Kapitel 1
Stellen Sie sich vor, ein Borg-Kollektiv konstruiert eine Pausenbrotbüchse. Unten dran kommen vier spreizfüßige Elefantenbeine mit integrierten Schwebe- und Landedüsen. Ein zufällig herumliegender Wespenkopf wird als Kanzel vorne angeschraubt. Und am Ende läuft ein volltrunkener Fuzzi aus der Werbeabteilung vorbei und klebt das Etikett »Adler-Klasse« auf. Jetzt wissen Sie, wie seltsam das Raumschiff aussah, das mich von Tripel-G7 abholte.
Eigentlich hätte der Weg kürzer sein sollen, denn ursprünglich war mein Reiseziel als Mondbasis im Krater Tycho gedacht gewesen. Aber Herr Newton senior war damals etwas schneller gewesen und hatte dieses exklusive Gelände von dem Mondgrundstücksmakler Dennis Hope erworben. Und nach dem Scheitern von Victor Corvos Versuch, das Kataster wieder freizuschießen, war die Mondbasis der Not gehorchend zu einem Weltraumhabitat im Librationspunkt L5 des Erde-Mond-Systems umgewidmet worden. Eigentlich ist es klassifiziert als Space Place 1999, die Medien jedoch kennen es eher unter seinem Funkcode Grünfried Alpha 1.
Dem Ehrenvorsitzenden der Umweltschutzorganisation, Commander Hans König, war ich bisher nicht selbst begegnet. Dennoch kam mir sein Gesicht bekannt vor, als ich den volldurchsichtigen Raumanzug im Hangar der Alpha 1 zur Schau stellte. Seine Augen quollen erwartungsgemäß aus den Höhlen. Aber noch bevor ich andeuten konnte, dass ich bereit sein mochte, der dienstlichen Konferenz eine private folgen zu lassen, wandte er sich ebenso betreten von mir ab wie das ganze Hangarpersonal, und er würgte vernehmlich.
»Ich hoffe, dass das nicht echt ist, Ms. N'rala?«
Das war doch wirklich die Höhe! Bildeten sich diese Erdkröten ein, eine reinblütige Marsianerin habe es nötig, ihre Ausstattung nacharbeiten zu lassen wie diese schlecht unterfütterten Schnepfen bei ihnen daheim?
Aber bevor ich explodieren konnte, dämmerte es mir. Verflucht - die tigergestreifte Thermounterwäsche! Ich hatte vergessen, dass Grünfried e. V. sich rühmte, das einzige vegane Habitat des Sonnensystems zu betreiben: Eher schoss man da ein Fremdraumschiff im Anflug schon ab, als dass man es ein Moskito an Bord bringen ließe, bei dem man in die Verlegenheit kommen würde, es nächtens zu erschlagen. Nein, das Muster war eingewebt, da konnte ich den Commander beruhigen.
Das bedeutete aber auch, dass ich mir mit dem Mieder aus originalem alpinen Gemsenleder keine Freunde machen würde. Und andere Wechselkleidung hatte ich nicht dabei.
Zum Glück hatte Commander König Verständnis. Er hüllte mich mit Raumanzug und allem Drum und Drin in eine diskrete Baumwolldecke und wies mich darauf hin, dass Alpha 1 auch eine vegane Boutique betreibe, in der sich Besucher ethisch einkleiden können. Kurz entschlossen, also nur eineinhalb Stunden, nachdem ich den Laden betreten hatte, fand ich mich in Pullover und Falthose aus Tentakelbrennnesselflachs in dezentem Crèmeweiß und Beige wieder bei ihm ein. Für mich waren das ungewohnte Farben, aber in Alpha 1 bekommt man keine anderen.
Commander König erwartete mich in Begleitung eines Postdocs, einer Venusierin, die sich als D'r H'len Ar-Ass'l vorstellte. Was er davon hat, wird er schon sehen. Ich kenne nämlich diese venusischen Hotties: Wo immer sie auftauchen, spielt irgendwann der Treibhauseffekt verrückt. Außerdem finde ich Tussen, die sich den Alienapostroph sogar in ihren Doktortitel hineinschreiben, einfach nur affektiert. Ich versuchte darum, mich in möglichst herausfordernd aufreizender Haltung in den Besuchersessel zu fläzen und stellte fest, dass das in Tentakelbrennnesselflachs ziemlich sinnlos ist. Das ist ein Stoff, aus dem Nichtveganer Unfalldecken schneiden. Nur Commander König schien es kleidsam zu finden: Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und faltete die Hände so würdevoll auf ihm, als trage er Nadelstreifen.
