte Schmied trug sie sicher, doch die Tränen flossen ihr weiter über die Wangen während sie sich an seinen Bart und seine lederne Schürze klammerte. Auch weil sie tief in ihrem Herzen begriffen hatte, dass sie die Eltern niemehr wieder sehen würde. Der letzte aller Tage geschah um sie herum, es ging mit der Welt zu Ende. Pfarrer Mathäus hatte Recht behalten. Selbst wenn sie den Teufel fingen, und ihn mitsamt seinem Helfershelfer im Feuer austrieben, würde dass nicht mehr ändern was bereits geschah. Ein großer Teil der Stadt war verschwunden, im Meer versunken oder von Gott entrückt. Einerlei. Vater und Mutter waren fort, außerhalb der Stadtmauern als es geschah. Sie drückte sich enger an den Schmied, dessen Namen sie nicht einmal kannte, wie an einen Felsen in der wilden Brandung. Es blieben ihr nur noch Tränen.
Die Schläge wurden lauter. Was als ein unregelmäßiges, suchendes Klopfen begonnen hatte, wuchs sich nun zu rhythmischem Dröhnen aus. Auf der Felswand im Inneren der Zeitmaschine formten autonome Farbpartikel ein Bild, dass zeigte was vor der kleinen Schleuse vor sich ging.
„Glücklicherweise sind die Menschen dieses Zeitalters nicht mit dem Prinzip der Schiebetüren vertraut.“ bemerkte Lu´cancaliash. Sie justierte eine Zeichnung auf der Konsole, und das übertragene Bild fuhr auf einen weiteren Blickwinkel zurück. Missfallen zeichnete sich auf ihrem echsenhaften Gesicht ab. „Aber das wird nicht lange so bleiben.“
„Warum haben sie die Tür nicht schon früher bemerkt?“ fragte Bernd. Er wischte einen weiteren Textblock beiseite, nachdem sich heraus gestellt hatte dass es sich um ein Suppenrezept handelte.
„Sie konnten mir wohl folgen, da ich mich mit zusätzlichem Gewicht belastete.“ erwiderte die Vishýn. Bernd verstand die unterschwellige Drohung selbst unter der zischenden Aussprache.
Auf der Übertragung, die wie auf dem Rücken einer Myriade kleiner Käfer über die Felswand kroch, wurde der Rammbock sichtbar, den die Menschen Rungholts in ihrer Mitte hielten. Eigentlich handelte es sich um einen Stützbalken, versehen mit hübschen Schnitzereien, den sie von einem der nahen Gebäude gebrochen hatten. Das Holz war alt und schmierig, besaß jedoch einen harten Kern und erfüllte seinen neuen Zweck als Rammbock dementsprechend gut. Die Schläge, die wie ein tobender Stier auf das Metall der Türen einstürmten, verfehlten ihre Wirkung nicht. Quietschend gab das Material nach, Millimeter um Millimeter. Und anstatt vor Müdigkeit aufzugeben, jubelte die Menge und ließ die Schläge immer schneller auf das Tor prallen.
„Sie werden durchbrechen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.“ stellte Lu´cancaliash fest. Die Ruhe, welche die Außerirdische fast wie eine Haut umgab, begann zu bröckeln. Ihre Krallenfinger bewegten sich mit der Präzision eines Industrieroboters über die Konsole. „Ich hoffe, du tröstest dich nicht mit dem Gedanken, dass dich deine Artgenossen verschonen werden wenn sie diese Anlage erstürmen. Diese Menschen werden sich in ihrem blinden Zorn auf alles stürzen was sie hier vorfinden, und ich sagte schon wie sie vorgehen.“
„Ja, ich weiß.“ presste Bernd zwischen den Zähnen hervor. Mit seiner Nervosität schien auch die Temperatur im Inneren des Zeitschiffs, oder wie immer man diese Maschine nennen sollte, zu steigen. „Kannst du nicht einen Blindflug versuchen, oder so was?“
„Ich kenne diesen Terminus nicht.“ entgegnete Lu´cancaliash. Ihre Augenpanzer hingen starr auf der Bildübertragung. „Hätte ich mich nur nicht gegen das Anbringen von Waffen verweigert.“
„Das bedeutet, die Maschine einfach starten. Mit den Kursdaten arbeiten, die ich bisher übersetzt habe. Selbst wenn ich wüsste, was sie bedeuten.“
„Das brauchst du nicht.“ sagte die Vishýn bestimmt.
„Und was würde passieren, wenn du einfach Koordinaten ansteuerst, die du kennst, weil du sie schon einmal passiert hast?“
Die Bewegung der Krallenhände stoppte abrupt.
