Eins
Barron T’nar saß in seinem alten Lehnstuhl und blickte nach draußen. Es war Winter und es war dunkel. Bald würde Anak‘, seine Enkelin hereinkommen, um zu essen und ihn um eine Geschichte zu bitten. T’nar war einer der größten Geschichtenerzähler seines Volkes. Er entstammte einer Familie, die von jeher nur „der Clan der Chronisten“ genannt wurde. Seit dem Urbeginn der Zeiten wurde alles aufgeschrieben und für die Nachwelt festgehalten. Nun war es an Barron, dieses Amt weiterzugeben. Der Alte hatte sich entschlossen, eine Generation zu überspringen und gleich seine Enkelin auszubilden. Anak‘ schien sehr viel Talent zum Erzählen zu haben und eignete sich daher besser als sein Sohn Rolan. Jeden Abend hörte sich das junge Mädchen eine neue Geschichte an und lernte nebenbei, die alte Schrift zu lesen. Aber sie musste noch viel lernen. Barron lehnte sich zurück und schmunzelte. Sie musste noch sehr viel lernen...
„Großvater! Da bin ich! Wie geht es dir?“ Anak‘, ein etwa 15jähriges, blondgelocktes Mädchen stürmte herein.
„Gut, gut. Was hast du heute getan?“
„Ich habe Rolan von M’nar erzählt. Es war eine sehr traurige Geschichte.“, Anak‘ senkte den Kopf. Barron wuschelte mit den Fingern durch ihr weiches Haar. „Heute wirst du eine traurigere hören. Traurig und wundervoll zugleich. Bis heute ist es keinem Chronisten gelungen, sie einzuordnen. Vielleicht schaffst du es...“
„Erzähl!“, rief Anak‘ und sah ihren Großvater an.
Dieser lächelte. „Zuerst musst du noch etwas über die alte Sprache wissen, damit du die alten Namen aussprechen kannst. Denn in dieser Geschichte geht es auch um eine junge Frau, die deinen Namen mit dem alten Klang trägt.“
„Du meinst, sie hieß Anaki?“
„Ja, denn in der alten Zeit wurde das Apostroph am Ende deines Namens wie ein i ausgesprochen und auch alle anderen Apostrophe, egal, wo im Wort sie standen.“
„Das heißt, unsere Welt T’ada hieß damals noch Tiada?“ Neugierig blickte Anak‘ den alten Mann an. Barron blickte ernst zurück. „Wir werden heute in der alten Sprache sprechen und auch in den nächsten Tagen, denn diese Geschichte ist nicht in ein paar Stunden erzählt. Dies ist die einzige Sage, die von einem Außenweltler erzählt und sie ist der Schlüssel zum Geheimnis unserer Existenz.“
„Bitte erzähl.“, bat Anak‘ tonlos. Was sie nun hören würde, war das größte Geheimnis der Chronisten. Jetzt würde ihr offenbart werden, worauf T’adas Bewohner seit über 750 Jahren warteten...
„Lege noch etwas Holz in den Kamin, Anak‘ und dann komm her, setz dich und höre mir zu. Es gibt von jener Geschichte zwei Fassungen. Ich werde dir die ältere erzählten, denn sie gibt uns einen besseren Einblick in die Gefühlswelt der Außenweltler.“ Barron machte es sich in seinem Lehnsessel bequem und begann in der alten Sprache zu erzählen...
Terra
Raphael O’Dean schlenderte durch die Straßen der irischen Hafenstadt Galway. Lange war er nicht mehr hier gewesen, doch nun trieb ihn die Sehnsucht zurück zu seinen Wurzeln. Unweit von hier, inmitten der rauhen Schönheit von Connemara, einer Provinz an der irischen Westküste, war er geboren worden. Mit 15 hatte er diesen Ort verlassen und nun nach beinahe zehn Jahren kam er wieder zurück. Wie sehr hatte er die grünen Hügel Westirlands vermisst. Das Meer rauschte noch genauso wie früher und Raphael konnte die Möwen hören, die über den kargen Felsenküsten kreisten. Der Himmel war etwas getrübt, aber das machte nichts. An jedem anderen Ort auf der Welt hätte O’Dean dieses dunkle, rauhe Wetter etwas ausgemacht doch hier nicht. Der kalte Wind und das regnerische Klima gehörten zu Connemara wie der Whisky in eine irische Kneipe. Außerdem überstrahlte das irische Gras alle Dunkelheiten, die Raph kannte. Sogar in der tiefsten Nacht schien es zu leuchten.
Ja, Connemara war etwas Besonderes.
Versonnen blickte der junge Ire auf die Felsen, die draußen vor der Stadt eine kantige Küste bildeten.
Anders als die meisten Iren hatte Raphael kein rotes Haar und auch keine Sommersprossen. Dunkelbraune Locken kräuselten sich auf seinem Kopf und aus dem braungebrannten Gesicht blickten zwei blaugrüne Augen hinaus in die Welt. O’Dean hatte vor kurzem eine Stelle als Sozialpädagoge an einer der Schulen Galways angenommen. Morgen würde er mit der Arbeit beginnen, doch heute hatte er Zeit, sich in die Vergangenheit hinein zu träumen. Gedankenverloren wanderte er durch die Stadt...
„Hey, kannst du nicht aufpassen!?“, rief ihn eine rauhe Stimme in die Wirklichkeit zurück.
Raph schüttelte leicht den Kopf und blickte sein Gegenüber mit großen Augen an. „Mick! Was machst du denn hier?“, rief er. Vor ihm stand ein großer Mann mit breiten Schultern und einem ebenso breiten Grinsen. „Mensch Alter! Willkommen daheim! Du bist also wirklich zurückgekommen, so wie du es damals versprochen hast.“
„Natürlich! Ich war auch schon an unserer alten Schule. Ab morgen werde ich da arbeiten, weißt du.“
„Ach, dass kannst du mir gleich erzählen. Warst du auch schon im Danny’s?“
Raphael schüttelte den Kopf.
„Na dann komm! Dan wird sich freuen, dich wiederzusehen, Raph! Hat jetzt den Pup seines Vaters übernommen, aber sonst ist alles wie früher.“
„Immer noch warmes Guinnes?“, frotzelte O’Dean und grinste. Es war gut, wieder hier zu sein und noch besser war es, alte Freunde zu treffen...
Spät in der Nacht kehrte Raphael in seine Wohnung zurück. Hundemüde warf er sich auf sein Bett und schloss die Augen. Es war wirklich wie früher.
Schon damals waren Dan, Mick und er die besten Freunde gewesen. Offensichtlich hatte sich das nicht geändert. Es würde eine schöne Zeit hier werden und vielleicht blieb er diesmal auch für immer. Dublin hatte sich als nicht einmal halb so aufregend erwiesen, wie die alten Lieder es beschrieben. Galway war sehr viel schöner und die Leute hier waren einfach freundlicher.
Zufrieden drehte Raph sich um und schlief ein...
T’ada
„Wach auf!“
Raphael wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen. Langsam öffnete er die Augen. Er lag, an eine Mauer gelehnt, in einem alten Gemäuer. Die Steine waren nass und kalt und Raphael schauderte unwillkürlich. Wo, verdammt noch mal, bin ich denn hier? Was ist eigentlich los? Wo ist mein Bett? Vielleicht träume ich ja...
„Wer bist du?“, wurde er von einer leisen Stimme aus seinen Gedanken gerissen. Neben ihm kauerte ein großer schlanker Mann mit jungen und trotzdem sehr weise wirkenden Augen. Dunkel und geheimnisvoll leuchteten sie grün in ihren Höhlen. Das schwarzgelockte Haar fiel ihm über die Schultern herab. Sicher hatte das früher einmal sehr gut ausgesehen, doch nun wirkte es eher ungepflegt. Dann hob der Mann die Hand und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Raphael zuckte zusammen. Dieser - dieses Wesen hatte spitze Ohren!
„Was bist du?!“, keuchte Raph atemlos.
Der Mann legte den Kopf schief und sah ihn fragend an. „Wieso fragst du, was ich bin und nicht wer? Außerdem hab ich zuerst gefragt!“
Beklommen nickte O’Dean und stöhnte. Wo bin ich hier nur gelandet?! Wenn das ein Traum ist, dann will ich so bald wie möglich wieder aufwachen! „Ich bin Raphael O’Dean und...und komme aus Irland. Weißt du...wo das ist?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Raphael. Aber ‘rland klingt eigenartig. Solch ein Gebiet gibt es meines Wissens nach in ganz T’ada nicht. Ich bin übrigens L’mpton Asca’m aus Tebakan‘, dem Land der Ausgestoßenen.“
„Limpton Ascaim? Dieser Name erinnert mich an absolut gar nichts....“,überlegte Raph.
L’mpton sah ihn erstaunt an. „Warum sollte er dich denn auch an etwas erinnern?“, fragte er verwirrt. O’Dean zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen. „Naja, in Träumen kommen immer Personen vor, mit denen man im Alltag zu tun hat. Zumindest im abgewandelten Sinn.“
„Wie kommst du darauf, dass das hier ein Traum ist? Du bist wohl schon zu lang in So’var?“
„Soivar?“ Jetzt verstand der junge Ire gar nichts mehr.
L’mpton wackelte mit den Ohren und seufzte. „Gut, du scheinst sehr verwirrt zu sein. Also ganz einfach: Du befindest dich innerhalb des Labyrinths der drei Türme auf So’var, der Insel des Verderbens.“
„Ich kenne keinen Ort, der so heißt. Ich komme von der Erde. Was ist das hier für ein Land?!“, rief O’Dean panisch.
„Raph...ich darf doch Raph sagen, oder?“
Stumm nickte der Ire dem jungen Mann zu. Dieser fuhr fort. „Die alten Schriften besagen, dass es Welten außerhalb von T’ada gibt. Anscheinend bist du ein Außenweltler. Gut, dann erkläre ich dir das jetzt mal schnell. Du befindest dich auf T’ada, der Welt der Neun Völker. Die Namen der einzelnen Länder kannst du dir jetzt sowieso nicht merken, aber du solltest etwas über mich wissen. Ich komme aus dem Land der Ausgestoßenen oder, wie wir es nennen, das Land derer, die freiwillig gekommen sind. Tebakan‘ ist meine Heimat, doch vom Blut her stamme ich aus Chol’sej, dem Land der Stummen. Die T’adan’, dort sprechen nicht. Sie werden zwar mit voll funktionsfähigen Stimmbändern geboren, doch verkümmern diese mit der Zeit. Mit 32 Jahren habe ich das Sprechen erlernt und wollte es nie wieder verlernen. Deshalb habe ich Chol’sej verlassen und bin nach Tebakan‘ gegangen. Denn dort leben all die, die nicht zu ihrem Volk passen. Krieger, die nicht kämpfen wollen, Trauernde, die lachen, Stumme, die sprechen, alle leben im Land derer, die freiwillig gekommen sind.“
„Ähm...und wo sind wir jetzt?“, fragte Raphael müde. Das gefiel ihm alles überhaupt nicht. Was sollte er hier? Warum konnte er nicht endlich aufwachen?!
