Nachdem ja nun Lope de Aguirre seine Bewunderung für den Filmemacher Werner Herzog zum Ausdruck gebracht hat, möchte ich diese Vorlage aufnehmen und meinerseits ein Essay zu meinem Lieblingsregisseur hier hineinstellen. Gleichzeitig werde ich unten eine Liste mit den bekanntesten Filmen anfügen, so dass man daraus ebenfalls eine Umfrage generieren kann, welche die beliebtesten sind.
In den Zeiten des modernen Erzählkinos, des aufwändigen Action-, Fantasy-, oder Science-Fiction-Films mit Materialschlachten, Mehrkanal-Digitalton und am Computer entstandenen Effektefeuerwerken wird leider allzu oft vergessen, dass das Kino auf eine über 100jährige Geschichte zurückblickt, in denen es einzelne, herausragende Personen waren, deren Leistungen und Werke erst dazu geführt haben, dass das Kino heute so ist, wie es ist.
Das renommierte MovieMaker Magazine hat eine Liste mit den einflussreichsten Regisseuren der Filmgeschichte erstellt – fast keiner der derzeit aktiven Filmemacher findet sich darunter, denn die meisten sind lange verstorben.
Lediglich Steven Spielberg (Platz 10), Martin Scorsese (Platz 11), Francis Ford Coppola (Platz 17) und Woody Allen (Platz 23) sind die Vertreter der Lebenden in den Top 25 dieser Liste.
Mein Beitrag soll aber von dem Regisseur handeln, der auf Platz 1 dieser Liste steht: Alfred Hitchcock.
Warum gerade Hitchcock, der „Meister des Suspense“, der nie einen Oscar als bester Regisseur erhalten hat und dessen Filme lange Zeit nur als kommerziell eingestuft wurden? Das möchte ich gerne erklären.
Der gebürtige Cockney aus East London war natürlich keineswegs der erste große Regisseur. Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, als Hitchcock anfing Filme zu machen, galten vor allem Leute wie Griffith, Eisenstein oder Murnau als Wegbereiter des Films.
Die oben genannten Regisseure haben jedoch eines gemeinsam: Sie schafften nicht den Sprung zum Tonfilm.
Hitchcock hingegen drehte von 1925 bis 1976 insgesamt 54 Spielfilme, prägte also ein halbes Jahrhundert lang aktiv mit das Kino und war dabei der einzige Regisseur, der problemlos den Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm, vom Schwarzweiß- zum Farbfilm und vom Kino zum Fernsehen meisterte. Dabei verbesserte er ständig die Qualität seiner Arbeit und lieferte Filme ab, die sowohl künstlerischen Anspruch hatten, als auch finanziell erfolgreich waren. Von keinem anderen lebenden oder toten Regisseur kann das gesagt werden.
Hitchcock arbeitete mit der ersten Riege von Hollywood-Stars zusammen. Namen, die heute Legende sind: Cary Grant, Ingrid Bergman, James Stewart, Grace Kelly, Anthony Perkins, Kim Novak, Henry Fonda, Doris Day oder Gregory Peck verdanken ihm einige ihrer besten Rollen.
Hitchcock lernte das Filmemachen von der Pike auf, begann als Schreiber und Zeichner von Zwischentiteln für Stummfilme, arbeitete als Techniker und Regiegehilfe, bevor er 1925 mit „The Pleasure Garden“ seinen ersten, eigenen Film drehte. Er orientierte sich sehr am Kinopionier D.W. Griffith und den deutschen Filmemachern der 20er Jahre. Hitchcock lernte Deutsch, um sich mit diesen verständigen und von ihnen lernen zu können. Seine ersten Filme waren deutsch-britische Co-Produktionen.
Der britische Film fristete in dieser Zeit ein trauriges Dasein, denn Kino galt damals in England als billige Unterhaltung für die Unterschicht und erfuhr von den höheren Gesellschaftsschichten keinerlei Anerkennung. Kein Mitglied der Upper Class hätte sich dabei erwischen lassen, in ein Kino zu gehen.
Dementsprechend unterentwickelt und einfallslos war die britische Filmindustrie, bis Alfred Hitchcock anfing, gute englische Filme zu drehen, die zwar von den amerikanischen und deutschen Filmemachern der Zeit inspiriert waren, jedoch auch einen typisch britischen und vor allem Hitchcocks persönlichen Touch hatten. Hitchcock machte seine Sache so gut, dass er 1939 vom Produzenten David O. Selznick nach Hollywood geholt wurde.