»Sie sind alleine gekommen, Ms. N'rala? Wir hatten gehofft, auch Dr. Quorn würde uns beehren.«
Im Weltraumzirkus habe ich gelernt, bei solchen Fragen ein Pokerface beizubehalten. Ul Quorn hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, die technischen Errungenschaften des Sternenkaisers aufzubereiten, und darin hatte er beachtliche Anfangserfolge vorzuweisen. Zurzeit lief er als Pinseläffchen umher und bemühte sich um ein nachhaltiges Verfahren zur Menschwerdung.
»Unser Herr Schulrektor ist an einer Experimentreihe beteiligt, die nicht unterbrochen werden kann. Ich bin jedoch mit den Rahmenrichtlinien vertraut und habe alle exekutiven Vollmachten.« Arglos lächelte ich dem Commander ins Gesicht und dachte erneut darüber nach, wo ich ihn schon gesehen haben mochte. War er mal im Mission-Impossible-Team von Jim Phelps gewesen?
König verkrampfte die gefalteten Hände. Ich sah sehr scharf hin, aber es wurde keine Merkelraute daraus. »Vollmachten alleine werden unserer Sache nicht genügen, fürchte ich. Wir benötigen Unterstützung von überragender Kompetenz. Denn es geht nicht alleine um die Frage, ob der Nachwuchs auf Alpha 1 in den Zuständigkeitsbereich von Tripel-G7 fällt, auch wenn wir das angegeben haben, um Ihren Besuch bei uns vor den Medien zu rechtfertigen. Darüber hinaus möchte Grünfried jedoch um die Unterstützung seiner Sponsoren im Kampf gegen eine ökologische Katastrophe werben ...«
Ich schlug ermutigend die Beine übereinander. »Über welche Kaliber reden wir?«
Commander König bekam einen Hustenanfall. Sein Postdoc reichte mir erläuterungshalber ein Headset mit Googlegoggles herüber, und ich setzte Kopfhörer und Brille gehorsam auf. Über dem Schreibtisch zwischen uns schien ein Globus mit vertrauten Strukturen aufzutauchen. Ich nickte bestätigend.
»Der Erdmond! Ist der ökologisch nicht völlig uninteressant? Nirgends gibt es so wenig Schützenswertes wie dort.«
»Mutter Natur ist schützenswert, immer und überall!« schnarrte die Venusierin mit dem Tonfall eines Erzbischofs vor einer fliegenden Antibabypillenhändlerin.
»Gütiger Himmel, wenn Sie da ein Problem haben, dann sagen Sie eben Captain Future Bescheid. Das ist sein Mond und sein ...« Verantwortungsbereich, wollte ich sagen. Dabei fiel mir wieder ein, dass das Mondkalb gerade auf Vaterschaftsurlaub mit unbekanntem Ziel unterwegs war. Und ohne ihn war das lunare Opa-Trio noch weniger zu gebrauchen als mit ihm. Blieb Joan Future geborene Randall. Aber wenn wir die involvierten, konnten wir das innere Sonnensystem abschreiben. Als einzige Person mit dem Captain vergleichbarer intellektueller Kompetenz galt in der Tat der werte Uli, das sah Commander König völlig richtig. Der Commander hätte jedoch schön dreingeschaut, wenn ich ihm das Pinseläffchen vorgestellt hätte.
Dr. Ar-Ass'l beugte sich über mich, lüpfte die Googlegoggles und sah mir kalt in die Augen. »Captain Future hat mit Ökologie so viel am Hut wie Gazprom mit Occupy. Meine Dissertation untersuchte all die Umweltkatastrophen und -sünden, die er während seiner Einsätze verschuldet hat. Als Partner für Grünfried e. V. haben sich die Futuremen disqualifiziert!«
»Immerhin haben sie den Erdmond sehr naturnah gehalten. Nationalparkgerecht, würde ich sagen!« Unverändert lächelnd hob ich der Dame eine Schuhsohle zwischen die Beine und trat sie diskret auf größeren Abstand zurück.