„Seit ich meine Menschencrew verloren habe, steuere ich ungefähre Koordinationen an, dass heißt fliege ich blind; wie du es nennst. Aber das ist noch immer besser, als mit bereits passierten Koordinaten zu arbeiten. Es bestünde das Risiko, die Raumzeit an einer bereits geschädigten Stelle weiter zu belasten. Paradoxien wären die Folge. Freie Variablen, die den brechenden Wahrscheinlichkeiten Lücken eröffnen, durch die sich die Maschinerie unberechenbar verhält. Ein temporaler Katapulteffekt wäre möglich. Es könnte buchstäblich alles geschehen!“
Ein weiterer dumpfer Schlag erschütterte die Kabine. Das Metall rund um die Einstiegsluke knirschte bedenklich.
„Ich weiß nicht wie du das siehst...“ meinte Bernd „...aber Alles ist besser als hier.“
„Du hast noch nicht annähernd soviel Alles gesehen wie ich.“ zischte Lu´cancaliash. Ein weiterer Stoß durchlief die Kabine, begleitet vom Quietschen sich verbiegenden Stahls. „Obgleich ich geneigt bin, dir zuzustimmen.“
Hastig wischte ihre Klauenhand einige Muster beiseite und begann im selben Zug neue zu zeichnen. „Ich versuche den temporalen Pfad zu finden, der mich hierher brachte, und ihm in umgekehrter Richtung anzusteuern. Dadurch sollte die Maschinerie im richtigen Augenblick von der Stadt separiert werden, und diese in ihren ursprünglichen Zeitrahmen zurück fallen. Aber das ist nicht mehr als eine Hoffnung. Diese Passage wird nicht lange bestand haben, ich muss ihn auf der Konsole halten. Es liegt an dir, den Wechsel auszulösen.“
Mit den Hörnern wies sie auf eine Fläche wild durcheinander wuselnder Farbpunkte. Eine Käferkolonie drängte sich als Vergleich auf.
Es krachte ein weiteres Mal, etwas brach unüberhörbar. Undeutliche Stimmen drangen ins Innere der Maschinerie, begleitet vom Geruch brennender Pechfackeln.
„Sie haben die Tür durchbrochen. Tu es!“ schrie Lu´cancaliash.
Zum ersten Mal erklang in der zischenden Stimme des Echsenwesens unüberhörbare Panik. Die Hand des Menschen sauste auf die blinkende Ansammlung wimmelnder Flecken. Bernd fühlte jeden seiner Muskeln als er auf die steinerne Schaltfläche schlug. Im Bruchteil eines Augenblicks entschied sich, ob sein Leben außerhalb der Zeit ein Ende fand. Seine Finger berührten die Schaltfläche, und die fernen Maschinen begannen zu singen.
Der Himmel färbte sich bunt, ein weiteres Mal. Der Boden begann zu wackeln, Dinge in nahen Häusern kippten um und zerbrachen. Wimmernd klammerte Hjelga sich an die lederne Schürze des Schmieds. Ihre Augen waren rot, trocken und brannten. Sie hatte keine Tränen mehr. Wie eine zu groß geratene Puppe hing sie in den starken Armen des alten Mannes. Sie sah gen Himmel, und betrachtete das unheilvolle, und dennoch wunderschöne Farbenspiel. Gelb, Rot, Lila und andere für die sie keinen Namen wusste, flossen über und ineinander wie zähe Nebelbänder.
Ein Türstock verdeckte das Licht über Hjelga, sie wurde in ein Haus getragen.
„Ruhig.“ hörte sie eine vertraute Stimme flüstern. „Es wird alles gut.“
Mühsam drehte Hjelga den Kopf, und blickte in das Gesicht ihrer großen Schwester Magdlin. Jener Schwester, nach der sie sich in den letzten Tagen so sehr gesehnt hatte. Mehr als nach Mutter, mehr als nach Vater. Magdlin hatte immer Zeit für sie gehabt, und sie niemals ausgeschimpft. Wenn es jemanden gab, bei dem sie nun sein wollte, dann bei ihr. Hjelga wurde Magdlin in die Arme gelegt, und während ihre eigenen Kinder sich an den Saum ihres Kleides klammerten, strich sie ihrer kleinen Schwester behutsam durchs Haar. Rings um sie tobten die Stimmen.
Es donnerte wie von Gewittersturm, doch der Himmel war wolkenlos. Nur das gleißende Blitzen des fremdartigen, vielfarbigen Wetterleuchtens flackerte zwischen den Ritzen der vernagelten Fensterläden. Das Brummen im Boden wurde lauter
„Alles wird gut.“ wisperte Magdlin hingebungsvoll. Allen Glauben den sie besaß legte sie in diese Worte. Hjelga, ihre Kinder, und auch sie selbst wollten überzeugt sein.
Und dann war es still. Es gab kein werden, kein langsames Geschehen. Plötzlich, im Bruchteil eines Wimpernschlags, wie ein von der Schere durchtrenntes Band, war jeder Laut vorüber. Als hätte jemand einen großen Kessel voller Stille über der Stadt ausgegossen. Eine Ruhe so tief, dass sie in den Ohren brannte. Niemand durchbrach dieses Schweigen, keiner wagte es. Selbst die Wanzen und Mäuse in den Kellern saßen verstummt und geduckt in ihren Schlupfwinkeln.