Dort erlebte er von Mitte der 40er bis Anfang der 60er Jahre an seine erfolgreichste und kreativste Zeit, er schuf filmische Meilensteine wie „Das Fenster zum Hof,“ „Vertigo“, „Der unsichtbare Dritte“ oder „Psycho“. Sein Name wurde zum Markenzeichen – seine Erfolge machten ihn zum ersten Regisseur, der künstlerische Narrenfreiheit ohne Eingriffe seitens der geldgebenden Studios genoss.
Was genau tat eigentlich Alfred Hitchcock, das ihn so einzigartig und stilprägend machte? Was war das Besondere an seiner Art, Filme zu drehen?
Zum einen war er der Erfinder des „Suspense“, der Spannung, des Bangens auf ein Ereignis hin. Hitchcock manipulierte dabei das Publikum, in dem er ihm z.B. Sachen zeigte, die der Protagonist im Film (noch) nicht wusste, so dass das Publikum mitfieberte und mitzitterte. Hitchcock war die psychologische Wirkung eines Films auf das Publikum immer wichtiger, als Logik oder Wahrscheinlichkeit.
Zum anderen hat er die Erzählweise des Kinos revolutioniert, indem er dem Kino eine eigene Bildsprache gab, die abwich von dem, was man bis dato kannte. Hitchcock versuchte immer, Dinge in Bildern auszudrücken, anstatt in erklärenden Texten oder Dialogen – auch nach Einführung des Tonfilms.
Während andere Regisseure mit Einführung des Tonfilms alles zu vergessen schienen, was sie in den Zeiten des Stummfilms gelernt und getan hatten und sich allein auf den Ton konzentrierten, um eine Handlung voranzutreiben, hielt Hitchcock konsequent an Elementen des Stummfilms fest und kombinierte sie mit den Möglichkeiten der neuen Tontechnik. Dafür experimentierte er viel und nutzte alle technischen Möglichkeiten seiner Zeit.
Hitchcocks strikt publikumsorientierte Art des Filmemachens mit der damit verbundenen Manipulation des Zuschauers wurde von Kritikern lange Zeit als effektheischende Taschenspieler-Trickserei abgetan und als niedere Form des Schauspiels angesehen.
Das ist heute kaum vorstellbar, denn fast jeder moderne Film arbeitet mit Hitchcock’schen Mitteln des Spannungsaufbaus und der Publikumsbeeinflussung. Der Regisseur und Hitchcock-Bewunderer Francois Truffaut schrieb 1966 zur ablehnenden Haltung der Kritiker:
„Hitchcock den Suspense übelzunehmen, das hieße, ihm daraus einen Vorwurf zu machen, dass er sein Publikum weniger langweilt als irgendein anderer Filmemacher der Welt. Ebensogut könnte man einem Liebhaber vorwerfen, dass er seiner Partnerin Vergnügen bereitet, statt sich nur um sein eigenes zu kümmern. Das Kino, wie Hitchcock es praktiziert, zielt darauf, die Aufmerksamkeit des Publikums so auf die Leinwand zu konzentrieren, dass die arabischen Zuschauer aufhören, ihre Erdnüsse zu schälen, die Italiener ihre Zigaretten ausgehen lassen, die Franzosen nicht länger ihre Nachbarin befingern, die Schweden nicht mehr zwischen den Stuhlreihen vögeln, die Griechen - und so weiter.“
Weiter schreibt Truffaut, dass Hitchcock einer der größten Erfinder von Formen in der ganzen Filmgeschichte sei. Bei ihm diene die Form nicht der Verschönerung des Inhalts, sie schaffe ihn erst. Alles, was gesagt statt gezeigt wird, sei hingegen für das Publikum verloren.
Die Form schafft den Inhalt. Visuelle Effekte nicht als Selbstzweck oder Dekoration, sondern als Bestandteil der Handlung und der Dramaturgie. Das ist das, was Hitchcock dem Film gegeben hat. Ohne die Hitchcock’sche Formen- und Bildsprache könnte heutzutage kein Filmregisseur mehr einen erfolgreichen Film drehen.
Darüber hinaus war Hitchcock ein Meister darin, ohne Worte, allein mit visuellen Mitteln zu zeigen, was in den Köpfen der Charaktere vorging. Er war zu seiner Zeit praktisch der einzige, der ohne die Hilfe erläuternder Dialoge Gefühle wie Verdacht, Eifersucht, Lust oder Begierde filmen konnte. Er schaffte das auch dann, wenn Bild und Dialog sich gleichzeitig widersprachen.
Heute ist es so selbstverständlich, dass man in einem Film anhand von Gesten, Mimik oder Kameraeinstellungen die wahren Gefühle eines Charakters erkennt, dass man ganz vergisst, dass diese Art zu Filmen nicht immer selbstverständlich war.