Commander König schmunzelte verständnisvoll. »Gerade die Naturnähe ist Teil unserer Sorge. Sie macht den Mond zu geeignet als Endlagerstätte für gefährlichen Abfall.«
»Biomüll, Altmetall und herrenlose Körperteile, ich kenne mich aus. Im Krater Tycho liegt in der Tat einiges davon herum.«
»Das meinte ich nicht. Könnten Sie bitte die Goggles wieder aufsetzen, Ms. N'rala?« Halt, jetzt wusste ich endlich, an wen mich der Commander erinnerte: an Bela Lugosi, den Stammschauspieler von Ed Wood, dem schlechtesten Regisseur Hollywoods. Den Film hatte ich sogar gesehen.
Eine Falschfarbendarstellung wurde über den virtuellen Mondglobus gelegt. Mit Erstaunen begutachtete ich eine schwach hellgelb leuchtende Zone im Krater Tycho und eine weitaus stärkere auf der Mondrückseite - wenn ich die Karte richtig im Kopf hatte, ungefähr beim Krater Gorleben.
»Holla! Mit was haben wir es denn hier zu tun? Hat da jemand einen Zug mit CASTOR-Behältern abgestellt?«
»Was Sie sehen, ist eine sensorische Erfassung der Tachyonenstrahlung auf der Mondoberfläche. Haben Sie schon einmal von Tachymüll gehört?« Auf mein Kopfschütteln hin erklärte der Postdoc, Tachymüll sei das Abfallprodukt der modernen Energiegewinnung aus überlichtschnellen Teilchen und tausend Mal gefährlicher als Atommüll. Wie dieser habe auch Tachymüll eine kritische Masse, jenseits derer er zu einer Kettenreaktion veranlasst wird. Wenn ein Tachymülllager hochgeht, wird umgebende Tardyonenmaterie, also all das Zeugs, das Chemieschüler in ihrem Periodensystem vorfinden, spontan auf das Tachyonenlevel angehoben. Es verwandelt sich in weiteren Tachymüll und wird überlichtschnell abgestrahlt.
Alpha 1 beobachtete nun schon seit geraumer Zeit, wie unidentifizierte Lieferanten ihren tachyonischen Abfall auf dem Erdmond deponierten – große Mengen davon. Nach Dr. Ar-Ass'ls Meinung war die kritische Masse beinahe erreicht.
»Und wenn sie überschritten wird, dann wird der ganze Mond in einer Tachyonenwolke verpuffen? Mitsamt den Futuremen darauf?« Ich klickte begeistert den Like-Button am Brillenbügel des Headsets. Woher konnte ich nur eine Ladung Tachymüll beschaffen, um den Vorgang anzuheizen?
»Und mit Triple-G7 darauf, vergessen Sie das bitte nicht«, mahnte Commander König.
Ich winkte großzügig ab. »Ein kleines Opfer für das größere Ganze.«
Der Postdoc verkündete steif: »Ganz so weit geht es nicht, aber mit der Verpuffung haben Sie Recht. Es wird so viel an Tardyonenmasse umgewandelt, wie an Tachyonenmasse verfügbar ist. Dadurch erhält der Mond einen lateralen Schub, der ihn auf seiner Bahn beschleunigt. Der Rest ist Newtonsche Mechanik.«
Der Blickwinkel der Simulation fuhr zurück, so dass auch die Erde ins Feld kam. Ein Blitz flammte auf der Mondrückseite auf, gefolgt von einem grellen Strahl. Und der gute alte Erdsatellit wurde auf seinen Mutterkörper zugetrieben, gewann Fahrt in einem Swingby-Manöver und zog auf einer eleganten Hyperbelbahn ins Sonnensystem hinaus.
»Mitsamt den Futuremen darauf.« Ich drückte den Like-Button noch viermal. »Werden andere Planeten von diesem Vorfall gefährdet?«
»Das kommt darauf an, wann die Verpuffung genau eintreten wird. Aber es ist so gut wie ausgeschlossen. Bevor der Mond ihnen nahe kommen könnte, wird er von der Tachyoneneruption auf Warpgeschwindigkeit beschleunigt und aus dem Sonnensystem austreten.«
»Mitsamt den Futuremen darauf!« Die Zahl der Likes stieg rasch auf 102.
»Und mit Alpha 1«, ergänzte Bela Lugosi bzw. Commander König bitter. »Unser Verbleib in L5 hängt vom intakten Schwerkraftgefüge des Erde-Mond-Systems ab. Ohne den Mond sind die mehr als 300 Einwohner des Space Place 1999 einem unbekannten Schicksal ausgeliefert.«
»Daher also Ihre Sorge. Betrachten wir es als noch ein kleines Opfer zugunsten des größeren Ganzen!« Ich lächelte ermutigend und betätigte noch einmal den Like-Button.