L’mpton lächelte bitter. „Wir befinden uns auf So’var, der Insel des Verderbens, in einem alten Schloss. Wer das Tor dieser Festung durchschreitet, kehrt nie mehr zurück in die Welt der übrigen.“
„Und was tust du hier, L’mpton? Ist es eigentlich okay, wenn ich L’m sage?“ Raphael hatte es sich an der Steinmauer so bequem wie möglich gemacht und sah den Tebakana‘ (wie sich das Volk der Ausgestoßenen nannte) an. Asca’m nickte. „Ich wollte, oder nein, sollte herausfinden, was in den Mauern des Labyrinths geschieht und wie man wieder herauskommt. Wir...haben gelost, wer diese Aufgabe übernehmen soll. Aus der gesamten Bevölkerung T’adas sind vier auserwählt worden. Bis jetzt habe ich aber keinen der anderen gefunden.“
„Dann wollen wir mal weitersuchen. Vielleicht wissen die ja, wie wir hier rauskommen! Und vielleicht wache ich ja auf, wenn ich den Ausgang gefunden habe.“ O’Dean sprang auf und sah L’mpton an. „Was ist? Kommst du?“
Der Tebakana‘ nickte und erhob sich ebenfalls. Zusammen gingen sie durch die engen, kalten Gänge und versuchten krampfhaft, die Orientierung zu behalten. Sie unterhielten sich kaum, nur manchmal sprachen sie über T’ada und L’ms Heimat. Schließlich kamen sie in einen großen Saal, anscheinend einer der zentralen Punkte des Labyrinths. Vollkommen erschöpft setzten sie sich an den Rand des Raumes und lehnten sich an die Wand. Inzwischen machte Raphael die Nässe kaum noch etwas aus.
Plötzlich hob L’mpton die Hand. „Ich höre etwas.“, flüsterte er.
Panisch blickte O’Dean zurück in den Tunnel, aus dem sie gerade gekommen waren. „Können wir zurück?“, fragte er, doch L’m schüttelte den Kopf.
„Nein, es ist hinter uns.“ Der Tebakana‘ lehnte sich an die dunkle Steinwand und schloss die Augen. „Danke.“, seufzte er glücklich.
Verständnislos starrte Raphael den jungen Mann an. „Was ist?!“
„Hörst du es nicht, Raph? Ein Klopfen, Pause und dann zweimal Klopfen. Das ist einer der auserwählten Vier!“ Dann drehte Asca’m sich um und klopfte an die Steinwand. Prompt kam ein Geräusch zurück und L’m lief in den Tunnel. Einige Minuten später kam er mit einer jungen Frau zurück. Sie war wunderschön! Langes blondes Haar umrahmte ihr unvergleichliches Gesicht. Ihr hochgestecktes Haar entblößte Ohren einer sonderbaren Form. Sie hatten nicht wie L’mptons nur eine Spitze sonder zwei, die fast im rechten Winkel zueinander standen. Von jeder Spitze hing eine kleine Silberkette herab, an der eine blaue Zierblüte mit neun Blättern befestigt war. Ihre Augen waren so schwarz, dass man die Iris nicht erkennen konnte. Geheimnisvoll blickte sie Raphael an. „Wer ist er?“, wandte sich die Frau an L’mpton.
„Ein Freund. Vielleicht ein Außenweltler. Er heißt Raphael O’Dean und kommt angeblich aus ‘rland von der Erde.“
„Von diesem Ort habe ich noch nie etwas gehört.“, überlegte sie und Asca’m nickte. Dann kamen die beiden zu Raph hinüber und die junge Frau stellte sich vor. „Mein Name ist Tal’a ‘kuna und ich entstamme dem Volk der Trauernden von Che’son. Auch ich gehöre der Gruppe der vier Auserwählten an.“
O’Dean nickte ihr zu und reichte ihr die Hand. „Ich bin Raph. Wissen Sie, wie wir hier rauskommen, Miss ‘kuna?“
Tal’a schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich nie. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, wenn du Tal’a zu mir sagst.“
Raphael nickte ihr zu und sah L’m fragend an. „Wie lang wird es dauern, bis wir die übrigen zwei gefunden haben?“
„Ich weiß es nicht.“, antwortete der Tebakana‘ unsicher. „Vielleicht finden wir sie nie.“
O’Dean schnaubte. „Jetzt hör doch endlich mal mit dieser Miesmacherei auf, L‘m! Das geht schon die ganze Zeit so! Nehmen wir doch mal an, wir überleben die nächsten 24 Stunden und die anderen überleben sie auch. Dann könnten wir uns doch demnächst irgendwo in diesem verdammten Labyrinth treffen, oder?!“ Wütend starrte er Asca’m an.
Dieser wackelte mit den Ohren und lächelte. „Du hast recht, Raph. Wir finden sie und wenn wir zusammen sind, werden wir auch wieder hier rauskommen. Vielleicht haben wir ja wirklich eine Chance.“
„Natürlich haben wir die! Es ist doch alles nur ein Traum. Mein Phantasie bringt uns schon wieder von hier weg, vertraut mir.“ Raphael grinste selbstsicher.
Tal’a sah den Iren verständnislos an. Dann wandte sie sich an L’mpton. „Was redet er da und wieso nennt er dich L’m?“
Der Tebakana‘ zuckte mit den Schultern. „Offensichtlich glaubt er, dass er in einem Traum gefangen ist und bald wieder aufwacht. Er glaubt mir ja nicht, dass alles hier real ist. Und anscheinend ist ihm die Spitznamenbildung auf T’ada nicht geläufig. Anders als üblich benutzt er nicht den hinteren Teil meines Namens sondern den vorderen. Aber ich komme aus Tebakan‘ und bin deshalb immer aufgeschlossen für Neues!“ Zufrieden blickte L’mpton Tal’a an.
Sie starrte finster zu Boden. „Als ob ihr die einzigen wärt, die offen für etwas sind! Ich hasse diese Überheblichkeit der Tebakana‘! Es ist jedesmal dasselbe Theater. Immer glaubt ihr, besser zu sein als die anderen!“
„Ja, weil uns früher immer erzählt wurde, dass wir schlechter sind als ihr, weil wir uns nicht an die Bräuche unsere Völker anpassen könnten! Vielleicht wollen wir es einfach nicht, weil wir offen für andere Dinge sind!“, rief L’m.
„Man kann offen für andere Dinge sein und an den eigenen Bräuchen festhalten!“, schrie Tal’a zurück. Raphael starrte die beiden fassungslos an und grinste. Da stand nun eine junge Frau vor einem Mann, der mindestens zwei Köpfe größer war als sie und brüllte ihn an. Natürlich schrie sie lauter als er, da trotz allem Übens Asca’ms Stimmbänder immer noch zu dünn waren. Deshalb brach der Tebakana‘ auch bald ab und hob die Hände. „Okay! Wir sind offen...und ihr seid es auch, gut?“
Hoheitsvoll nickte Tal’a ihm zu. Dann wandte sie sich um und begann, den Saal zu durchsuchen.
L’m hockte sich neben Raphael an die Mauer und seufzte. „Frauen! Gibt es diese wandelnden Probleme in deiner Welt auch?“
O’Dean grinste. „Logisch, und sie sind genauso. Wollen immer recht haben. Furchtbar! Und dann regen sie sich so schnell auf und kreischen rum, absolut schrecklich!“
Die beiden Leidensgenossen nickten sich verständnisvoll zu. Doch dann wurde L’ms Gesichtsausdruck ernst. „Sie ist die Tochter von Mor‘, der Herrscherin von Che’son. Alle waren geschockt, als das Los sie bestimmte. Ich dachte, man hätte es noch einmal geändert, aber offensichtlich ist der Hohe Rat T’adas bei seinem Entschluss geblieben - oder Tal’a war zu stur, um sich von jemandem ersetzen zu lassen.“
„Ich halte die zweite Möglichkeit für wahrscheinlicher, aber sag mal...du hast mir erzählt, dass du nicht wüsstest, wer die anderen drei sind, die auf diese Mission geschickt wurden. Warum weißt du dann, dass sie ausgewählt wurde?“ Fragend sah Raph dem jungen Tebakana‘ in die Augen.
L’m lief rot an und stotterte: „Ähm...das ist eine etwas längere Geschichte...die interessiert dich bestimmt nicht.“
Gerade als Raph grinsend nachfragen wollte, hörten sie einen Schrei aus einem der Tunnel. Sofort sprangen sie auf und liefen hinein.
Auf dem Boden lag ein Mann. Er war etwas untersetzt aber wirkte sehr muskulös. Strähniges kurzes Haar bedeckte seinen Kopf und seine stark hervorstehende Stirn. Seine blauen Augen wanderten misstrauisch von einem zum anderen bis er Tal’a entdeckte. „Sei gegrüßt, Tochter der Mor‘. Wie ich sehe, ist der Rat bei seinem Entschluss geblieben.“, sagte er mit tiefer Stimme. Die junge Che’son‘ sah ihn spöttisch an. „Ihr scheint zu wissen, wer ich bin...aber wer seid Ihr?“
Der Mann lächelte bitter. „Ich bin einer der vier Auserwählten, genau wie Ihr. Mein Name ist Taron D’stuhl. Wer sind die anderen Beiden?“
L’m blickte den Mann an. „Ich bin L’mpton Asca’m von Tebakan‘. Ihr seid aus Aba’kanar, ein Krieger. Wie geht es Durad, Eurem Bruder?“
„Woher kennt Ihr ihn?!“, rief Taron erstaunt. Es war ihm unbegreiflich, wie sein Bruder sich mit einem ausgewanderten Chol’sej‘ abgeben konnte. Doch L’m schloss nur die Augen und lächelte. „Wir haben uns in die Augen gesehen...“
„Was!?“, donnerte D’stuhl. „Wie konnte er diese Schande über meine Familie bringen?!“
„Er hatte seinen Grund, glaubt mir. Er hatte ihn.“
„Nun gut, habt Ihr schon einen Weg nach draußen gefunden?“, fragte Tal’a, doch Taron beachtete sie nicht, sondern starrte Raphael an. „Wer seid Ihr?“
Der Ire hatte bis jetzt nur interessiert zugehört und begriff im ersten Moment nicht, dass er gemeint war. „Oh! Entschuldigung. Ich bin Raphael O’Dean und komme aus Galway von der Erde.“ Schweigend starrte der Krieger den Außenweltler an. Dann wandte er sich an Tal’a.
„Woher kommt er?“
„Von Terra. Er ist nicht von T’ada.“, erklärte L’m.
„Dann ist er vielleicht der Auserwählte“, sagte eine unbekannte Stimme. Taron und die anderen fuhren herum.
Vor ihnen stand eine wunderschöne Frau. Ganz in weiß gekleidet wirkte sie unheimlich blass. Ihre gelben Augen leuchteten aus den Höhlen und blickten jeden einzelnen der Gruppe wissend an. Das kurze braune Haar schmiegte sich an ihren Kopf und fiel ihr über die Stirn. Die edle Nase ließ ihre Erscheinung noch perfekter und übernatürlicher wirken. „Mein Name ist N’caleh Ta’sum. Ich entstamme dem Volk der Ku’laka‘.“
„Ein Gotteskind...“, raunte Taron ehrfürchtig und verbeugte sich.