Hitchcock war außerdem der erste „komplette“ Regisseur. Vor ihm gab es nur Spezialisten. Jeder hatte etwas, das er gut konnte und von dem er nicht abwich. Einige waren Meister der Improvisation, andere konnten Stars großartig führen, wieder andere verstanden sich vor allem auf Actionszenen und manche waren Meister des Kammerspiels.
Hitchcock hingegen war Spezialist für jeden einzelnen Aspekt des Filmemachens, für jedes Bild, jede Szene. Ihn faszinierten die Probleme der Drehbuchkonstruktion genauso wie die des Schnittes, der Fotografie und des Tons. Zu allem fiel ihm etwas ein, um alles kümmerte er sich – sogar ums Marketing, wie ja sattsam bekannt ist.
Ferner war er ein ungemein genauer Beobachter von Menschen und Verhaltensweisen. Er mischte sich nicht ins Leben ein, er betrachtete es wie ein Unbeteiligter und bannte seine Beobachtungen auf Film.
Zur Verdeutlichung: Als beispielsweise Howard Hawks „Hatari!“ drehte, befriedigte er zugleich seine Leidenschaft fürs Jagen und fürs Filmemachen. Hitchcock hingegen kannte nur eine Leidenschaft: Das Kino.
Als man seinen Film „Das Fenster zum Hof“ zum Teil heftig moralisch verurteilte, weil er angeblich dem Voyeurismus huldige, entgegnet er: „Nichts hätte mich davon abhalten können, diesen Film zu drehen, denn meine Liebe zum Kino ist stärker, als jede Moral.“
Dass Hitchcock außerdem wie kein anderer in der Lage war, beim Publikum Angst zu erzeugen, liegt daran, dass Hitchcock selber Zeit seines Lebens von Ängsten geplagt wurde. Er fürchtete sich vor der Obrigkeit, vor der Polizei, vor dem Dunkeln und dem Alleinsein. Er hatte einen Horror vor der Vorstellung, zu Unrecht eines Vergehens verdächtigt, eingesperrt und damit der vertrauten Welt entrissen zu werden. Diese Ängste übertrug er immer wieder auf seine Filme und sie erklären, dass sich bestimmte Motive in seinen Filmen immer wiederholen. Darauf angesprochen, warum er so vorging, antwortete er: „Weil das Thema des zu Unrecht Beschuldigten dem Zuschauer das stärkste Gefühl von Gefahr vermittelt. Es kann sich leichter in die Lage eines solchen Mannes versetzen als in die eines Verbrechers, der einen Ausbruchsversuch macht.“
Ein weiterer, hervorstechender Aspekt seiner Filme lag in seiner Fähigkeit, den Ablauf der Zeit zu manipulieren. Hitchcock konnte durch visuelle Kniffe, Schnitte oder Toneffekte den Eindruck vermitteln, Zeit laufe schneller oder langsamer ab, als in Wirklichkeit. Beispielhaft ist die Szene in „Der unsichtbare Dritte“, in dem Cary Grant vor dem Finale seitens des Regierungsbeamten erklärt bekommt, worum es bei der ganzen Spionageaffäre eigentlich geht und welche Rolle die Frau, in die er sich verliebt hat, darin spielt.
Hitchcock zeigt, wie beide Männer über das Rollfeld eines Flugplatzes gehen, ihre Worte werden dabei vom Lärm laufender Flugzeugmotoren übertönt, man sieht nur die Gestik und Mimik. Die ganze Szene dauert vielleicht 30 Sekunden und es ist vollkommen unmöglich, dass Cary Grant in 30 Sekunden die gesamte Geschichte mit allen Zusammenhängen erzählt bekommt aber man kauft es Hitchcock ab, weil man a) den Dialog nicht hört, sondern nur Cary Grants Reaktionen sieht und b) als Zuschauer die Zusammenhänge bereits kennt. So funktioniert Zeitmanipulation im Film.