»Wir haben die Folgen für die Erde noch nicht besprochen. Erlauben Sie mir, dass ich auf meine Teilnahme an der Simulation verzichte? Ich habe sie schon gesehen.« Der Commander klickte eine Fernbedienung.
Abrupt wähnte ich mich in einem Liegestuhl an der Copacabana. Über mir schwebten vereinzelte Wolken an einem wunderbaren Sternenhimmel, der hinter der Wolkenschicht zweigeteilt wurde von einer hellen und nicht ganz vollständigen Linie. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass das Ezra Gurneys neuer Erdring war, wie er von der Erdoberfläche aus erschien – dort, wo der Erdschatten auf ihn fiel, war er dunkel und unsichtbar. Die Simulation war um einen Faktor 100 beschleunigt und nicht ganz perfekt: die Linie schien nämlich rhythmisch heller und schwächer zu werden.
Dann wurde mir klar, dass das kein Programmfehler war: Gurneys Ring eierte.
»Die wachsende Nähe des Mondes«, hörte ich Königs Stimme hinter der Simulation, »versetzt den Erdring auf eine Exzenterbahn. Da die Schwerkraft, der er ausgesetzt ist, mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, entsteht auf diese Weise eine sich selbst verstärkende Gezeitenwirkung: sein Drehzentrum wandert unumkehrbar aus dem Erdmittelpunkt hinaus.«
Der Ringbogen wurde nun tatsächlich sichtbar größer und breiter. Er zog sich trügerisch beruhigend wieder in einen Faden zusammen, als mein virtueller Standort unter seinem erdfernen Abschnitt hinwegrotierte, und wuchs sodann erneut. Nun schaltete die Simulation auf Echtzeit zurück, und der bedrohlich schwellende Erdring glühte erst rot, dann gelb und schließlich blendend weiß auf. Jetzt war da ein Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte: ein im tiefen Bass gelegenes Grollen und Rumpeln, als liefe ein Vulkanausbruch droben im Himmel ab, während eine Meteorstaffel oder ein Luftschiffgeschwader abstürzte. Und der Ring kam sichtbar und unaufhaltsam tiefer!
»Er wird doch verglühen, oder?« Meine Stimme klang kläglicher, als mir recht war.
»Der Erdring besteht aus radiumverstärktem Neutrinogitterpolymer mit einem zwanzigprozentigen Anteil Dunkler Materie. Er könnte kurzzeitig in die Sonnenatmosphäre eintauchen, ohne zu schmelzen«, versetzte die kalte Stimme der Venusierin.
Es war, als ob der Ringbogen mir auf den Kopf fallen würde. Die Wolken zerteilte er, indem die Lufthülle seine Umlaufgeschwindigkeit tödlich bremste, und er wandelte sich zu einer herniederfahrenden Götterpeitsche. Ein Chor aus hunderttausend Drachen fauchte durch den Himmel. Flammender Sturmwind fegte die See beiseite wie vor den ausziehenden Israeliten. Ich war in Panik aufgesprungen, ohne meine Augen abwenden zu können, während ich hoffte, dass dieses brennende Gebilde sich endlich in heiße Schmelztropfen zerlegen und abregnen würde.
Aber der Ring zerlegte sich nicht. Er setzte auf. Über Hunderte von Kilometern Länge schnitt dieser erdumrundende Weltenknacker hinein in Land und Meer, in Rio de Janeiro, in den Zuckerhut, in Wald und Steppe, und zwei schwarze Flutwellen aus Gestein und kochendem Wasser, Erde, brennendem Holz, verglimmenden Leichen und Kadavern sowie einigen Fußbällen brandeten kilometerhoch auf und eilten nordwärts und südwärts.
Ich glaube, dass ich schrie, als ich mir das Headset vom Kopf riss.
»Verstehen Sie jetzt«, fragte Commander Hans König mit schweißnasser Stirn und unerwartetem Vorwurf in der Stimme, »warum ich mir manchmal den Nordpolturm zurückwünsche, Ms. N'rala?«
(Falls Ihnen eine frühere Folge meiner Autobiographie entgangen sein sollte:
1: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...-captains.html
2: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...ml#post2888405
3: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...ml#post2891498
4: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...ml#post2895563
5: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...l#post2899941l
6: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...slehrerin.html )
Stellen Sie sich vor, ein Borg-Kollektiv konstruiert eine Pausenbrotbüchse. Unten dran kommen vier spreizfüßige Elefantenbeine mit integrierten Schwebe- und Landedüsen. Ein zufällig herumliegender Wespenkopf wird als Kanzel vorne angeschraubt. Und am Ende läuft ein volltrunkener Fuzzi aus der Werbeabteilung vorbei und klebt das Etikett »Adler-Klasse« auf. Jetzt wissen Sie, wie seltsam das Raumschiff aussah, das mich von Tripel-G7 abholte.