Tal’a senkte den Kopf und flüsterte: „Die Götter schicken uns Hilfe. Die höchste Hilfe, die wir erwarten können.“
L’mpton ergriff die Hand der Ku’laka‘ und küsste sie. „Nun wird alles gut.“, sagte er glücklich. Raphael wusste nicht so recht, woran er war. „Ähm...hallo. Seid Ihr auch auserwählt worden?“, fragte er arglos.
Taron schnaubte. „Wo habt ihr den nur her? Keine Ahnung, der Kerl!“
„Ich sag doch, er kommt von Terra!“, verteidigte L’m seinen neuen Freund.
Tal’a nickte zustimmend. „Wir hatten noch nicht genug Zeit, ihm alle Völker und deren Stand zu erklären“, wandte sie sich entschuldigend an N’caleh.
Die Gottestochter sah Raph ruhig an. „Wie heißt der Ort, von dem du kommst und wie ist dein Name?“
„Ich...bin...äh, ich bin Raphael O’Dean und...und komme aus Irland, Galway, meine ich.“, stammelte der junge Ire. „Wer seid Ihr noch mal? Ich hab das vorhin nicht ganz mitbekommen.“
Während Taron verächtlich den Kopf schüttelte und Tal’a geschockt die Augenbrauen hochriss, grinste L’m einfach nur. N’caleh schien das Ganze auch mit Humor zu nehmen. Noch einmal nannte sie ihren Namen. „Es wird gesagt, das mein Volk von den Göttern abstamme. Auch ich wurde vom großen Rat T’adas ausgewählt, um den Ausweg aus So’var zu finden. Nun, da ich dich getroffen habe, glaube ich allerdings, dass das Ziel unserer Reise ein anderes ist. Was weißt du über So’var?“
Raph zuckte mit den Schultern. „Nicht viel...eigentlich gar nichts. Scheint eine Art Gefängnis zu sein, oder? Und da war irgend etwas mit einem Labyrinth.“
N’caleh lächelte und wandte sich an L’m. „Du hast ihn zuerst getroffen. Würdest du ihm die Legende von So’var erzählen. In Kurzform bitte.“ Der Tebakana‘ nickte. Dann sah er den Iren an: „Sagen werden bei uns in Gedichtform erzählt, also wundere dich nicht, wenn ich jetzt anfange...
Drei Türme aus den Wolken schießen,
Die Wagemutigen einzuschließen.
Das Labyrinth in ihren Mauern,
Gebaut, um ewig zu überdauern,
Zerstört sie alle,
Nur einen nicht.
Der Auserwählte sieht das Licht.
Die Macht, des Agron-Amuletts,
Das er zu suchen ausgesandt,
Wird liegen eines fernen Tags
In weiser, wohlgesinnter Hand.
Gelingt es,
Ist das Ende nah,
Der hohen Türme von So’var.“
Ungläubig starrte Raphael in die Runde. „Agron?“, war das Einzige, was er stammeln konnte.
Taron sah ihn missbilligend an. Dieser Kerl wusste aber auch gar nichts! „Agron ist ein Material, das vor vielen Jahren in geheimen Regionen T’adas abgebaut wurde. Es gab schon damals nur sehr wenig davon. Agron war das Wertvollste, dass ein Wesen dieser Welt besitzen konnte. Es scheint heller als das stärkste Licht, es ist härter als der teuerste Diamant und es schützt seinen Träger vor allem Übel.“ Raph blickte Taron an. Die Augen des Kriegers hatten sich geweitet und starrten unwirklich zu Boden. L’m hatte stumm zugehört. Doch nun griff er in den Halsausschnitt seines dreckigen grünen Hemdes und zog eine Kette hervor. „Das hier...ist Agron.“, sagte er mit seiner leisen dünnen Stimme.
Taron sog hörbar Luft ein und röchelte. Seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen und neidisch blickte er den Tebakana‘ an.
Tal’a lehnte sich an die rauhe Steinwand und lächelte. „Du trägst es immer noch“, stellte sie fest. L’m nickte und lächelte ebenfalls. Raphael trat auf ihn zu.
„Darf ich es einmal haben?“, fragte er.
Asca’m gab ihm die Kette. Raph hockte sich hin und betrachtete den Anhänger. Obwohl er sehr alt sein musste, zeigte er keine Abnutzungserscheinungen. Silbrig schimmerte ein etwa drei Zentimeter großer Pfeil, der in ein nur fühlbares Viereck eingelassen war und in Richtung Himmel zeigte. Er war so klein und strahlte doch ein unglaubliche Macht aus.
„Wahnsinn“, hauchte der Ire und gab L’m die Kette zurück.
Der Tebakana‘ wollte den Anhänger gerade wieder unter seinem Hemd verschwinden lassen, als N’caleh ihm die Hand auf die Schulter legte. „Warte, es wäre einen Versuch wert, wenn wir-“
„Nein! Das ist zu gefährlich!“, fiel Tal’a ihr ins Wort.
Taron sprang auf. „Wie kannst du es wagen, eine Tochter der Götter zu unterbrechen! Wird in Che’son kein Respekt gelehrt?!“, brüllte er wütend.
Tal’a fuhr zurück und kauerte sich an die kalte Steinwand. N’caleh strich ihr über die Wange. „Ich versteh dich. Aber es muss sein. Vielleicht ist er der Auserwählte und dann müssen wir es versuchen!“ Raphael verstand absolut nicht, warum sich plötzlich alle so aufregten. „Was ist eigentlich mit euch los? Grade wart ihr doch noch total normal. Warum seid ihr so fertig?“
L’mpton sah ihn ernst an. „Die Sage, die ich vorhin erzählt habe, besagt, dass der Auserwählte T’ada von So’var und seinen Schrecken befreien kann. Aus anderen Erzählungen wissen wir, dass der Auserwählte nur von Terra kommen kann. Du kommst von Terra. Hier.“ Er gab ihm die Kette. „Schließe die Augen. Was siehst du?“
Raphael tat, was L’m sagte. Er nahm den Anhänger in die Hand und schloss die Augen. Zuerst geschah gar nichts, doch dann umstrahlte ihn ein heller Schein und er befand sich ganz plötzlich in einer anderen Welt.
Terra
Schweißgebadet wachte er auf. Als ihm jedoch bewusst wurde, dass er in seinem Bett lag, beruhigte er sich etwas. Was war in dieser Nacht geschehen? Raphael wusste, dass er geträumt hatte, aber er konnte sich nicht mehr an den Inhalt seines Traumes erinnern. Der Ire drehte den Kopf zur Seite und starrte auf den Digitalwecker, der neben seinem Bett auf dem Boden stand. „Verdammt!“, entfuhr es ihm. Die Uhr zeigte 7.30 Uhr und um Punkt 8.00 Uhr sollte er in seiner alten Schule am anderen Ende der Stadt sein!
Augenblicklich stand O’Dean auf und stolperte ins Bad. Nach etwa zehn Minuten war er fertig angezogen und konnte losgehen. Das Frühstück würde er heute Mittag nachholen.
Raphael wurde fast schmerzhaft an seine eigene Schulzeit erinnert, als er durch die dunklen Straßen Galways rannte. Wie oft hatte er früher rennen müssen, um wenigstens pünktlich zur zweiten Stunde zu kommen?! Gerade rechtzeitig erreichte er das Schultor der Saint Patrick High. Dort wurde er von Charles Croft, einem großen, stämmigen Briten mit scharfen Gesichtszügen, erwartet. „Das sind Sie ja!“, rief er ungeduldig. „Nun gut. Dann führe ich Sie erst einmal durch das Gebäude.“
Doch Raphael winkte ab. „Das ist nicht nötig, Mr. Croft. Ich bin hier selbst zur Schule gegangen und erinnere mich noch sehr gut. Sie sagten, mein Arbeitsplatz wäre in der Bibliothek? Gut, dann gehe ich am besten gleich mal dort hin.“
Croft nickte dem jungen Iren zu. „Das ist ja großartig! Dann wissen Sie ja auch, wie das hier alles von statten geht und ich spare ziemlich viel Zeit. Gut. Ein Pausenplan befindet sich an Ihrem Arbeitsplatz. Die Bibliothek ist immer ab der dritten Stunde geöffnet. Ihr Tag hier beginnt also um zehn und endet ca. 18 Uhr. Ist das in Ordnung?“ Raphael nickte und machte sich auf den Weg. Er hatte noch etwas Zeit, also sah er sich seine alte Schule etwas genauer an. Eigentlich hatte sich kaum etwas verändert. Noch immer gab es die großen Hallen mit den dreckigen Fenstern. Und das Aquarium war auch noch da. Genau wie früher zog ein großer grüner Fisch mit nahezu riesigen Flossen seine Kreise darin. Ob das immer noch Adam war, der Schulfisch, um den sich die 8. Klassen zu kümmern hatten?
Schließlich kam er an der Bibliothek an. Es war ein großer Raum mit mindestens zehn Regalen, die das gesamte Zimmer durchzogen. Am Ende des Raumes standen ein kleiner Tisch mit mehreren Stühlen und einem sehr alten Computer. Seufzend setzte Raph sich vor das Gerät und aktivierte es. Der Rechner fuhr hoch und zeigt ihm die Außenansicht der Schule. Der Ire tippte ein bisschen auf den Knöpfen herum, fand heraus, dass er Zugang zum Internet hatte und machte sich mit den wichtigsten Funktionen vertraut. Dann lehnte er sich zurück und sah auf den Hof hinaus. Wie alle Schulhöfe war er grau und dreckig. Aber trotzdem waren Pausen immer das Beste an der Schule gewesen.
„Guten Tag. Sind Sie der neue Aufpasser.“ Ein kleines Mädchen stand plötzlich vor Raphael.
O’Dean zuckte zurück. „Ähm. Ja, das bin ich. Aber du kannst ruhig du sagen. Ich heiße Raph.“ Er hielt ihr die Hand hin.
Die Kleine schüttelte sie begeistert. „Cool! Du bist ja viel lockerer als Miss Cebisto. Ich heiße übrigens Lara.“
Raphael lächelte. „Gut, Lara. Dann lauf mal los und sag allen, dass die Bibo wieder offen ist, okay?“ Lara nickte und rannte davon. Grinsend sag Raphael ihr nach. Bald würde diese Bibliothek wieder voll sein und häufig auch so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen könnte.
Zufrieden begann Raphael, sich wirklich an die Arbeit zu machen und die Schüler kennenzulernen. Es schien eine feste Gruppe zu geben, die sich früher wohl jeden Tag hier getroffen hatte. Da war Ann, ein kleines vorlautes Mädchen mit Brille und ein Junge, der von allen nur John genannt wurde, er hieß Jonathan, mit grünen Haaren. Raph grinste und überlegte sich, dass das garantiert schon mehrfach Ärger mit dem Schulleiter gegeben hatte. Den Rest der Gruppe hatte er sich noch nicht so genau ansehen können. Aber es waren etwa vier bis fünf Leute aus den oberen Klassenstufen.
Die kleineren hatte sich an die Tische hinter den Regalen verdrückt und spielten Rommé oder Mensch
Ärgere Dich Nicht.