Ebenfalls beispielhaft für die Art, wie Hitchcock visuell dachte und wie penibel durchdacht seine Szenen sind, ist seine Erklärung für eine Szene aus "Die Vögel". Es handelt sich dabei um die Szene nach dem Angriff, bei dem die Spatzen durch den Kamin hereinkamen:
"Ich beschloss, die Mutter aus Melanies Blick zu zeigen. Die Szene beginnt mit der ganzen Gruppe, dem Sheriff, Mitch, der Mutter und Melanie im Hintergrund. Die Szene bestand dann aus einer Überführung des objektiven Blickpunkts in den subjektiven. Der Sheriff sagt etwa: 'Ja, das ist ein Spatz.' Aus einer Gruppe von statischen Gestalten isolieren wir die der Mutter, die sich ablöst und eine bewegliche Form wird. Sie bückt sich, um den Boden zu säubern, und diese Bewegung nach unten lenkt sofort das ganze Interesse auf die Mutter. Jetzt gehen wir auf Melanie, und die Inszenierung übernimmt ihren Blickpunkt. Melanie schaut zu der Mutter. Die Kamera zeigt die Mutter, wie sie im Zimmer herumgeht und zerbrochene Sachen, zerbrochene Teetassen aufsammelt. Sie richtet sich auf, um das verrutschte Portrait wieder geradezurücken, da fällt hinter dem Rahmen ein toter Vogel hervor. Die Zwischenschnitte auf Melanie, die jede Bewegung der Mutter verfolgt, wie sie hierhin geht und dorthin, offenbaren auf sehr subtile Weise ihre Veränderung. Alle Bewegungen und Gesten Melanies drücken wachsende Unruhe über die Mutter und ihr seltsames Verhalten aus. Diese Sicht der Wirklichkeit ist ausschließlich die Melanies. Danach geht sie zu Mitch und sagt: "Es ist besser, ich bleibe heute nacht hier." Um zu Mitch zu gelangen, muss sie das Zimmer durchqueren. Während dieses ganzen Weges bleibt sie in der Großaufnahme, ihre Unruhe und ihre Angespanntheit verlangen es, dass wir auf der Leinwand dieselbe Einstellungsart beibehalten. Wenn ich schneiden würde oder in eine allgemeinere Perspektive zurückgehen, würde dadurch Melanies Unruhe relativiert. Die Größe des Bildes ist für die Emotion sehr wichtig, vor allem, wenn man sich des Bildes bedient, um eine Identifikation mit dem Zuschauer zu erreichen. Melanie stellt in dieser Szene das Publikum dar, und die Szene besagt: Schau, Mitchs Mutter gerät aus dem Gleichgewicht."
Später greift Hitchcock das Thema der zerbrochenen Tassen auf, als die Mutter auf der Farm des Bauern eintrifft und anhand der Scherben auf dem Boden sofort ahnt, was passiert ist (genau wie das Publikum). Das ist visueller Erzählstil, wie Hitchcock ihn kreiert hat und wie er heute von den meisten Regisseuren kopiert oder verwendet wird.
Man könnte noch viel mehr dazu ausführen, was genau an Hitchcocks Filmen so einzigartig war und ist, so stilbildend, so beeinflussend, dass er die MovieMaker-Liste anführt. Man könnte auf die starke Metaphorik seiner Filme eingehen, die Symbolhaftigkeit vieler Szenen, seine Begeisterung für die Freud’sche Psychoanalytik, die Art, wie er immer wieder die Perspektive von Gesamtansichten auf Details verändert hat, um dem Zuschauer deren Bedeutung klarzumachen, seine Meisterhaftigkeit sowohl bei Schwarzweiß-, als auch bei Farbfilmen.
Man könnte Bücher damit füllen – was bereits getan wurde. Aber hier soll auch ein wenig diskutiert werden darüber und vielleicht findet ja der eine oder andere noch Aspekte in Hitchcocks Schaffen, die ich oder jemand anderes so noch nie wahrgenommen hat.
Zum Schluss zitiere ich nochmals Francois Truffaut: „Wenn man die Vorstellung akzeptiert, dass das Kino der Literatur ebenbürtig ist, so muss man Hitchcock den Künstlern der Angst, wie Kafka, Dostojewski oder Poe zuordnen.“
Und nun, wie bereits oben angekündigt, die Liste von Hitchcocks bedeutendsten Filmen in chronologischer Reihenfolge, um daraus eine Umfrage generieren zu können:
- The Lodger: A Story of the London Fog, 1927
- Blackmail (Erpressung), 1929
- The Man who knew too much, 1934
- The 39 Steps (Die 39 Stufen), 1935
- Sabotage, 1936
- The Lady vanishes (Eine Dame verschwindet), 1938
- Rebecca (Rebekka), 1940
- Suspicion (Verdacht), 1941
- Shadow of a Doubt (Im Schatten des Zweifels), 1942
- Spellbound (Ich kämpfe um dich), 1945
- Notorious (Berüchtigt), 1946
- Strangers on a Train (Der Fremde im Zug), 1951
- Dial M for Murder (Bei Anruf Mord), 1953
- Rear Window (Das Fenster zum Hof), 1954
- To catch a Thief (Über den Dächern von Nizza), 1955
- The man who knew too much (Der Mann, der zuviel wusste), 1956
- Vertigo (Aus dem Reich der Toten), 1958
- North by Northwest (Der unsichtbare Dritte), 1959
- Psycho, 1960
- The Birds (Die Vögel), 1963
- Frenzy, 1972
Gruß,
Frank
In den Zeiten des modernen Erzählkinos, des aufwändigen Action-, Fantasy-, oder Science-Fiction-Films mit Materialschlachten, Mehrkanal-Digitalton und am Computer entstandenen Effektefeuerwerken wird leider allzu oft vergessen, dass das Kino auf eine über 100jährige Geschichte zurückblickt, in denen es einzelne, herausragende Personen waren, deren Leistungen und Werke erst dazu geführt haben, dass das Kino heute so ist, wie es ist.