Eigentlich hätte der Weg kürzer sein sollen, denn ursprünglich war mein Reiseziel als Mondbasis im Krater Tycho gedacht gewesen. Aber Herr Newton senior war damals etwas schneller gewesen und hatte dieses exklusive Gelände von dem Mondgrundstücksmakler Dennis Hope erworben. Und nach dem Scheitern von Victor Corvos Versuch, das Kataster wieder freizuschießen, war die Mondbasis der Not gehorchend zu einem Weltraumhabitat im Librationspunkt L5 des Erde-Mond-Systems umgewidmet worden. Eigentlich ist es klassifiziert als Space Place 1999, die Medien jedoch kennen es eher unter seinem Funkcode Grünfried Alpha 1.
Dem Ehrenvorsitzenden der Umweltschutzorganisation, Commander Hans König, war ich bisher nicht selbst begegnet. Dennoch kam mir sein Gesicht bekannt vor, als ich den volldurchsichtigen Raumanzug im Hangar der Alpha 1 zur Schau stellte. Seine Augen quollen erwartungsgemäß aus den Höhlen. Aber noch bevor ich andeuten konnte, dass ich bereit sein mochte, der dienstlichen Konferenz eine private folgen zu lassen, wandte er sich ebenso betreten von mir ab wie das ganze Hangarpersonal, und er würgte vernehmlich.
»Ich hoffe, dass das nicht echt ist, Ms. N'rala?«
Das war doch wirklich die Höhe! Bildeten sich diese Erdkröten ein, eine reinblütige Marsianerin habe es nötig, ihre Ausstattung nacharbeiten zu lassen wie diese schlecht unterfütterten Schnepfen bei ihnen daheim?
Aber bevor ich explodieren konnte, dämmerte es mir. Verflucht - die tigergestreifte Thermounterwäsche! Ich hatte vergessen, dass Grünfried e. V. sich rühmte, das einzige vegane Habitat des Sonnensystems zu betreiben: Eher schoss man da ein Fremdraumschiff im Anflug schon ab, als dass man es ein Moskito an Bord bringen ließe, bei dem man in die Verlegenheit kommen würde, es nächtens zu erschlagen. Nein, das Muster war eingewebt, da konnte ich den Commander beruhigen.
Das bedeutete aber auch, dass ich mir mit dem Mieder aus originalem alpinen Gemsenleder keine Freunde machen würde. Und andere Wechselkleidung hatte ich nicht dabei.
Zum Glück hatte Commander König Verständnis. Er hüllte mich mit Raumanzug und allem Drum und Drin in eine diskrete Baumwolldecke und wies mich darauf hin, dass Alpha 1 auch eine vegane Boutique betreibe, in der sich Besucher ethisch einkleiden können. Kurz entschlossen, also nur eineinhalb Stunden, nachdem ich den Laden betreten hatte, fand ich mich in Pullover und Falthose aus Tentakelbrennnesselflachs in dezentem Crèmeweiß und Beige wieder bei ihm ein. Für mich waren das ungewohnte Farben, aber in Alpha 1 bekommt man keine anderen.
Commander König erwartete mich in Begleitung eines Postdocs, einer Venusierin, die sich als D'r H'len Ar-Ass'l vorstellte. Was er davon hat, wird er schon sehen. Ich kenne nämlich diese venusischen Hotties: Wo immer sie auftauchen, spielt irgendwann der Treibhauseffekt verrückt. Außerdem finde ich Tussen, die sich den Alienapostroph sogar in ihren Doktortitel hineinschreiben, einfach nur affektiert. Ich versuchte darum, mich in möglichst herausfordernd aufreizender Haltung in den Besuchersessel zu fläzen und stellte fest, dass das in Tentakelbrennnesselflachs ziemlich sinnlos ist. Das ist ein Stoff, aus dem Nichtveganer Unfalldecken schneiden. Nur Commander König schien es kleidsam zu finden: Er nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und faltete die Hände so würdevoll auf ihm, als trage er Nadelstreifen.