Jedes Lebewesen fühlte, tief in seinem Innersten, dass etwas geschah, das nicht sein durfte. Alles Leben besitzt einen Sinn für Zeit, eine Uhr die nach den Schlägen des Herzens oder den Kontraktionen von Zellmembranen tickt. Für gewöhnlich zählten sie alle in dieselbe Richtung, doch nun schienen sie das Ziel aus den Augen verloren zu haben. Orientierungslos verharrten sie in dem, was ihnen als Gegenwart erschien, während außerhalb davon die Zeit ihren angestammten Weg wieder fand. Die Stadt fiel in den Sturm zurück, aus dem sie vor einigen Tagen genommen worden war. Kaum eine Sekunde fehlte sie im Gefüge der Zeit, doch in jener Sekunde hatte die Nordsee die Lücke im Deich gefunden. Boden und Häuser stürzten in die See, der hölzerne Kirchturm wurde von den peitschenden Böen getroffen, und knickte wie ein ausgedörrter Hobelspan. Im jaulenden Wind verlor sich das letzte Jammern des Holzes. Wellen von der Größe von Schiffen warfen sich auf die Häuser, zermalmten sie wie gefräßige Mäuler, und spieen Balken und Putz über die Verbliebenen. Wie ein Ungeheuer, eine Bestie aus Salz, Wind und Wasser, heulte der Sturm auf. Sein gurgelnder Triumphschrei erklang, als die Wogen ein letztes Mal über die geborstenen Deiche schwappten. Die aus dem Turm geschleuderte Kirchglocke erklang noch einmal, ehe schlussendlich die gesamte Insel von den Fluten entzwei gerissen wurde.
Und es begab so in jener finstren Nacht der Furcht und des Bangens, dass die prächtige Stadt Rungholt mitsamt all ihrer übrigen Bewohner im Meer versank.
Das Jahr 5238, Schlesstein Nordmeer Küstensiedlungen, eurofrikanisches Commonwealth
„Und wer ist das, Mami?“ fragte das kleine Mädchen und zeigte auf die nächste der glitzernden Hologrammstatuen. Die halbdurchscheinende Darstellung aus Luft und Laserlicht zeigten die scharf geschnittenen Züge eines jugendlichen Mannes, der in einen langen gelben Mantel gekleidet war. Sein Haar tanzte wild umher, während er bedeutungsvoll zur fernen Küste blickte. Die Mutter des Mädchens strich ihr langes Haar zurück, und achtete darauf keines der eingeflochtenen Flüsterblätter zu knicken. Sie berührte das richtige und wusste bescheid.
„Das ist Berlan!“ sagte sie stolz. „Der erste aller Zeitenfahrer. Und er kam von hier.“
„Hier aus Schlesstein?“ fragte die Kleine ungläubig.
„Ja, aber damals hieß es noch anders. Eines Tages tauchte er auf, vor mehr als dreitausend Jahren! Aber wir kennen ihn immer noch. Er tauchte auf, und sein Schiff verschwand wieder. Angeblich hat er die ganze Zeit bereist, und dann beschlossen damit aufzuhören. Er muss tausend Abenteuer bestanden haben. Kannst du dir vorstellen, wie das damals war? Weißt du, das alles ist unglaublich lange her. Ich glaube sogar, damals war hier noch Wasser.“
„Oh“ Das Mädchen blickte zu der Lichtstatue hoch, und fragte sich wie lange sie wohl Interesse heucheln musste, ehe sie ihre Mutter weiter in Richtung des nächsten Süßigkeitenkrämers dirigieren konnten.
Die Wohnbäume zu beiden Seiten der Straße bildeten eine monotone Kulisse für den Erinnerungspfad, und sorgten so dafür dass die Lichtplastiken das Interessanteste blieben was es hier zu sehen gab. Bis ein mehrdimensionales Flackern für einen kurzen Moment einen bunten Schein darüber legte. Eine Tür öffnete sich, die vor einem Blinzeln noch nicht dort gewesen war, und ein Vishýn trat halb heraus. Dem Geruch nach musste es sich um eine Frau handeln, und nach dem altertümlichen Wärmeanzug den sie trug, eine nicht sehr wohlhabende. Soweit im Norden waren die Schuppigen kein häufiger Anblick. Die wenigen, die auf der Erde lebten, verließen selten ihr Sahara-Habitat.
Die Vishýnfrau blickte sich ebenso staunend wie argwöhnisch um, was durch ihre starren Augenpanzer ein wenig seltsam aussah. Schließlich näherte sie sich den Menschen.
„Verzeihung.“ sagte ihr altmodischer Übersetzer ungelenk „Sprechen sie zufällig anglisch?“