Das renommierte MovieMaker Magazine hat eine Liste mit den einflussreichsten Regisseuren der Filmgeschichte erstellt – fast keiner der derzeit aktiven Filmemacher findet sich darunter, denn die meisten sind lange verstorben.
Lediglich Steven Spielberg (Platz 10), Martin Scorsese (Platz 11), Francis Ford Coppola (Platz 17) und Woody Allen (Platz 23) sind die Vertreter der Lebenden in den Top 25 dieser Liste.
Mein Beitrag soll aber von dem Regisseur handeln, der auf Platz 1 dieser Liste steht: Alfred Hitchcock.
Warum gerade Hitchcock, der „Meister des Suspense“, der nie einen Oscar als bester Regisseur erhalten hat und dessen Filme lange Zeit nur als kommerziell eingestuft wurden? Das möchte ich gerne erklären.
Der gebürtige Cockney aus East London war natürlich keineswegs der erste große Regisseur. Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, als Hitchcock anfing Filme zu machen, galten vor allem Leute wie Griffith, Eisenstein oder Murnau als Wegbereiter des Films.
Die oben genannten Regisseure haben jedoch eines gemeinsam: Sie schafften nicht den Sprung zum Tonfilm.
Hitchcock hingegen drehte von 1925 bis 1976 insgesamt 54 Spielfilme, prägte also ein halbes Jahrhundert lang aktiv mit das Kino und war dabei der einzige Regisseur, der problemlos den Wechsel vom Stumm- zum Tonfilm, vom Schwarzweiß- zum Farbfilm und vom Kino zum Fernsehen meisterte. Dabei verbesserte er ständig die Qualität seiner Arbeit und lieferte Filme ab, die sowohl künstlerischen Anspruch hatten, als auch finanziell erfolgreich waren. Von keinem anderen lebenden oder toten Regisseur kann das gesagt werden.
Hitchcock arbeitete mit der ersten Riege von Hollywood-Stars zusammen. Namen, die heute Legende sind: Cary Grant, Ingrid Bergman, James Stewart, Grace Kelly, Anthony Perkins, Kim Novak, Henry Fonda, Doris Day oder Gregory Peck verdanken ihm einige ihrer besten Rollen.
Hitchcock lernte das Filmemachen von der Pike auf, begann als Schreiber und Zeichner von Zwischentiteln für Stummfilme, arbeitete als Techniker und Regiegehilfe, bevor er 1925 mit „The Pleasure Garden“ seinen ersten, eigenen Film drehte. Er orientierte sich sehr am Kinopionier D.W. Griffith und den deutschen Filmemachern der 20er Jahre. Hitchcock lernte Deutsch, um sich mit diesen verständigen und von ihnen lernen zu können. Seine ersten Filme waren deutsch-britische Co-Produktionen.
Der britische Film fristete in dieser Zeit ein trauriges Dasein, denn Kino galt damals in England als billige Unterhaltung für die Unterschicht und erfuhr von den höheren Gesellschaftsschichten keinerlei Anerkennung. Kein Mitglied der Upper Class hätte sich dabei erwischen lassen, in ein Kino zu gehen.
Dementsprechend unterentwickelt und einfallslos war die britische Filmindustrie, bis Alfred Hitchcock anfing, gute englische Filme zu drehen, die zwar von den amerikanischen und deutschen Filmemachern der Zeit inspiriert waren, jedoch auch einen typisch britischen und vor allem Hitchcocks persönlichen Touch hatten. Hitchcock machte seine Sache so gut, dass er 1939 vom Produzenten David O. Selznick nach Hollywood geholt wurde.
Dort erlebte er von Mitte der 40er bis Anfang der 60er Jahre an seine erfolgreichste und kreativste Zeit, er schuf filmische Meilensteine wie „Das Fenster zum Hof,“ „Vertigo“, „Der unsichtbare Dritte“ oder „Psycho“. Sein Name wurde zum Markenzeichen – seine Erfolge machten ihn zum ersten Regisseur, der künstlerische Narrenfreiheit ohne Eingriffe seitens der geldgebenden Studios genoss.