Acht Stunden später kam er völlig erschöpft im Pup seines Freundes Dan an. Der stämmige rothaarige Mann hatte ihn schon erwartet. „Hier Raph!“, rief er und schob ihm ein Guinnes zu. Dankbar setzte O’Dean das Glas an und leerte es in einem Zug.
Dan sah ihn mit großen Augen an. „Was ist denn mit dir los. So fertig hab ich dich lang nicht mehr erlebt.“
Raph zuckte mit den Schultern. „War ein langer Tag, Dan. Ich denke, ich gehe dann mal. Bin wirklich total fertig. Es hat keinen Sinn, dir und Mick heute noch auf den Geist zu gehen.“
Dan nickte verständnisvoll. „Na dann verzieh dich mal, Kleiner. Bis morgen.“, sagte er.
Raphael musste lächeln. Er war immer der kleinste in der Schule gewesen. Die Jungs aus den oberen Klassen hatte ihn deshalb oft geärgert. Bis er eines Tages von Dan und Mick angesprochen wurde, ob er nicht mit zu den Klippen vor die Stadt kommen wollte. Seit dem waren die drei beste freunde gewesen, obwohl Raph immer noch der Kleinste war. Schon damals hatte Dan ihn Kleiner genannt und auch wenn sie heute fast gleich groß waren, gab der Barkeeper diesen Spitznamen nicht auf.
Zu Hause angekommen setzte der junge Ire sich ans Fenster und betrachtete die Stadt. Er wohnte etwas außerhalb und konnte deshalb Galway wie ein ferner Beobachter sehen. Die Stadt war mit Abstand eine der schönsten Irlands und Connemara galt sowieso als traumhafteste Gegend in ganz Eire. Stolz blickte Raphael auf seine Heimat. Es gab keinen anderen Ort auf der Welt, der so viel Ruhe und Geborgenheit ausstrahlte. Und nirgendwo sonst konnte man so gut seinen Gedanken nachhängen. Er bemerkte gar nicht, wie er langsam einnickte...
T‘ada
„Junge?! Geht es dir gut?“, Taron hatte sich besorgt über O’Dean gebeugt. Der Ire saß mit geschlossenen Augen steif auf dem Boden und war kalkweiß.
N’caleh lächelte. „Er ist es. Er ist der Auserwählte.“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Im Moment befindet er sich in seiner Welt, aber er wird bald zu uns zurückkehren.“
L’m sah sie an. „Wenn Raph der Auserwählte ist, dann kann er uns retten. Dann kann er das Ende von So’var heraufbeschwören.“, rief er aufgeregt.
Tal’a legte ihm die Hand auf den Arm und blickte ihn beschwichtigend an. „Er muss es selbst wollen, Pton. Nur dann kann er uns befreien. Das weißt du doch.“
„Ja, ich kenne die Sage, aber er will bestimmt!“ Der Tebakana‘ kratzte sich am Ohr und starrte stumm auf den Boden.
Taron sah N’caleh an. „Wer geht mit ihm?“, fragte er die Gottestochter.
Sie schüttelte den Kopf. „Du weißt genauso gut wie ich, dass nur der Auserwählte das entscheiden darf. Wir dürfen ihm niemanden aufzwingen.“
„Ja, aber er kennt uns nicht. Wie soll er da eine Entscheidung treffen?“ Tal’a strich sich nervös das Haar aus der Stirn und blickte ernst in die Runde. Gerade wollte N’caleh antworten, als Raphael die Augen aufriss.
„Wo bin ich?!“, keuchte er.
L’m zog die Augenbrauen hoch. „Nicht schon wieder!“, murmelte er.
„Du bist auf T’ada im Labyrinth von So’var.“, sagte N‘caleh. „Was hast du gesehen?“, fragte sie den Iren.
Raphael schüttelte den Kopf, bereute das aber sofort, das es fürchterlich schmerzte. „Ich war in Galway. Hatte meinen ersten Arbeitstag.“, stöhnte er. „Sogar Adam ist noch da!“
Taron sah ihn ungläubig an. Was erzählte dieser Außenweltler jetzt schon wieder? „Wer ist Adam?“, knurrte er.
Raph sah ihn erstaunt an. Der Schulfisch war doch stadtbekannt! Doch dann ging ihm endlich auf, wo er war. „Adam ist...ach vergiss es!“, sagte er schnell. Dann wandte er sich L’mpton zu und gab ihm die Kette zurück. Der Tebakana‘ ließ sie unter seinem Hemd verschwinden. N’caleh beobachtete die Gruppe. Schließlich seufzte sie und sagte leise: „Raphael O’Dean, du bist der Auserwählte.“
„Welcher Auserwählte?“ Raphael hatte immer noch nicht begriffen, worum es hier eigentlich ging. Tal’a sank in sich zusammen, Taron schnaubte verächtlich und L’mpton grinste. Dieser Außenweltler war einfach nur total weltfremd!
N’caleh sah den jungen Iren ernst an. „Erinnerst du dich noch an die Sage, die L’mpton dir vorhin erzählt hat?“
Als Raphael nickte, fuhr sie fort: „Du bist durch das Amulett in deine Welt wiedergekehrt. Das habe ich in deinen Augen gesehen, als sie sich einmal kurz öffneten. Sie zeigten ein großes Gebäude mit vielen Fenstern und dahinter ein großes Meer mit Felsenküsten. Ist das dein ‘rland?“
Raphael schloss die Augen und nickte. Ja, das war sein Irland, seine Schule, seine Küste, sein Meer und sein reales Leben.
N’caleh sah ihm ernst in die Augen. „Dann bist du bist dazu auserwählt, T’ada von So’var zu befreien.“
Raphael sah sie gelassen an. Das Gesagte schien kaum Eindruck auf ihn zu machen. „Darf ich mal fragen, was eigentlich so schlimm an diesem Labyrinth ist?“, sagte er arglos.
Taron starrte ihn an. „Wer durch den Eingang der Türme geht, kehrt nie mehr zurück!“, antwortete er mit gefährlich ruhiger Stimme.
Raphael zuckte mit den Schultern. „Na dann geht eben nicht mehr durch diese Tür. Ich weiß echt nicht, wo da das Problem liegt.“
L’m nickte. „Ich weiß, was du meinst, Raph. Aber von hier geht eine bestimmte Macht aus, die uns einfach dazu zwingt, durch das verbotene Tor zu gehen.“
„Alle großen Geister sind in den Mauern von So’var verschwunden. Unsere Welt befindet sich seit Jahrhunderten auf demselben Wissensstand.“, fügte Tal’a aufgeregt hinzu.
N’caleh hob die Hand. Sofort schwiegen alle. Die Gottestochter sah Raph tief in die Augen. „Es ist deine Aufgabe, uns von So’var zu befreien und den Geist von T’ada wieder zu entfesseln. Gelingt dir das nicht, so werden wir niemals mehr erfahren, als was wir schon seit Jahrhunderten wissen.“
Erst jetzt begriff Raph, was diese vier T’adan’ eigentlich von ihm wollten. Nun wurde ihm die Tragweite dieser Bitte klar und er verstand endlich, was ihm da für eine große Last aufgebürdet worden war. Er sollte eine Welt bewegen!
Unsicher sah er die Gottestochter an. „Aber ich komme doch auch nicht hier raus.“, sagte er leise. „Glaubt ihr, ich kann das Labyrinth einfach so verlassen? Und einen Ausgang kann ich auch nicht finden! Und überhaupt, wie kommt ihr gerade auf mich?!“
L’mpton starrte den jungen Iren an. Dann wanderte sein Blick nach oben an die hohe Decke, zu einem der 6 Tunnel, die von diesem Raum ausgingen und wieder zurück zu Raphael. Er wollte etwas sagen, doch N’caleh hob die Hand. „Raphael O’Dean, du bist der Auserwählte. Viel mehr weiß ich auch nicht. Aber ich weiß, dass du nicht allein bist. Du musst dir einen Gefährten suchen, so verlangt es die Sage. Zusammen mit ihm und dem Amulett hast du vielleicht eine Chance, aus dem Labyrinth zu entkommen.“
Raph starrte hartnäckig auf den Boden. Warum er? Warum verdammt noch mal er?! Und wie sollte ihm ein Amulett dabei helfen? Und wen sollte er überhaupt mitnehmen? Auf alle Fälle nicht Taron, entschied der junge Mann sofort.
Tal’a sah den Menschen mitleidig an. Es musste schwer sein, kopfüber in eine neue Welt zu stürzen und sie sofort retten zu müssen. Aber so verlangte es die Sage nun einmal und wenn nicht bald etwas geschah, war es vielleicht zu spät. „Such dir jemanden aus, Raph. Wir alle werden die zur Seite stehen.“
„Aber wen?“, fragte Raphael panisch. „Ich weiß weder, was mich erwartet, noch wer dafür der beste Gefährte ist!“
L’m legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wenn du willst, komm ich mit, Raph. Ich weiß auch nicht, was du tun musst, aber ich werde dir helfen, wo ich kann.“
Der junge Ire sah den Tebakana‘ dankbar an. „Darf ich ihn mitnehmen?“, wandte er sich an N’caleh.
Die Gottestochter sah ihn hoheitsvoll an. „Du kannst den wählen, der dir am besten geeignet scheint. Wenn das L’m ist, so mag er mit dir gehen.“
„Na gut, jetzt, wo er einen Partner hat, wie kommen sie hier raus?“, fragte Taron.
Tal’a sah N’caleh an. „Wir können sie vor So’vars Mauern bringen.“, sagte sie leise.
Asca’m schnappe nach Luft. „Das ist zu gefährlich! Für euch und für uns! Es wurde noch nie versucht. Ihr wisst nicht, ob Colars Legende wahr ist!“
N’caleh sah ihn ruhig an. „Sie ist wahr, L’mpton Asca’m. Wie kannst du daran zweifeln, was die Chronologien uns erhalten?“
L’m senkt den Blick und starrte zu Boden. Tal’a strich ihn um die Ohrenspitzen. „Es wird uns nichts passieren. Eine Ortsveränderung ist zwar anstrengend, doch sie bringt uns nicht um, Pton. Mach dir keine Sorgen.“
„Das ist es nicht.“, erwiderte der Tebakana‘ leise. „Die Legende besagt, dass euer Geist mit dem unsrigen verbunden sein wird. Wenn wir sterben, so sterbt auch ihr. Das ist eine zu große Last."
N’caleh erhob sich und stand still in der Mitte des Raumes. Ihr weißes Gewand schien von innen heraus zu leuchten. Tal’a ging zu ihr und reiche ihr die Hand. Dann schlossen beide die Augen. Eine grünes Licht umstrahlte die beiden Frauen. Der Raum, in dem sie sich befanden war erfüllt von Wärme und Vertrauen. Raphael sah den beiden T’adan‘ verwundert zu. Er wollte L’m etwas fragen, doch der Tebakana‘ hob die Hand und schüttelte den Kopf.
Kurze Zeit später erlosch das grüne Licht und N’caleh und Tal‘a kehrten zur Gruppe zurück.
„Ich habe unsere Geister vereinigt.“, erklärte die Gottestochter. „Stirbt einer von euch, so werden wir beide stark geschwächt, jedoch werden wir überleben.“
L’mpton nickte ihr dankbar zu.