»Sie sind alleine gekommen, Ms. N'rala? Wir hatten gehofft, auch Dr. Quorn würde uns beehren.«
Im Weltraumzirkus habe ich gelernt, bei solchen Fragen ein Pokerface beizubehalten. Ul Quorn hatte sich nämlich in den Kopf gesetzt, die technischen Errungenschaften des Sternenkaisers aufzubereiten, und darin hatte er beachtliche Anfangserfolge vorzuweisen. Zurzeit lief er als Pinseläffchen umher und bemühte sich um ein nachhaltiges Verfahren zur Menschwerdung.
»Unser Herr Schulrektor ist an einer Experimentreihe beteiligt, die nicht unterbrochen werden kann. Ich bin jedoch mit den Rahmenrichtlinien vertraut und habe alle exekutiven Vollmachten.« Arglos lächelte ich dem Commander ins Gesicht und dachte erneut darüber nach, wo ich ihn schon gesehen haben mochte. War er mal im Mission-Impossible-Team von Jim Phelps gewesen?
König verkrampfte die gefalteten Hände. Ich sah sehr scharf hin, aber es wurde keine Merkelraute daraus. »Vollmachten alleine werden unserer Sache nicht genügen, fürchte ich. Wir benötigen Unterstützung von überragender Kompetenz. Denn es geht nicht alleine um die Frage, ob der Nachwuchs auf Alpha 1 in den Zuständigkeitsbereich von Tripel-G7 fällt, auch wenn wir das angegeben haben, um Ihren Besuch bei uns vor den Medien zu rechtfertigen. Darüber hinaus möchte Grünfried jedoch um die Unterstützung seiner Sponsoren im Kampf gegen eine ökologische Katastrophe werben ...«
Ich schlug ermutigend die Beine übereinander. »Über welche Kaliber reden wir?«
Commander König bekam einen Hustenanfall. Sein Postdoc reichte mir erläuterungshalber ein Headset mit Googlegoggles herüber, und ich setzte Kopfhörer und Brille gehorsam auf. Über dem Schreibtisch zwischen uns schien ein Globus mit vertrauten Strukturen aufzutauchen. Ich nickte bestätigend.
»Der Erdmond! Ist der ökologisch nicht völlig uninteressant? Nirgends gibt es so wenig Schützenswertes wie dort.«
»Mutter Natur ist schützenswert, immer und überall!« schnarrte die Venusierin mit dem Tonfall eines Erzbischofs vor einer fliegenden Antibabypillenhändlerin.
»Gütiger Himmel, wenn Sie da ein Problem haben, dann sagen Sie eben Captain Future Bescheid. Das ist sein Mond und sein ...« Verantwortungsbereich, wollte ich sagen. Dabei fiel mir wieder ein, dass das Mondkalb gerade auf Vaterschaftsurlaub mit unbekanntem Ziel unterwegs war. Und ohne ihn war das lunare Opa-Trio noch weniger zu gebrauchen als mit ihm. Blieb Joan Future geborene Randall. Aber wenn wir die involvierten, konnten wir das innere Sonnensystem abschreiben. Als einzige Person mit dem Captain vergleichbarer intellektueller Kompetenz galt in der Tat der werte Uli, das sah Commander König völlig richtig. Der Commander hätte jedoch schön dreingeschaut, wenn ich ihm das Pinseläffchen vorgestellt hätte.
Dr. Ar-Ass'l beugte sich über mich, lüpfte die Googlegoggles und sah mir kalt in die Augen. »Captain Future hat mit Ökologie so viel am Hut wie Gazprom mit Occupy. Meine Dissertation untersuchte all die Umweltkatastrophen und -sünden, die er während seiner Einsätze verschuldet hat. Als Partner für Grünfried e. V. haben sich die Futuremen disqualifiziert!«
»Immerhin haben sie den Erdmond sehr naturnah gehalten. Nationalparkgerecht, würde ich sagen!« Unverändert lächelnd hob ich der Dame eine Schuhsohle zwischen die Beine und trat sie diskret auf größeren Abstand zurück.
Commander König schmunzelte verständnisvoll. »Gerade die Naturnähe ist Teil unserer Sorge. Sie macht den Mond zu geeignet als Endlagerstätte für gefährlichen Abfall.«
»Biomüll, Altmetall und herrenlose Körperteile, ich kenne mich aus. Im Krater Tycho liegt in der Tat einiges davon herum.«
»Das meinte ich nicht. Könnten Sie bitte die Goggles wieder aufsetzen, Ms. N'rala?« Halt, jetzt wusste ich endlich, an wen mich der Commander erinnerte: an Bela Lugosi, den Stammschauspieler von Ed Wood, dem schlechtesten Regisseur Hollywoods. Den Film hatte ich sogar gesehen.