Was genau tat eigentlich Alfred Hitchcock, das ihn so einzigartig und stilprägend machte? Was war das Besondere an seiner Art, Filme zu drehen?
Zum einen war er der Erfinder des „Suspense“, der Spannung, des Bangens auf ein Ereignis hin. Hitchcock manipulierte dabei das Publikum, in dem er ihm z.B. Sachen zeigte, die der Protagonist im Film (noch) nicht wusste, so dass das Publikum mitfieberte und mitzitterte. Hitchcock war die psychologische Wirkung eines Films auf das Publikum immer wichtiger, als Logik oder Wahrscheinlichkeit.
Zum anderen hat er die Erzählweise des Kinos revolutioniert, indem er dem Kino eine eigene Bildsprache gab, die abwich von dem, was man bis dato kannte. Hitchcock versuchte immer, Dinge in Bildern auszudrücken, anstatt in erklärenden Texten oder Dialogen – auch nach Einführung des Tonfilms.
Während andere Regisseure mit Einführung des Tonfilms alles zu vergessen schienen, was sie in den Zeiten des Stummfilms gelernt und getan hatten und sich allein auf den Ton konzentrierten, um eine Handlung voranzutreiben, hielt Hitchcock konsequent an Elementen des Stummfilms fest und kombinierte sie mit den Möglichkeiten der neuen Tontechnik. Dafür experimentierte er viel und nutzte alle technischen Möglichkeiten seiner Zeit.
Hitchcocks strikt publikumsorientierte Art des Filmemachens mit der damit verbundenen Manipulation des Zuschauers wurde von Kritikern lange Zeit als effektheischende Taschenspieler-Trickserei abgetan und als niedere Form des Schauspiels angesehen.
Das ist heute kaum vorstellbar, denn fast jeder moderne Film arbeitet mit Hitchcock’schen Mitteln des Spannungsaufbaus und der Publikumsbeeinflussung. Der Regisseur und Hitchcock-Bewunderer Francois Truffaut schrieb 1966 zur ablehnenden Haltung der Kritiker:
„Hitchcock den Suspense übelzunehmen, das hieße, ihm daraus einen Vorwurf zu machen, dass er sein Publikum weniger langweilt als irgendein anderer Filmemacher der Welt. Ebensogut könnte man einem Liebhaber vorwerfen, dass er seiner Partnerin Vergnügen bereitet, statt sich nur um sein eigenes zu kümmern. Das Kino, wie Hitchcock es praktiziert, zielt darauf, die Aufmerksamkeit des Publikums so auf die Leinwand zu konzentrieren, dass die arabischen Zuschauer aufhören, ihre Erdnüsse zu schälen, die Italiener ihre Zigaretten ausgehen lassen, die Franzosen nicht länger ihre Nachbarin befingern, die Schweden nicht mehr zwischen den Stuhlreihen vögeln, die Griechen - und so weiter.“
Weiter schreibt Truffaut, dass Hitchcock einer der größten Erfinder von Formen in der ganzen Filmgeschichte sei. Bei ihm diene die Form nicht der Verschönerung des Inhalts, sie schaffe ihn erst. Alles, was gesagt statt gezeigt wird, sei hingegen für das Publikum verloren.
Die Form schafft den Inhalt. Visuelle Effekte nicht als Selbstzweck oder Dekoration, sondern als Bestandteil der Handlung und der Dramaturgie. Das ist das, was Hitchcock dem Film gegeben hat. Ohne die Hitchcock’sche Formen- und Bildsprache könnte heutzutage kein Filmregisseur mehr einen erfolgreichen Film drehen.
Darüber hinaus war Hitchcock ein Meister darin, ohne Worte, allein mit visuellen Mitteln zu zeigen, was in den Köpfen der Charaktere vorging. Er war zu seiner Zeit praktisch der einzige, der ohne die Hilfe erläuternder Dialoge Gefühle wie Verdacht, Eifersucht, Lust oder Begierde filmen konnte. Er schaffte das auch dann, wenn Bild und Dialog sich gleichzeitig widersprachen.
Heute ist es so selbstverständlich, dass man in einem Film anhand von Gesten, Mimik oder Kameraeinstellungen die wahren Gefühle eines Charakters erkennt, dass man ganz vergisst, dass diese Art zu Filmen nicht immer selbstverständlich war.
Hitchcock war außerdem der erste „komplette“ Regisseur. Vor ihm gab es nur Spezialisten. Jeder hatte etwas, das er gut konnte und von dem er nicht abwich. Einige waren Meister der Improvisation, andere konnten Stars großartig führen, wieder andere verstanden sich vor allem auf Actionszenen und manche waren Meister des Kammerspiels.