Barron T’nar saß in seinem alten Lehnstuhl und blickte nach draußen. Es war Winter und es war dunkel. Bald würde Anak‘, seine Enkelin hereinkommen, um zu essen und ihn um eine Geschichte zu bitten. T’nar war einer der größten Geschichtenerzähler seines Volkes. Er entstammte einer Familie, die von jeher nur „der Clan der Chronisten“ genannt wurde. Seit dem Urbeginn der Zeiten wurde alles aufgeschrieben und für die Nachwelt festgehalten. Nun war es an Barron, dieses Amt weiterzugeben. Der Alte hatte sich entschlossen, eine Generation zu überspringen und gleich seine Enkelin auszubilden. Anak‘ schien sehr viel Talent zum Erzählen zu haben und eignete sich daher besser als sein Sohn Rolan. Jeden Abend hörte sich das junge Mädchen eine neue Geschichte an und lernte nebenbei, die alte Schrift zu lesen. Aber sie musste noch viel lernen. Barron lehnte sich zurück und schmunzelte. Sie musste noch sehr viel lernen...
„Großvater! Da bin ich! Wie geht es dir?“ Anak‘, ein etwa 15jähriges, blondgelocktes Mädchen stürmte herein.
„Gut, gut. Was hast du heute getan?“
„Ich habe Rolan von M’nar erzählt. Es war eine sehr traurige Geschichte.“, Anak‘ senkte den Kopf. Barron wuschelte mit den Fingern durch ihr weiches Haar. „Heute wirst du eine traurigere hören. Traurig und wundervoll zugleich. Bis heute ist es keinem Chronisten gelungen, sie einzuordnen. Vielleicht schaffst du es...“
„Erzähl!“, rief Anak‘ und sah ihren Großvater an.
Dieser lächelte. „Zuerst musst du noch etwas über die alte Sprache wissen, damit du die alten Namen aussprechen kannst. Denn in dieser Geschichte geht es auch um eine junge Frau, die deinen Namen mit dem alten Klang trägt.“
„Du meinst, sie hieß Anaki?“
„Ja, denn in der alten Zeit wurde das Apostroph am Ende deines Namens wie ein i ausgesprochen und auch alle anderen Apostrophe, egal, wo im Wort sie standen.“
„Das heißt, unsere Welt T’ada hieß damals noch Tiada?“ Neugierig blickte Anak‘ den alten Mann an. Barron blickte ernst zurück. „Wir werden heute in der alten Sprache sprechen und auch in den nächsten Tagen, denn diese Geschichte ist nicht in ein paar Stunden erzählt. Dies ist die einzige Sage, die von einem Außenweltler erzählt und sie ist der Schlüssel zum Geheimnis unserer Existenz.“
„Bitte erzähl.“, bat Anak‘ tonlos. Was sie nun hören würde, war das größte Geheimnis der Chronisten. Jetzt würde ihr offenbart werden, worauf T’adas Bewohner seit über 750 Jahren warteten...
„Lege noch etwas Holz in den Kamin, Anak‘ und dann komm her, setz dich und höre mir zu. Es gibt von jener Geschichte zwei Fassungen. Ich werde dir die ältere erzählten, denn sie gibt uns einen besseren Einblick in die Gefühlswelt der Außenweltler.“ Barron machte es sich in seinem Lehnsessel bequem und begann in der alten Sprache zu erzählen...
Terra
Raphael O’Dean schlenderte durch die Straßen der irischen Hafenstadt Galway. Lange war er nicht mehr hier gewesen, doch nun trieb ihn die Sehnsucht zurück zu seinen Wurzeln. Unweit von hier, inmitten der rauhen Schönheit von Connemara, einer Provinz an der irischen Westküste, war er geboren worden. Mit 15 hatte er diesen Ort verlassen und nun nach beinahe zehn Jahren kam er wieder zurück. Wie sehr hatte er die grünen Hügel Westirlands vermisst. Das Meer rauschte noch genauso wie früher und Raphael konnte die Möwen hören, die über den kargen Felsenküsten kreisten. Der Himmel war etwas getrübt, aber das machte nichts. An jedem anderen Ort auf der Welt hätte O’Dean dieses dunkle, rauhe Wetter etwas ausgemacht doch hier nicht. Der kalte Wind und das regnerische Klima gehörten zu Connemara wie der Whisky in eine irische Kneipe. Außerdem überstrahlte das irische Gras alle Dunkelheiten, die Raph kannte. Sogar in der tiefsten Nacht schien es zu leuchten.
Ja, Connemara war etwas Besonderes.
Versonnen blickte der junge Ire auf die Felsen, die draußen vor der Stadt eine kantige Küste bildeten.
Anders als die meisten Iren hatte Raphael kein rotes Haar und auch keine Sommersprossen. Dunkelbraune Locken kräuselten sich auf seinem Kopf und aus dem braungebrannten Gesicht blickten zwei blaugrüne Augen hinaus in die Welt. O’Dean hatte vor kurzem eine Stelle als Sozialpädagoge an einer der Schulen Galways angenommen. Morgen würde er mit der Arbeit beginnen, doch heute hatte er Zeit, sich in die Vergangenheit hinein zu träumen. Gedankenverloren wanderte er durch die Stadt...
„Hey, kannst du nicht aufpassen!?“, rief ihn eine rauhe Stimme in die Wirklichkeit zurück.
Raph schüttelte leicht den Kopf und blickte sein Gegenüber mit großen Augen an. „Mick! Was machst du denn hier?“, rief er. Vor ihm stand ein großer Mann mit breiten Schultern und einem ebenso breiten Grinsen. „Mensch Alter! Willkommen daheim! Du bist also wirklich zurückgekommen, so wie du es damals versprochen hast.“
„Natürlich! Ich war auch schon an unserer alten Schule. Ab morgen werde ich da arbeiten, weißt du.“
„Ach, dass kannst du mir gleich erzählen. Warst du auch schon im Danny’s?“
Raphael schüttelte den Kopf.
„Na dann komm! Dan wird sich freuen, dich wiederzusehen, Raph! Hat jetzt den Pup seines Vaters übernommen, aber sonst ist alles wie früher.“
„Immer noch warmes Guinnes?“, frotzelte O’Dean und grinste. Es war gut, wieder hier zu sein und noch besser war es, alte Freunde zu treffen...
Spät in der Nacht kehrte Raphael in seine Wohnung zurück. Hundemüde warf er sich auf sein Bett und schloss die Augen. Es war wirklich wie früher.
Schon damals waren Dan, Mick und er die besten Freunde gewesen. Offensichtlich hatte sich das nicht geändert. Es würde eine schöne Zeit hier werden und vielleicht blieb er diesmal auch für immer. Dublin hatte sich als nicht einmal halb so aufregend erwiesen, wie die alten Lieder es beschrieben. Galway war sehr viel schöner und die Leute hier waren einfach freundlicher.
Zufrieden drehte Raph sich um und schlief ein...
T’ada
„Wach auf!“
Raphael wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen. Langsam öffnete er die Augen. Er lag, an eine Mauer gelehnt, in einem alten Gemäuer. Die Steine waren nass und kalt und Raphael schauderte unwillkürlich. Wo, verdammt noch mal, bin ich denn hier? Was ist eigentlich los? Wo ist mein Bett? Vielleicht träume ich ja...
„Wer bist du?“, wurde er von einer leisen Stimme aus seinen Gedanken gerissen. Neben ihm kauerte ein großer schlanker Mann mit jungen und trotzdem sehr weise wirkenden Augen. Dunkel und geheimnisvoll leuchteten sie grün in ihren Höhlen. Das schwarzgelockte Haar fiel ihm über die Schultern herab. Sicher hatte das früher einmal sehr gut ausgesehen, doch nun wirkte es eher ungepflegt. Dann hob der Mann die Hand und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. Raphael zuckte zusammen. Dieser - dieses Wesen hatte spitze Ohren!
„Was bist du?!“, keuchte Raph atemlos.
Der Mann legte den Kopf schief und sah ihn fragend an. „Wieso fragst du, was ich bin und nicht wer? Außerdem hab ich zuerst gefragt!“
Beklommen nickte O’Dean und stöhnte. Wo bin ich hier nur gelandet?! Wenn das ein Traum ist, dann will ich so bald wie möglich wieder aufwachen! „Ich bin Raphael O’Dean und...und komme aus Irland. Weißt du...wo das ist?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Raphael. Aber ‘rland klingt eigenartig. Solch ein Gebiet gibt es meines Wissens nach in ganz T’ada nicht. Ich bin übrigens L’mpton Asca’m aus Tebakan‘, dem Land der Ausgestoßenen.“
„Limpton Ascaim? Dieser Name erinnert mich an absolut gar nichts....“,überlegte Raph.
L’mpton sah ihn erstaunt an. „Warum sollte er dich denn auch an etwas erinnern?“, fragte er verwirrt. O’Dean zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen. „Naja, in Träumen kommen immer Personen vor, mit denen man im Alltag zu tun hat. Zumindest im abgewandelten Sinn.“
„Wie kommst du darauf, dass das hier ein Traum ist? Du bist wohl schon zu lang in So’var?“
„Soivar?“ Jetzt verstand der junge Ire gar nichts mehr.
L’mpton wackelte mit den Ohren und seufzte. „Gut, du scheinst sehr verwirrt zu sein. Also ganz einfach: Du befindest dich innerhalb des Labyrinths der drei Türme auf So’var, der Insel des Verderbens.“
„Ich kenne keinen Ort, der so heißt. Ich komme von der Erde. Was ist das hier für ein Land?!“, rief O’Dean panisch.
„Raph...ich darf doch Raph sagen, oder?“
Stumm nickte der Ire dem jungen Mann zu. Dieser fuhr fort. „Die alten Schriften besagen, dass es Welten außerhalb von T’ada gibt. Anscheinend bist du ein Außenweltler. Gut, dann erkläre ich dir das jetzt mal schnell. Du befindest dich auf T’ada, der Welt der Neun Völker. Die Namen der einzelnen Länder kannst du dir jetzt sowieso nicht merken, aber du solltest etwas über mich wissen. Ich komme aus dem Land der Ausgestoßenen oder, wie wir es nennen, das Land derer, die freiwillig gekommen sind. Tebakan‘ ist meine Heimat, doch vom Blut her stamme ich aus Chol’sej, dem Land der Stummen. Die T’adan’, dort sprechen nicht. Sie werden zwar mit voll funktionsfähigen Stimmbändern geboren, doch verkümmern diese mit der Zeit. Mit 32 Jahren habe ich das Sprechen erlernt und wollte es nie wieder verlernen. Deshalb habe ich Chol’sej verlassen und bin nach Tebakan‘ gegangen. Denn dort leben all die, die nicht zu ihrem Volk passen. Krieger, die nicht kämpfen wollen, Trauernde, die lachen, Stumme, die sprechen, alle leben im Land derer, die freiwillig gekommen sind.“
„Ähm...und wo sind wir jetzt?“, fragte Raphael müde. Das gefiel ihm alles überhaupt nicht. Was sollte er hier? Warum konnte er nicht endlich aufwachen?!