Eine Falschfarbendarstellung wurde über den virtuellen Mondglobus gelegt. Mit Erstaunen begutachtete ich eine schwach hellgelb leuchtende Zone im Krater Tycho und eine weitaus stärkere auf der Mondrückseite - wenn ich die Karte richtig im Kopf hatte, ungefähr beim Krater Gorleben.
»Holla! Mit was haben wir es denn hier zu tun? Hat da jemand einen Zug mit CASTOR-Behältern abgestellt?«
»Was Sie sehen, ist eine sensorische Erfassung der Tachyonenstrahlung auf der Mondoberfläche. Haben Sie schon einmal von Tachymüll gehört?« Auf mein Kopfschütteln hin erklärte der Postdoc, Tachymüll sei das Abfallprodukt der modernen Energiegewinnung aus überlichtschnellen Teilchen und tausend Mal gefährlicher als Atommüll. Wie dieser habe auch Tachymüll eine kritische Masse, jenseits derer er zu einer Kettenreaktion veranlasst wird. Wenn ein Tachymülllager hochgeht, wird umgebende Tardyonenmaterie, also all das Zeugs, das Chemieschüler in ihrem Periodensystem vorfinden, spontan auf das Tachyonenlevel angehoben. Es verwandelt sich in weiteren Tachymüll und wird überlichtschnell abgestrahlt.
Alpha 1 beobachtete nun schon seit geraumer Zeit, wie unidentifizierte Lieferanten ihren tachyonischen Abfall auf dem Erdmond deponierten – große Mengen davon. Nach Dr. Ar-Ass'ls Meinung war die kritische Masse beinahe erreicht.
»Und wenn sie überschritten wird, dann wird der ganze Mond in einer Tachyonenwolke verpuffen? Mitsamt den Futuremen darauf?« Ich klickte begeistert den Like-Button am Brillenbügel des Headsets. Woher konnte ich nur eine Ladung Tachymüll beschaffen, um den Vorgang anzuheizen?
»Und mit Triple-G7 darauf, vergessen Sie das bitte nicht«, mahnte Commander König.
Ich winkte großzügig ab. »Ein kleines Opfer für das größere Ganze.«
Der Postdoc verkündete steif: »Ganz so weit geht es nicht, aber mit der Verpuffung haben Sie Recht. Es wird so viel an Tardyonenmasse umgewandelt, wie an Tachyonenmasse verfügbar ist. Dadurch erhält der Mond einen lateralen Schub, der ihn auf seiner Bahn beschleunigt. Der Rest ist Newtonsche Mechanik.«
Der Blickwinkel der Simulation fuhr zurück, so dass auch die Erde ins Feld kam. Ein Blitz flammte auf der Mondrückseite auf, gefolgt von einem grellen Strahl. Und der gute alte Erdsatellit wurde auf seinen Mutterkörper zugetrieben, gewann Fahrt in einem Swingby-Manöver und zog auf einer eleganten Hyperbelbahn ins Sonnensystem hinaus.
»Mitsamt den Futuremen darauf.« Ich drückte den Like-Button noch viermal. »Werden andere Planeten von diesem Vorfall gefährdet?«
»Das kommt darauf an, wann die Verpuffung genau eintreten wird. Aber es ist so gut wie ausgeschlossen. Bevor der Mond ihnen nahe kommen könnte, wird er von der Tachyoneneruption auf Warpgeschwindigkeit beschleunigt und aus dem Sonnensystem austreten.«
»Mitsamt den Futuremen darauf!« Die Zahl der Likes stieg rasch auf 102.
»Und mit Alpha 1«, ergänzte Bela Lugosi bzw. Commander König bitter. »Unser Verbleib in L5 hängt vom intakten Schwerkraftgefüge des Erde-Mond-Systems ab. Ohne den Mond sind die mehr als 300 Einwohner des Space Place 1999 einem unbekannten Schicksal ausgeliefert.«
»Daher also Ihre Sorge. Betrachten wir es als noch ein kleines Opfer zugunsten des größeren Ganzen!« Ich lächelte ermutigend und betätigte noch einmal den Like-Button.