Hitchcock hingegen war Spezialist für jeden einzelnen Aspekt des Filmemachens, für jedes Bild, jede Szene. Ihn faszinierten die Probleme der Drehbuchkonstruktion genauso wie die des Schnittes, der Fotografie und des Tons. Zu allem fiel ihm etwas ein, um alles kümmerte er sich – sogar ums Marketing, wie ja sattsam bekannt ist.
Ferner war er ein ungemein genauer Beobachter von Menschen und Verhaltensweisen. Er mischte sich nicht ins Leben ein, er betrachtete es wie ein Unbeteiligter und bannte seine Beobachtungen auf Film.
Zur Verdeutlichung: Als beispielsweise Howard Hawks „Hatari!“ drehte, befriedigte er zugleich seine Leidenschaft fürs Jagen und fürs Filmemachen. Hitchcock hingegen kannte nur eine Leidenschaft: Das Kino.
Als man seinen Film „Das Fenster zum Hof“ zum Teil heftig moralisch verurteilte, weil er angeblich dem Voyeurismus huldige, entgegnet er: „Nichts hätte mich davon abhalten können, diesen Film zu drehen, denn meine Liebe zum Kino ist stärker, als jede Moral.“
Dass Hitchcock außerdem wie kein anderer in der Lage war, beim Publikum Angst zu erzeugen, liegt daran, dass Hitchcock selber Zeit seines Lebens von Ängsten geplagt wurde. Er fürchtete sich vor der Obrigkeit, vor der Polizei, vor dem Dunkeln und dem Alleinsein. Er hatte einen Horror vor der Vorstellung, zu Unrecht eines Vergehens verdächtigt, eingesperrt und damit der vertrauten Welt entrissen zu werden. Diese Ängste übertrug er immer wieder auf seine Filme und sie erklären, dass sich bestimmte Motive in seinen Filmen immer wiederholen. Darauf angesprochen, warum er so vorging, antwortete er: „Weil das Thema des zu Unrecht Beschuldigten dem Zuschauer das stärkste Gefühl von Gefahr vermittelt. Es kann sich leichter in die Lage eines solchen Mannes versetzen als in die eines Verbrechers, der einen Ausbruchsversuch macht.“
Ein weiterer, hervorstechender Aspekt seiner Filme lag in seiner Fähigkeit, den Ablauf der Zeit zu manipulieren. Hitchcock konnte durch visuelle Kniffe, Schnitte oder Toneffekte den Eindruck vermitteln, Zeit laufe schneller oder langsamer ab, als in Wirklichkeit. Beispielhaft ist die Szene in „Der unsichtbare Dritte“, in dem Cary Grant vor dem Finale seitens des Regierungsbeamten erklärt bekommt, worum es bei der ganzen Spionageaffäre eigentlich geht und welche Rolle die Frau, in die er sich verliebt hat, darin spielt.
Hitchcock zeigt, wie beide Männer über das Rollfeld eines Flugplatzes gehen, ihre Worte werden dabei vom Lärm laufender Flugzeugmotoren übertönt, man sieht nur die Gestik und Mimik. Die ganze Szene dauert vielleicht 30 Sekunden und es ist vollkommen unmöglich, dass Cary Grant in 30 Sekunden die gesamte Geschichte mit allen Zusammenhängen erzählt bekommt aber man kauft es Hitchcock ab, weil man a) den Dialog nicht hört, sondern nur Cary Grants Reaktionen sieht und b) als Zuschauer die Zusammenhänge bereits kennt. So funktioniert Zeitmanipulation im Film.