L’mpton lächelte bitter. „Wir befinden uns auf So’var, der Insel des Verderbens, in einem alten Schloss. Wer das Tor dieser Festung durchschreitet, kehrt nie mehr zurück in die Welt der übrigen.“
„Und was tust du hier, L’mpton? Ist es eigentlich okay, wenn ich L’m sage?“ Raphael hatte es sich an der Steinmauer so bequem wie möglich gemacht und sah den Tebakana‘ (wie sich das Volk der Ausgestoßenen nannte) an. Asca’m nickte. „Ich wollte, oder nein, sollte herausfinden, was in den Mauern des Labyrinths geschieht und wie man wieder herauskommt. Wir...haben gelost, wer diese Aufgabe übernehmen soll. Aus der gesamten Bevölkerung T’adas sind vier auserwählt worden. Bis jetzt habe ich aber keinen der anderen gefunden.“
„Dann wollen wir mal weitersuchen. Vielleicht wissen die ja, wie wir hier rauskommen! Und vielleicht wache ich ja auf, wenn ich den Ausgang gefunden habe.“ O’Dean sprang auf und sah L’mpton an. „Was ist? Kommst du?“
Der Tebakana‘ nickte und erhob sich ebenfalls. Zusammen gingen sie durch die engen, kalten Gänge und versuchten krampfhaft, die Orientierung zu behalten. Sie unterhielten sich kaum, nur manchmal sprachen sie über T’ada und L’ms Heimat. Schließlich kamen sie in einen großen Saal, anscheinend einer der zentralen Punkte des Labyrinths. Vollkommen erschöpft setzten sie sich an den Rand des Raumes und lehnten sich an die Wand. Inzwischen machte Raphael die Nässe kaum noch etwas aus.
Plötzlich hob L’mpton die Hand. „Ich höre etwas.“, flüsterte er.
Panisch blickte O’Dean zurück in den Tunnel, aus dem sie gerade gekommen waren. „Können wir zurück?“, fragte er, doch L’m schüttelte den Kopf.
„Nein, es ist hinter uns.“ Der Tebakana‘ lehnte sich an die dunkle Steinwand und schloss die Augen. „Danke.“, seufzte er glücklich.
Verständnislos starrte Raphael den jungen Mann an. „Was ist?!“
„Hörst du es nicht, Raph? Ein Klopfen, Pause und dann zweimal Klopfen. Das ist einer der auserwählten Vier!“ Dann drehte Asca’m sich um und klopfte an die Steinwand. Prompt kam ein Geräusch zurück und L’m lief in den Tunnel. Einige Minuten später kam er mit einer jungen Frau zurück. Sie war wunderschön! Langes blondes Haar umrahmte ihr unvergleichliches Gesicht. Ihr hochgestecktes Haar entblößte Ohren einer sonderbaren Form. Sie hatten nicht wie L’mptons nur eine Spitze sonder zwei, die fast im rechten Winkel zueinander standen. Von jeder Spitze hing eine kleine Silberkette herab, an der eine blaue Zierblüte mit neun Blättern befestigt war. Ihre Augen waren so schwarz, dass man die Iris nicht erkennen konnte. Geheimnisvoll blickte sie Raphael an. „Wer ist er?“, wandte sich die Frau an L’mpton.
„Ein Freund. Vielleicht ein Außenweltler. Er heißt Raphael O’Dean und kommt angeblich aus ‘rland von der Erde.“
„Von diesem Ort habe ich noch nie etwas gehört.“, überlegte sie und Asca’m nickte. Dann kamen die beiden zu Raph hinüber und die junge Frau stellte sich vor. „Mein Name ist Tal’a ‘kuna und ich entstamme dem Volk der Trauernden von Che’son. Auch ich gehöre der Gruppe der vier Auserwählten an.“
O’Dean nickte ihr zu und reichte ihr die Hand. „Ich bin Raph. Wissen Sie, wie wir hier rauskommen, Miss ‘kuna?“
Tal’a schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich nie. Deshalb ist es auch gerechtfertigt, wenn du Tal’a zu mir sagst.“
Raphael nickte ihr zu und sah L’m fragend an. „Wie lang wird es dauern, bis wir die übrigen zwei gefunden haben?“
„Ich weiß es nicht.“, antwortete der Tebakana‘ unsicher. „Vielleicht finden wir sie nie.“
O’Dean schnaubte. „Jetzt hör doch endlich mal mit dieser Miesmacherei auf, L‘m! Das geht schon die ganze Zeit so! Nehmen wir doch mal an, wir überleben die nächsten 24 Stunden und die anderen überleben sie auch. Dann könnten wir uns doch demnächst irgendwo in diesem verdammten Labyrinth treffen, oder?!“ Wütend starrte er Asca’m an.
Dieser wackelte mit den Ohren und lächelte. „Du hast recht, Raph. Wir finden sie und wenn wir zusammen sind, werden wir auch wieder hier rauskommen. Vielleicht haben wir ja wirklich eine Chance.“
„Natürlich haben wir die! Es ist doch alles nur ein Traum. Mein Phantasie bringt uns schon wieder von hier weg, vertraut mir.“ Raphael grinste selbstsicher.
Tal’a sah den Iren verständnislos an. Dann wandte sie sich an L’mpton. „Was redet er da und wieso nennt er dich L’m?“
Der Tebakana‘ zuckte mit den Schultern. „Offensichtlich glaubt er, dass er in einem Traum gefangen ist und bald wieder aufwacht. Er glaubt mir ja nicht, dass alles hier real ist. Und anscheinend ist ihm die Spitznamenbildung auf T’ada nicht geläufig. Anders als üblich benutzt er nicht den hinteren Teil meines Namens sondern den vorderen. Aber ich komme aus Tebakan‘ und bin deshalb immer aufgeschlossen für Neues!“ Zufrieden blickte L’mpton Tal’a an.
Sie starrte finster zu Boden. „Als ob ihr die einzigen wärt, die offen für etwas sind! Ich hasse diese Überheblichkeit der Tebakana‘! Es ist jedesmal dasselbe Theater. Immer glaubt ihr, besser zu sein als die anderen!“
„Ja, weil uns früher immer erzählt wurde, dass wir schlechter sind als ihr, weil wir uns nicht an die Bräuche unsere Völker anpassen könnten! Vielleicht wollen wir es einfach nicht, weil wir offen für andere Dinge sind!“, rief L’m.
„Man kann offen für andere Dinge sein und an den eigenen Bräuchen festhalten!“, schrie Tal’a zurück. Raphael starrte die beiden fassungslos an und grinste. Da stand nun eine junge Frau vor einem Mann, der mindestens zwei Köpfe größer war als sie und brüllte ihn an. Natürlich schrie sie lauter als er, da trotz allem Übens Asca’ms Stimmbänder immer noch zu dünn waren. Deshalb brach der Tebakana‘ auch bald ab und hob die Hände. „Okay! Wir sind offen...und ihr seid es auch, gut?“
Hoheitsvoll nickte Tal’a ihm zu. Dann wandte sie sich um und begann, den Saal zu durchsuchen.
L’m hockte sich neben Raphael an die Mauer und seufzte. „Frauen! Gibt es diese wandelnden Probleme in deiner Welt auch?“
O’Dean grinste. „Logisch, und sie sind genauso. Wollen immer recht haben. Furchtbar! Und dann regen sie sich so schnell auf und kreischen rum, absolut schrecklich!“
Die beiden Leidensgenossen nickten sich verständnisvoll zu. Doch dann wurde L’ms Gesichtsausdruck ernst. „Sie ist die Tochter von Mor‘, der Herrscherin von Che’son. Alle waren geschockt, als das Los sie bestimmte. Ich dachte, man hätte es noch einmal geändert, aber offensichtlich ist der Hohe Rat T’adas bei seinem Entschluss geblieben - oder Tal’a war zu stur, um sich von jemandem ersetzen zu lassen.“
„Ich halte die zweite Möglichkeit für wahrscheinlicher, aber sag mal...du hast mir erzählt, dass du nicht wüsstest, wer die anderen drei sind, die auf diese Mission geschickt wurden. Warum weißt du dann, dass sie ausgewählt wurde?“ Fragend sah Raph dem jungen Tebakana‘ in die Augen.
L’m lief rot an und stotterte: „Ähm...das ist eine etwas längere Geschichte...die interessiert dich bestimmt nicht.“
Gerade als Raph grinsend nachfragen wollte, hörten sie einen Schrei aus einem der Tunnel. Sofort sprangen sie auf und liefen hinein.
Auf dem Boden lag ein Mann. Er war etwas untersetzt aber wirkte sehr muskulös. Strähniges kurzes Haar bedeckte seinen Kopf und seine stark hervorstehende Stirn. Seine blauen Augen wanderten misstrauisch von einem zum anderen bis er Tal’a entdeckte. „Sei gegrüßt, Tochter der Mor‘. Wie ich sehe, ist der Rat bei seinem Entschluss geblieben.“, sagte er mit tiefer Stimme. Die junge Che’son‘ sah ihn spöttisch an. „Ihr scheint zu wissen, wer ich bin...aber wer seid Ihr?“
Der Mann lächelte bitter. „Ich bin einer der vier Auserwählten, genau wie Ihr. Mein Name ist Taron D’stuhl. Wer sind die anderen Beiden?“
L’m blickte den Mann an. „Ich bin L’mpton Asca’m von Tebakan‘. Ihr seid aus Aba’kanar, ein Krieger. Wie geht es Durad, Eurem Bruder?“
„Woher kennt Ihr ihn?!“, rief Taron erstaunt. Es war ihm unbegreiflich, wie sein Bruder sich mit einem ausgewanderten Chol’sej‘ abgeben konnte. Doch L’m schloss nur die Augen und lächelte. „Wir haben uns in die Augen gesehen...“
„Was!?“, donnerte D’stuhl. „Wie konnte er diese Schande über meine Familie bringen?!“
„Er hatte seinen Grund, glaubt mir. Er hatte ihn.“
„Nun gut, habt Ihr schon einen Weg nach draußen gefunden?“, fragte Tal’a, doch Taron beachtete sie nicht, sondern starrte Raphael an. „Wer seid Ihr?“
Der Ire hatte bis jetzt nur interessiert zugehört und begriff im ersten Moment nicht, dass er gemeint war. „Oh! Entschuldigung. Ich bin Raphael O’Dean und komme aus Galway von der Erde.“ Schweigend starrte der Krieger den Außenweltler an. Dann wandte er sich an Tal’a.
„Woher kommt er?“
„Von Terra. Er ist nicht von T’ada.“, erklärte L’m.
„Dann ist er vielleicht der Auserwählte“, sagte eine unbekannte Stimme. Taron und die anderen fuhren herum.
Vor ihnen stand eine wunderschöne Frau. Ganz in weiß gekleidet wirkte sie unheimlich blass. Ihre gelben Augen leuchteten aus den Höhlen und blickten jeden einzelnen der Gruppe wissend an. Das kurze braune Haar schmiegte sich an ihren Kopf und fiel ihr über die Stirn. Die edle Nase ließ ihre Erscheinung noch perfekter und übernatürlicher wirken. „Mein Name ist N’caleh Ta’sum. Ich entstamme dem Volk der Ku’laka‘.“
„Ein Gotteskind...“, raunte Taron ehrfürchtig und verbeugte sich.