»Wir haben die Folgen für die Erde noch nicht besprochen. Erlauben Sie mir, dass ich auf meine Teilnahme an der Simulation verzichte? Ich habe sie schon gesehen.« Der Commander klickte eine Fernbedienung.
Abrupt wähnte ich mich in einem Liegestuhl an der Copacabana. Über mir schwebten vereinzelte Wolken an einem wunderbaren Sternenhimmel, der hinter der Wolkenschicht zweigeteilt wurde von einer hellen und nicht ganz vollständigen Linie. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass das Ezra Gurneys neuer Erdring war, wie er von der Erdoberfläche aus erschien – dort, wo der Erdschatten auf ihn fiel, war er dunkel und unsichtbar. Die Simulation war um einen Faktor 100 beschleunigt und nicht ganz perfekt: die Linie schien nämlich rhythmisch heller und schwächer zu werden.
Dann wurde mir klar, dass das kein Programmfehler war: Gurneys Ring eierte.
»Die wachsende Nähe des Mondes«, hörte ich Königs Stimme hinter der Simulation, »versetzt den Erdring auf eine Exzenterbahn. Da die Schwerkraft, der er ausgesetzt ist, mit dem Quadrat der Entfernung abnimmt, entsteht auf diese Weise eine sich selbst verstärkende Gezeitenwirkung: sein Drehzentrum wandert unumkehrbar aus dem Erdmittelpunkt hinaus.«
Der Ringbogen wurde nun tatsächlich sichtbar größer und breiter. Er zog sich trügerisch beruhigend wieder in einen Faden zusammen, als mein virtueller Standort unter seinem erdfernen Abschnitt hinwegrotierte, und wuchs sodann erneut. Nun schaltete die Simulation auf Echtzeit zurück, und der bedrohlich schwellende Erdring glühte erst rot, dann gelb und schließlich blendend weiß auf. Jetzt war da ein Geräusch, wie ich es noch nie gehört hatte: ein im tiefen Bass gelegenes Grollen und Rumpeln, als liefe ein Vulkanausbruch droben im Himmel ab, während eine Meteorstaffel oder ein Luftschiffgeschwader abstürzte. Und der Ring kam sichtbar und unaufhaltsam tiefer!
»Er wird doch verglühen, oder?« Meine Stimme klang kläglicher, als mir recht war.
»Der Erdring besteht aus radiumverstärktem Neutrinogitterpolymer mit einem zwanzigprozentigen Anteil Dunkler Materie. Er könnte kurzzeitig in die Sonnenatmosphäre eintauchen, ohne zu schmelzen«, versetzte die kalte Stimme der Venusierin.
Es war, als ob der Ringbogen mir auf den Kopf fallen würde. Die Wolken zerteilte er, indem die Lufthülle seine Umlaufgeschwindigkeit tödlich bremste, und er wandelte sich zu einer herniederfahrenden Götterpeitsche. Ein Chor aus hunderttausend Drachen fauchte durch den Himmel. Flammender Sturmwind fegte die See beiseite wie vor den ausziehenden Israeliten. Ich war in Panik aufgesprungen, ohne meine Augen abwenden zu können, während ich hoffte, dass dieses brennende Gebilde sich endlich in heiße Schmelztropfen zerlegen und abregnen würde.
Aber der Ring zerlegte sich nicht. Er setzte auf. Über Hunderte von Kilometern Länge schnitt dieser erdumrundende Weltenknacker hinein in Land und Meer, in Rio de Janeiro, in den Zuckerhut, in Wald und Steppe, und zwei schwarze Flutwellen aus Gestein und kochendem Wasser, Erde, brennendem Holz, verglimmenden Leichen und Kadavern sowie einigen Fußbällen brandeten kilometerhoch auf und eilten nordwärts und südwärts.
Ich glaube, dass ich schrie, als ich mir das Headset vom Kopf riss.
»Verstehen Sie jetzt«, fragte Commander Hans König mit schweißnasser Stirn und unerwartetem Vorwurf in der Stimme, »warum ich mir manchmal den Nordpolturm zurückwünsche, Ms. N'rala?«
(Fortsetzung folgt)
(Falls Ihnen eine frühere Folge meiner Autobiographie entgangen sein sollte:
1: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...-captains.html
2: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...ml#post2888405
3: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...ml#post2891498
4: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...ml#post2895563
5: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...l#post2899941l
6: http://www.scifi-forum.de/off-topic/...slehrerin.html )
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