Ebenfalls beispielhaft für die Art, wie Hitchcock visuell dachte und wie penibel durchdacht seine Szenen sind, ist seine Erklärung für eine Szene aus "Die Vögel". Es handelt sich dabei um die Szene nach dem Angriff, bei dem die Spatzen durch den Kamin hereinkamen:
"Ich beschloss, die Mutter aus Melanies Blick zu zeigen. Die Szene beginnt mit der ganzen Gruppe, dem Sheriff, Mitch, der Mutter und Melanie im Hintergrund. Die Szene bestand dann aus einer Überführung des objektiven Blickpunkts in den subjektiven. Der Sheriff sagt etwa: 'Ja, das ist ein Spatz.' Aus einer Gruppe von statischen Gestalten isolieren wir die der Mutter, die sich ablöst und eine bewegliche Form wird. Sie bückt sich, um den Boden zu säubern, und diese Bewegung nach unten lenkt sofort das ganze Interesse auf die Mutter. Jetzt gehen wir auf Melanie, und die Inszenierung übernimmt ihren Blickpunkt. Melanie schaut zu der Mutter. Die Kamera zeigt die Mutter, wie sie im Zimmer herumgeht und zerbrochene Sachen, zerbrochene Teetassen aufsammelt. Sie richtet sich auf, um das verrutschte Portrait wieder geradezurücken, da fällt hinter dem Rahmen ein toter Vogel hervor. Die Zwischenschnitte auf Melanie, die jede Bewegung der Mutter verfolgt, wie sie hierhin geht und dorthin, offenbaren auf sehr subtile Weise ihre Veränderung. Alle Bewegungen und Gesten Melanies drücken wachsende Unruhe über die Mutter und ihr seltsames Verhalten aus. Diese Sicht der Wirklichkeit ist ausschließlich die Melanies. Danach geht sie zu Mitch und sagt: "Es ist besser, ich bleibe heute nacht hier." Um zu Mitch zu gelangen, muss sie das Zimmer durchqueren. Während dieses ganzen Weges bleibt sie in der Großaufnahme, ihre Unruhe und ihre Angespanntheit verlangen es, dass wir auf der Leinwand dieselbe Einstellungsart beibehalten. Wenn ich schneiden würde oder in eine allgemeinere Perspektive zurückgehen, würde dadurch Melanies Unruhe relativiert. Die Größe des Bildes ist für die Emotion sehr wichtig, vor allem, wenn man sich des Bildes bedient, um eine Identifikation mit dem Zuschauer zu erreichen. Melanie stellt in dieser Szene das Publikum dar, und die Szene besagt: Schau, Mitchs Mutter gerät aus dem Gleichgewicht."
Später greift Hitchcock das Thema der zerbrochenen Tassen auf, als die Mutter auf der Farm des Bauern eintrifft und anhand der Scherben auf dem Boden sofort ahnt, was passiert ist (genau wie das Publikum). Das ist visueller Erzählstil, wie Hitchcock ihn kreiert hat und wie er heute von den meisten Regisseuren kopiert oder verwendet wird.
Man könnte noch viel mehr dazu ausführen, was genau an Hitchcocks Filmen so einzigartig war und ist, so stilbildend, so beeinflussend, dass er die MovieMaker-Liste anführt. Man könnte auf die starke Metaphorik seiner Filme eingehen, die Symbolhaftigkeit vieler Szenen, seine Begeisterung für die Freud’sche Psychoanalytik, die Art, wie er immer wieder die Perspektive von Gesamtansichten auf Details verändert hat, um dem Zuschauer deren Bedeutung klarzumachen, seine Meisterhaftigkeit sowohl bei Schwarzweiß-, als auch bei Farbfilmen.
Man könnte Bücher damit füllen – was bereits getan wurde. Aber hier soll auch ein wenig diskutiert werden darüber und vielleicht findet ja der eine oder andere noch Aspekte in Hitchcocks Schaffen, die ich oder jemand anderes so noch nie wahrgenommen hat.
Zum Schluss zitiere ich nochmals Francois Truffaut: „Wenn man die Vorstellung akzeptiert, dass das Kino der Literatur ebenbürtig ist, so muss man Hitchcock den Künstlern der Angst, wie Kafka, Dostojewski oder Poe zuordnen.“
Und nun, wie bereits oben angekündigt, die Liste von Hitchcocks bedeutendsten Filmen in chronologischer Reihenfolge, um daraus eine Umfrage generieren zu können:
- The Lodger: A Story of the London Fog, 1927
- Blackmail (Erpressung), 1929
- The Man who knew too much, 1934
- The 39 Steps (Die 39 Stufen), 1935
- Sabotage, 1936
- The Lady vanishes (Eine Dame verschwindet), 1938
- Rebecca (Rebekka), 1940
- Suspicion (Verdacht), 1941
- Shadow of a Doubt (Im Schatten des Zweifels), 1942
- Spellbound (Ich kämpfe um dich), 1945
- Notorious (Berüchtigt), 1946
- Strangers on a Train (Der Fremde im Zug), 1951
- Dial M for Murder (Bei Anruf Mord), 1953
- Rear Window (Das Fenster zum Hof), 1954
- To catch a Thief (Über den Dächern von Nizza), 1955
- The man who knew too much (Der Mann, der zuviel wusste), 1956
- Vertigo (Aus dem Reich der Toten), 1958
- North by Northwest (Der unsichtbare Dritte), 1959
- Psycho, 1960
- The Birds (Die Vögel), 1963
- Frenzy, 1972
Gruß,
Frank
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