Tal’a senkte den Kopf und flüsterte: „Die Götter schicken uns Hilfe. Die höchste Hilfe, die wir erwarten können.“
L’mpton ergriff die Hand der Ku’laka‘ und küsste sie. „Nun wird alles gut.“, sagte er glücklich. Raphael wusste nicht so recht, woran er war. „Ähm...hallo. Seid Ihr auch auserwählt worden?“, fragte er arglos.
Taron schnaubte. „Wo habt ihr den nur her? Keine Ahnung, der Kerl!“
„Ich sag doch, er kommt von Terra!“, verteidigte L’m seinen neuen Freund.
Tal’a nickte zustimmend. „Wir hatten noch nicht genug Zeit, ihm alle Völker und deren Stand zu erklären“, wandte sie sich entschuldigend an N’caleh.
Die Gottestochter sah Raph ruhig an. „Wie heißt der Ort, von dem du kommst und wie ist dein Name?“
„Ich...bin...äh, ich bin Raphael O’Dean und...und komme aus Irland, Galway, meine ich.“, stammelte der junge Ire. „Wer seid Ihr noch mal? Ich hab das vorhin nicht ganz mitbekommen.“
Während Taron verächtlich den Kopf schüttelte und Tal’a geschockt die Augenbrauen hochriss, grinste L’m einfach nur. N’caleh schien das Ganze auch mit Humor zu nehmen. Noch einmal nannte sie ihren Namen. „Es wird gesagt, das mein Volk von den Göttern abstamme. Auch ich wurde vom großen Rat T’adas ausgewählt, um den Ausweg aus So’var zu finden. Nun, da ich dich getroffen habe, glaube ich allerdings, dass das Ziel unserer Reise ein anderes ist. Was weißt du über So’var?“
Raph zuckte mit den Schultern. „Nicht viel...eigentlich gar nichts. Scheint eine Art Gefängnis zu sein, oder? Und da war irgend etwas mit einem Labyrinth.“
N’caleh lächelte und wandte sich an L’m. „Du hast ihn zuerst getroffen. Würdest du ihm die Legende von So’var erzählen. In Kurzform bitte.“ Der Tebakana‘ nickte. Dann sah er den Iren an: „Sagen werden bei uns in Gedichtform erzählt, also wundere dich nicht, wenn ich jetzt anfange...
Drei Türme aus den Wolken schießen,
Die Wagemutigen einzuschließen.
Das Labyrinth in ihren Mauern,
Gebaut, um ewig zu überdauern,
Zerstört sie alle,
Nur einen nicht.
Der Auserwählte sieht das Licht.
Die Macht, des Agron-Amuletts,
Das er zu suchen ausgesandt,
Wird liegen eines fernen Tags
In weiser, wohlgesinnter Hand.
Gelingt es,
Ist das Ende nah,
Der hohen Türme von So’var.“
Ungläubig starrte Raphael in die Runde. „Agron?“, war das Einzige, was er stammeln konnte.
Taron sah ihn missbilligend an. Dieser Kerl wusste aber auch gar nichts! „Agron ist ein Material, das vor vielen Jahren in geheimen Regionen T’adas abgebaut wurde. Es gab schon damals nur sehr wenig davon. Agron war das Wertvollste, dass ein Wesen dieser Welt besitzen konnte. Es scheint heller als das stärkste Licht, es ist härter als der teuerste Diamant und es schützt seinen Träger vor allem Übel.“ Raph blickte Taron an. Die Augen des Kriegers hatten sich geweitet und starrten unwirklich zu Boden. L’m hatte stumm zugehört. Doch nun griff er in den Halsausschnitt seines dreckigen grünen Hemdes und zog eine Kette hervor. „Das hier...ist Agron.“, sagte er mit seiner leisen dünnen Stimme.
Taron sog hörbar Luft ein und röchelte. Seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen und neidisch blickte er den Tebakana‘ an.
Tal’a lehnte sich an die rauhe Steinwand und lächelte. „Du trägst es immer noch“, stellte sie fest. L’m nickte und lächelte ebenfalls. Raphael trat auf ihn zu.
„Darf ich es einmal haben?“, fragte er.
Asca’m gab ihm die Kette. Raph hockte sich hin und betrachtete den Anhänger. Obwohl er sehr alt sein musste, zeigte er keine Abnutzungserscheinungen. Silbrig schimmerte ein etwa drei Zentimeter großer Pfeil, der in ein nur fühlbares Viereck eingelassen war und in Richtung Himmel zeigte. Er war so klein und strahlte doch ein unglaubliche Macht aus.
„Wahnsinn“, hauchte der Ire und gab L’m die Kette zurück.
Der Tebakana‘ wollte den Anhänger gerade wieder unter seinem Hemd verschwinden lassen, als N’caleh ihm die Hand auf die Schulter legte. „Warte, es wäre einen Versuch wert, wenn wir-“
„Nein! Das ist zu gefährlich!“, fiel Tal’a ihr ins Wort.
Taron sprang auf. „Wie kannst du es wagen, eine Tochter der Götter zu unterbrechen! Wird in Che’son kein Respekt gelehrt?!“, brüllte er wütend.
Tal’a fuhr zurück und kauerte sich an die kalte Steinwand. N’caleh strich ihr über die Wange. „Ich versteh dich. Aber es muss sein. Vielleicht ist er der Auserwählte und dann müssen wir es versuchen!“ Raphael verstand absolut nicht, warum sich plötzlich alle so aufregten. „Was ist eigentlich mit euch los? Grade wart ihr doch noch total normal. Warum seid ihr so fertig?“
L’mpton sah ihn ernst an. „Die Sage, die ich vorhin erzählt habe, besagt, dass der Auserwählte T’ada von So’var und seinen Schrecken befreien kann. Aus anderen Erzählungen wissen wir, dass der Auserwählte nur von Terra kommen kann. Du kommst von Terra. Hier.“ Er gab ihm die Kette. „Schließe die Augen. Was siehst du?“
Raphael tat, was L’m sagte. Er nahm den Anhänger in die Hand und schloss die Augen. Zuerst geschah gar nichts, doch dann umstrahlte ihn ein heller Schein und er befand sich ganz plötzlich in einer anderen Welt.
Terra
Schweißgebadet wachte er auf. Als ihm jedoch bewusst wurde, dass er in seinem Bett lag, beruhigte er sich etwas. Was war in dieser Nacht geschehen? Raphael wusste, dass er geträumt hatte, aber er konnte sich nicht mehr an den Inhalt seines Traumes erinnern. Der Ire drehte den Kopf zur Seite und starrte auf den Digitalwecker, der neben seinem Bett auf dem Boden stand. „Verdammt!“, entfuhr es ihm. Die Uhr zeigte 7.30 Uhr und um Punkt 8.00 Uhr sollte er in seiner alten Schule am anderen Ende der Stadt sein!
Augenblicklich stand O’Dean auf und stolperte ins Bad. Nach etwa zehn Minuten war er fertig angezogen und konnte losgehen. Das Frühstück würde er heute Mittag nachholen.
Raphael wurde fast schmerzhaft an seine eigene Schulzeit erinnert, als er durch die dunklen Straßen Galways rannte. Wie oft hatte er früher rennen müssen, um wenigstens pünktlich zur zweiten Stunde zu kommen?! Gerade rechtzeitig erreichte er das Schultor der Saint Patrick High. Dort wurde er von Charles Croft, einem großen, stämmigen Briten mit scharfen Gesichtszügen, erwartet. „Das sind Sie ja!“, rief er ungeduldig. „Nun gut. Dann führe ich Sie erst einmal durch das Gebäude.“
Doch Raphael winkte ab. „Das ist nicht nötig, Mr. Croft. Ich bin hier selbst zur Schule gegangen und erinnere mich noch sehr gut. Sie sagten, mein Arbeitsplatz wäre in der Bibliothek? Gut, dann gehe ich am besten gleich mal dort hin.“
Croft nickte dem jungen Iren zu. „Das ist ja großartig! Dann wissen Sie ja auch, wie das hier alles von statten geht und ich spare ziemlich viel Zeit. Gut. Ein Pausenplan befindet sich an Ihrem Arbeitsplatz. Die Bibliothek ist immer ab der dritten Stunde geöffnet. Ihr Tag hier beginnt also um zehn und endet ca. 18 Uhr. Ist das in Ordnung?“ Raphael nickte und machte sich auf den Weg. Er hatte noch etwas Zeit, also sah er sich seine alte Schule etwas genauer an. Eigentlich hatte sich kaum etwas verändert. Noch immer gab es die großen Hallen mit den dreckigen Fenstern. Und das Aquarium war auch noch da. Genau wie früher zog ein großer grüner Fisch mit nahezu riesigen Flossen seine Kreise darin. Ob das immer noch Adam war, der Schulfisch, um den sich die 8. Klassen zu kümmern hatten?
Schließlich kam er an der Bibliothek an. Es war ein großer Raum mit mindestens zehn Regalen, die das gesamte Zimmer durchzogen. Am Ende des Raumes standen ein kleiner Tisch mit mehreren Stühlen und einem sehr alten Computer. Seufzend setzte Raph sich vor das Gerät und aktivierte es. Der Rechner fuhr hoch und zeigt ihm die Außenansicht der Schule. Der Ire tippte ein bisschen auf den Knöpfen herum, fand heraus, dass er Zugang zum Internet hatte und machte sich mit den wichtigsten Funktionen vertraut. Dann lehnte er sich zurück und sah auf den Hof hinaus. Wie alle Schulhöfe war er grau und dreckig. Aber trotzdem waren Pausen immer das Beste an der Schule gewesen.
„Guten Tag. Sind Sie der neue Aufpasser.“ Ein kleines Mädchen stand plötzlich vor Raphael.
O’Dean zuckte zurück. „Ähm. Ja, das bin ich. Aber du kannst ruhig du sagen. Ich heiße Raph.“ Er hielt ihr die Hand hin.
Die Kleine schüttelte sie begeistert. „Cool! Du bist ja viel lockerer als Miss Cebisto. Ich heiße übrigens Lara.“
Raphael lächelte. „Gut, Lara. Dann lauf mal los und sag allen, dass die Bibo wieder offen ist, okay?“ Lara nickte und rannte davon. Grinsend sag Raphael ihr nach. Bald würde diese Bibliothek wieder voll sein und häufig auch so laut, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen könnte.
Zufrieden begann Raphael, sich wirklich an die Arbeit zu machen und die Schüler kennenzulernen. Es schien eine feste Gruppe zu geben, die sich früher wohl jeden Tag hier getroffen hatte. Da war Ann, ein kleines vorlautes Mädchen mit Brille und ein Junge, der von allen nur John genannt wurde, er hieß Jonathan, mit grünen Haaren. Raph grinste und überlegte sich, dass das garantiert schon mehrfach Ärger mit dem Schulleiter gegeben hatte. Den Rest der Gruppe hatte er sich noch nicht so genau ansehen können. Aber es waren etwa vier bis fünf Leute aus den oberen Klassenstufen.
Die kleineren hatte sich an die Tische hinter den Regalen verdrückt und spielten Rommé oder Mensch
Ärgere Dich Nicht.
Acht Stunden später kam er völlig erschöpft im Pup seines Freundes Dan an. Der stämmige rothaarige Mann hatte ihn schon erwartet. „Hier Raph!“, rief er und schob ihm ein Guinnes zu. Dankbar setzte O’Dean das Glas an und leerte es in einem Zug.
Dan sah ihn mit großen Augen an. „Was ist denn mit dir los. So fertig hab ich dich lang nicht mehr erlebt.“
Raph zuckte mit den Schultern. „War ein langer Tag, Dan. Ich denke, ich gehe dann mal. Bin wirklich total fertig. Es hat keinen Sinn, dir und Mick heute noch auf den Geist zu gehen.“
Dan nickte verständnisvoll. „Na dann verzieh dich mal, Kleiner. Bis morgen.“, sagte er.
Raphael musste lächeln. Er war immer der kleinste in der Schule gewesen. Die Jungs aus den oberen Klassen hatte ihn deshalb oft geärgert. Bis er eines Tages von Dan und Mick angesprochen wurde, ob er nicht mit zu den Klippen vor die Stadt kommen wollte. Seit dem waren die drei beste freunde gewesen, obwohl Raph immer noch der Kleinste war. Schon damals hatte Dan ihn Kleiner genannt und auch wenn sie heute fast gleich groß waren, gab der Barkeeper diesen Spitznamen nicht auf.
Zu Hause angekommen setzte der junge Ire sich ans Fenster und betrachtete die Stadt. Er wohnte etwas außerhalb und konnte deshalb Galway wie ein ferner Beobachter sehen. Die Stadt war mit Abstand eine der schönsten Irlands und Connemara galt sowieso als traumhafteste Gegend in ganz Eire. Stolz blickte Raphael auf seine Heimat. Es gab keinen anderen Ort auf der Welt, der so viel Ruhe und Geborgenheit ausstrahlte. Und nirgendwo sonst konnte man so gut seinen Gedanken nachhängen. Er bemerkte gar nicht, wie er langsam einnickte...
T‘ada
„Junge?! Geht es dir gut?“, Taron hatte sich besorgt über O’Dean gebeugt. Der Ire saß mit geschlossenen Augen steif auf dem Boden und war kalkweiß.
N’caleh lächelte. „Er ist es. Er ist der Auserwählte.“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Im Moment befindet er sich in seiner Welt, aber er wird bald zu uns zurückkehren.“
L’m sah sie an. „Wenn Raph der Auserwählte ist, dann kann er uns retten. Dann kann er das Ende von So’var heraufbeschwören.“, rief er aufgeregt.
Tal’a legte ihm die Hand auf den Arm und blickte ihn beschwichtigend an. „Er muss es selbst wollen, Pton. Nur dann kann er uns befreien. Das weißt du doch.“
„Ja, ich kenne die Sage, aber er will bestimmt!“ Der Tebakana‘ kratzte sich am Ohr und starrte stumm auf den Boden.
Taron sah N’caleh an. „Wer geht mit ihm?“, fragte er die Gottestochter.
Sie schüttelte den Kopf. „Du weißt genauso gut wie ich, dass nur der Auserwählte das entscheiden darf. Wir dürfen ihm niemanden aufzwingen.“
„Ja, aber er kennt uns nicht. Wie soll er da eine Entscheidung treffen?“ Tal’a strich sich nervös das Haar aus der Stirn und blickte ernst in die Runde. Gerade wollte N’caleh antworten, als Raphael die Augen aufriss.
„Wo bin ich?!“, keuchte er.
L’m zog die Augenbrauen hoch. „Nicht schon wieder!“, murmelte er.
„Du bist auf T’ada im Labyrinth von So’var.“, sagte N‘caleh. „Was hast du gesehen?“, fragte sie den Iren.
Raphael schüttelte den Kopf, bereute das aber sofort, das es fürchterlich schmerzte. „Ich war in Galway. Hatte meinen ersten Arbeitstag.“, stöhnte er. „Sogar Adam ist noch da!“
Taron sah ihn ungläubig an. Was erzählte dieser Außenweltler jetzt schon wieder? „Wer ist Adam?“, knurrte er.
Raph sah ihn erstaunt an. Der Schulfisch war doch stadtbekannt! Doch dann ging ihm endlich auf, wo er war. „Adam ist...ach vergiss es!“, sagte er schnell. Dann wandte er sich L’mpton zu und gab ihm die Kette zurück. Der Tebakana‘ ließ sie unter seinem Hemd verschwinden. N’caleh beobachtete die Gruppe. Schließlich seufzte sie und sagte leise: „Raphael O’Dean, du bist der Auserwählte.“
„Welcher Auserwählte?“ Raphael hatte immer noch nicht begriffen, worum es hier eigentlich ging. Tal’a sank in sich zusammen, Taron schnaubte verächtlich und L’mpton grinste. Dieser Außenweltler war einfach nur total weltfremd!
N’caleh sah den jungen Iren ernst an. „Erinnerst du dich noch an die Sage, die L’mpton dir vorhin erzählt hat?“
Als Raphael nickte, fuhr sie fort: „Du bist durch das Amulett in deine Welt wiedergekehrt. Das habe ich in deinen Augen gesehen, als sie sich einmal kurz öffneten. Sie zeigten ein großes Gebäude mit vielen Fenstern und dahinter ein großes Meer mit Felsenküsten. Ist das dein ‘rland?“
Raphael schloss die Augen und nickte. Ja, das war sein Irland, seine Schule, seine Küste, sein Meer und sein reales Leben.
N’caleh sah ihm ernst in die Augen. „Dann bist du bist dazu auserwählt, T’ada von So’var zu befreien.“
Raphael sah sie gelassen an. Das Gesagte schien kaum Eindruck auf ihn zu machen. „Darf ich mal fragen, was eigentlich so schlimm an diesem Labyrinth ist?“, sagte er arglos.
Taron starrte ihn an. „Wer durch den Eingang der Türme geht, kehrt nie mehr zurück!“, antwortete er mit gefährlich ruhiger Stimme.
Raphael zuckte mit den Schultern. „Na dann geht eben nicht mehr durch diese Tür. Ich weiß echt nicht, wo da das Problem liegt.“
L’m nickte. „Ich weiß, was du meinst, Raph. Aber von hier geht eine bestimmte Macht aus, die uns einfach dazu zwingt, durch das verbotene Tor zu gehen.“
„Alle großen Geister sind in den Mauern von So’var verschwunden. Unsere Welt befindet sich seit Jahrhunderten auf demselben Wissensstand.“, fügte Tal’a aufgeregt hinzu.
N’caleh hob die Hand. Sofort schwiegen alle. Die Gottestochter sah Raph tief in die Augen. „Es ist deine Aufgabe, uns von So’var zu befreien und den Geist von T’ada wieder zu entfesseln. Gelingt dir das nicht, so werden wir niemals mehr erfahren, als was wir schon seit Jahrhunderten wissen.“
Erst jetzt begriff Raph, was diese vier T’adan’ eigentlich von ihm wollten. Nun wurde ihm die Tragweite dieser Bitte klar und er verstand endlich, was ihm da für eine große Last aufgebürdet worden war. Er sollte eine Welt bewegen!
Unsicher sah er die Gottestochter an. „Aber ich komme doch auch nicht hier raus.“, sagte er leise. „Glaubt ihr, ich kann das Labyrinth einfach so verlassen? Und einen Ausgang kann ich auch nicht finden! Und überhaupt, wie kommt ihr gerade auf mich?!“
L’mpton starrte den jungen Iren an. Dann wanderte sein Blick nach oben an die hohe Decke, zu einem der 6 Tunnel, die von diesem Raum ausgingen und wieder zurück zu Raphael. Er wollte etwas sagen, doch N’caleh hob die Hand. „Raphael O’Dean, du bist der Auserwählte. Viel mehr weiß ich auch nicht. Aber ich weiß, dass du nicht allein bist. Du musst dir einen Gefährten suchen, so verlangt es die Sage. Zusammen mit ihm und dem Amulett hast du vielleicht eine Chance, aus dem Labyrinth zu entkommen.“
Raph starrte hartnäckig auf den Boden. Warum er? Warum verdammt noch mal er?! Und wie sollte ihm ein Amulett dabei helfen? Und wen sollte er überhaupt mitnehmen? Auf alle Fälle nicht Taron, entschied der junge Mann sofort.
Tal’a sah den Menschen mitleidig an. Es musste schwer sein, kopfüber in eine neue Welt zu stürzen und sie sofort retten zu müssen. Aber so verlangte es die Sage nun einmal und wenn nicht bald etwas geschah, war es vielleicht zu spät. „Such dir jemanden aus, Raph. Wir alle werden die zur Seite stehen.“
„Aber wen?“, fragte Raphael panisch. „Ich weiß weder, was mich erwartet, noch wer dafür der beste Gefährte ist!“
L’m legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wenn du willst, komm ich mit, Raph. Ich weiß auch nicht, was du tun musst, aber ich werde dir helfen, wo ich kann.“
Der junge Ire sah den Tebakana‘ dankbar an. „Darf ich ihn mitnehmen?“, wandte er sich an N’caleh.
Die Gottestochter sah ihn hoheitsvoll an. „Du kannst den wählen, der dir am besten geeignet scheint. Wenn das L’m ist, so mag er mit dir gehen.“
„Na gut, jetzt, wo er einen Partner hat, wie kommen sie hier raus?“, fragte Taron.
Tal’a sah N’caleh an. „Wir können sie vor So’vars Mauern bringen.“, sagte sie leise.
Asca’m schnappe nach Luft. „Das ist zu gefährlich! Für euch und für uns! Es wurde noch nie versucht. Ihr wisst nicht, ob Colars Legende wahr ist!“
N’caleh sah ihn ruhig an. „Sie ist wahr, L’mpton Asca’m. Wie kannst du daran zweifeln, was die Chronologien uns erhalten?“
L’m senkt den Blick und starrte zu Boden. Tal’a strich ihn um die Ohrenspitzen. „Es wird uns nichts passieren. Eine Ortsveränderung ist zwar anstrengend, doch sie bringt uns nicht um, Pton. Mach dir keine Sorgen.“
„Das ist es nicht.“, erwiderte der Tebakana‘ leise. „Die Legende besagt, dass euer Geist mit dem unsrigen verbunden sein wird. Wenn wir sterben, so sterbt auch ihr. Das ist eine zu große Last."
N’caleh erhob sich und stand still in der Mitte des Raumes. Ihr weißes Gewand schien von innen heraus zu leuchten. Tal’a ging zu ihr und reiche ihr die Hand. Dann schlossen beide die Augen. Eine grünes Licht umstrahlte die beiden Frauen. Der Raum, in dem sie sich befanden war erfüllt von Wärme und Vertrauen. Raphael sah den beiden T’adan‘ verwundert zu. Er wollte L’m etwas fragen, doch der Tebakana‘ hob die Hand und schüttelte den Kopf.
Kurze Zeit später erlosch das grüne Licht und N’caleh und Tal‘a kehrten zur Gruppe zurück.
„Ich habe unsere Geister vereinigt.“, erklärte die Gottestochter. „Stirbt einer von euch, so werden wir beide stark geschwächt, jedoch werden wir überleben.“
L’mpton nickte ihr dankbar zu.